Zehnter Dezember

Ewan

Er schlug den Kragen seines Mantels hoch, doch der eisige Wind aus der Bucht war so stark, dass er in den festen Tweed kroch. Der weiche Filzhut auf seinem Kopf hatte bereits mehrere Versuche unternommen, sich von seinem Träger zu entfernen und ins Hafenbecken zu wehen, doch Ewan konnte ihn jedes Mal im letzten Moment festhalten. Immerhin bot seine Kopfbedeckung etwas Wärme von oben, die wollte er nicht riskieren.

Er ging schnellen Schritts zwischen den Kontoren und Lagerhäusern entlang auf die neue Drehbrücke zu. Vor kurzem hatte sie der Duke von Edinburgh, Prinz Albert, mitsamt dem neuen Edinburgh Dock eingeweiht. Der Sohn von Königin Victoria war mit mehreren Schiffen in den Hafen eingezogen, tausende Schaulustige hatten sich an den Kais versammelt, um das Spektakel zu sehen. Ewan erinnerte sich, dass überall der Union Jack im Wind flatterte, doch er sah auch viele Versionen der Flagge, in denen statt dem roten englischen Kreuz das Andreaskreuz im Vordergrund stand. Irische Einwanderer hatten den Gedanken der „Home Rule“-Bewegung nach Schottland gebracht und so regte sich auch hier verstärkt Widerstand gegen die Unionisten.

Gestern hatte ihn sein Laufbursche William wieder in der Redaktion aufgesucht. Nachdem ihm Ewan vom Ergebnis seiner ersten Recherchen berichtet hatte, plapperte der Junge aufgeregt los. Ihm war aufgefallen, dass einer seiner besten Freunde, Thomas Murphy, sich merkwürdig verhielt. „Unsere Betten stehen im Schlafsaal direkt nebeneinander. Normalerweise reden wir bis in die Nacht hinein, doch in letzter Zeit benimmt er sich komisch“, hatte William berichtet. „Dann habe ich ihn gestern gefragt, was mit ihm los ist. Er hat lange herumgedruckst. Am Ende hat er mir dann doch erzählt, dass er eine einmalige Chance bekommen hat, durch die er es aus dem Waisenhaus herausschaffen kann, aber darüber dürfe er nichts sagen – das hat er versprechen müssen. Ich solle ihn bitte nicht weiter fragen, hat er gesagt und fast angefangen mit Weinen, da habe ich ihn nicht gedrängt.“ Nach diesem Bericht beschlossen Ewan und William, dass der Reporter dem Freund heimlich folgen solle. Als Unbekannter würde er keinen Verdacht erregen. Mit einer genauen Beschreibung von Tommy trennten sie sich.

An schulfreien Tagen arbeitete Thomas Murphy in einer Seilerei am Hafen und so war es gekommen, dass sich Ewan an diesem Vormittag nach Leith begeben hatte. Der ganze Bezirk war staubig und erfüllt vom Qualm und Arbeitslärm der Fabriken. Hier am Wasser gab es zahlreiche Mühlen, die Leith Leadworks stellten bleierne Rohre und Dachabdichtungen her und neben Rose’s Limettensaft, mehreren Ledergerbereien und der großen Zuckerraffinerie in der Breadalbane Street lief überall das Kerngeschäft eines Hafens ab: Der Handel. Als Ewan über die Drehbrücke schritt, blieb er einen kurzen Moment stehen und ließ seinen Blick über die Bucht schweifen. Die Sonne versteckte sich zwar hinter eine milchig-weißen Wolkenschicht, doch es war ein klarer Wintertag, an dem man weit hinaus bis nach Burntisland und Pettycur Beach schauen konnte. Ganz in der Ferne erkannte Ewan auch die Lomond Hills, die sich sanft gewellt am Horizont erhoben. „Wull ye shift, pal?“ Eine raue Stimme riss ihn unsanft aus der Betrachtung. Hinter ihm stand ein Arbeiter, der einen schwer beladenen Handkarren hinter sich herzog. Offenbar wollte er mitteilen, dass Ewan ihm im Weg stand. Die barsche Aufforderung nahm der Reporter zum Anlass, seinen Marsch zur Seilerei fortzusetzen.

Der Tag war schon einige Stunden alt, als sich Ewan endlich aus seiner Erstarrung löste. Er hatte sich in einem schäbigen Pub eingerichtet, aus dessen verschmierten Fenstern man immerhin auf den Eingang der Seilerei schauen konnte. Ein Ingwerbier nach dem anderen hatte er bestellt, doch der Wirt schaute ihn mittlerweile so befremdet an, dass er in seinen Augen vermutlich ein geflohener Häftling war, der sich unerkannt nach London einschiffen wollte. Eben hatte Ewan für einen kurzen Moment der verlorenen Zeit nachgetrauert, in der er hier ohne einen Pence Bezahlung tatenlos herumhockte, doch dann öffnete sich das Tor der Fabrik und zahlreiche Arbeiter strömten heraus. Sie trugen lange Kittelschürzen, die sie sich im Gehen von den Hüften nahmen und lässig über die Schulter warfen. Viele unterhielten sich, lachten und mancher steuerte auf das Wirtshaus zu, in dem Ewan saß. Dem ersten Schwung Männer folgte eine kleine Gruppe aus Jungen, doch darunter war keiner, der Williams Beschreibung seines Freundes entsprach. Ewan seufzte und erhob sich. Anscheinend war Tommy heute nicht zur Arbeit gegangen. Ein ganzer Tag, völlig umsonst.

Plötzlich riss er die Augen auf. Mit deutlichem Abstand zu den anderen Arbeitern war ein Junge aus dem Tor getreten. Sein flammend rotes Haar war selbst durch den Dunst der Fensterscheibe deutlich zu sehen. Ewan zog sich hastig den Mantel an und verließ den Pub. Auf der Straße hielt er Abstand, ließ Tommy jedoch nicht aus den Augen. Er folgte dem Jungen durch das Hafenviertel, wartete kurz hinter einem Stapel Holzkisten, während der andere sich bei einem Straßenhändler ein paar in Zeitungspapier geschlagene frittierte Fische kaufte. Bis zum Waisenhaus am Grassmarket war es eine gute Stunde Fußweg und Ewan hoffte im Stillen, dass er auf ein paar Hinweise stoßen würde, bevor er die gesamte Strecke absolviert hätte.

Sie machten ihren Weg durch die Vororte, ohne dass irgendetwas Bemerkenswertes geschah. Doch am Regent Road Park bog der Junge in Richtung Holyrood Abbey ab. Nun war Ewan wieder hellwach, der sich im Gehen dem Gedanken hingegeben hatte, wie er William seine weitere Mithilfe höflich entziehen konnte. Vom Turm der Meadowbank Church erklang der stündliche Glockenschlag und Tommy beschleunigte seine Schritte. Nun befanden sie sich auf dem Gelände der alten Abtei, hier war es offener als noch in der Stadt, sodass sich Ewan vorsehen musste. Holyrood Abbey war seit dem 18. Jahrhundert eine Ruine und nachdem ein Sturm 1768 ihr steinernes Dach zum Einsturz gebracht hatte, waren alle Bemühungen um einen Wiederaufbau gescheitert. Nun war sie ein stimmungsvoller Ausflugsort für verträumte Schriftsteller und Paare auf der Suche nach einem romantischen Treffpunkt.

Der Junge hatte das verfallene Kirchenschiff betreten, wo die Säulengänge, ohne ein Dach zu stützen, in den Himmel ragten. Für seinen Verfolger boten sie ein hervorragendes Versteck. Thomas Murphy blieb stehen und wartete einen Moment, da löste sich eine Gestalt aus dem Schatten. Ein elegant gekleideter Mann trat da heraus, dessen Gesicht im Dunkel eines großen Zylinderhuts lag, sodass Ewan ihn nicht erkennen konnte. Leise bewegte er sich hinter den Säulen näher an die beiden heran, sodass er ihr Gespräch hörte.

„Danke, dass du gekommen bist, Thomas“, sagte der Erwachsene gerade. „Ich gehe davon aus, dass du niemandem von diesem Treffen erzählt hast? Der Erfolg unserer Operation könnte sonst auf dem Spiel stehen.“ Tommy nickte, dann blickte er den Mann fragend an: „Können Sie mir denn sagen, Sir … es ist doch keine Arbeit, für die man ins Gefängnis kommen kann? Ich wurde schon einmal von einem angesprochen, für den ich stehlen sollte, aber ich möchte mein Geld auf ehrliche Weise verdienen.“ Der Andere ergriff ihn bei den Schultern. „Tommy – ich kann dir versichern, du wirst keine Arbeit tun, die ein ehrlicher Mann nicht tun würde. Findest du, ich sehe aus wie der Anführer einer Diebesbande?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Gut, dann können wir dich bald in Phase Zwei übernehmen. Halt dich bereit, in ein paar Tagen werden dich Freunde von mir besuchen. Dann beginnt ein neues Leben für dich.“

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