Ewan
Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Gestern Nacht hatte es geschneit, eine gute Handbreit hoch. In den frühen Morgenstunden war ein kräftiger Frost gekommen, härtete die pudrige Oberfläche und glasierte das Kopfsteinpflaster mit einer Schicht Eis von trügerischer Schönheit. Immerhin wurden die Füße nicht nass. Trockene Strümpfe waren maßgeblich für den Erfolg eines Arbeitstages, vor allem, wenn man viele Wege kreuz und quer durch die Stadt zu gehen hatte. Auf seinem Block waren sorgfältig einige Namen notiert: James Gillespie’s School in der Altstadt, das Craiglockhart-Armenhaus und die Dean Village School, die direkt im Einzugsbereich eines weiteren großen Waisenhauses lag. Nach Dean und Craiglockhart war es jeweils eine halbe Stunde Fußmarsch, dahin würde er die Kutsche nehmen, das stand fest. Deshalb machte er sich zuerst auf den Weg die High Street hinunter, an dem üblichen Elendsbild dieser Straße vorbei, bis er vor einem langgestreckten Gebäude stand. An dessen Tür verrietein gusseisernes Schild, dass es sich hier um die Schule handelte, die seit einem halben Jahrhundert den Namen ihres Gönners, des Schnupftabakhändlers James Gillespie trug.
Aus der Ferne schlug St Giles zwölf und vor Ewan Cunningham lag ein freier Nachmittag. Noch immer war er froh, dass sein Chefredakteur ihm freigegeben hatte. Die Halbwahrheit, dass sein Reporter an einer besonders aufwändigen Geschichte arbeitete, hatte er geschluckt. Lediglich nach den Erfolgsaussichten der Recherche hatte er sich erkundigt und als Ewan unüberlegt antwortete, er solle sie nicht zu hoch einschätzen, hatte er ihn mit dem Kommentar nach draußen geschickt, dass er ihn schließlich nicht dafür bezahle, die aussichtslosen Recherchen im Dienst zu erledigen – dies dürfe er gern in seiner Freizeit tun. Am Ende würde sein Vorgesetzter wohl wieder einmal Recht behalten, überlegte Ewan, während er die Stufen zum Eingang der Schule hinaufstieg. Erfahrungsgemäß gab es in Armenhäusen und -schulen kaum jemanden, mit dem man vernünftig reden konnte und das Einzige, was er hier an Neuem sammeln würde, wären Läuse.
Der Raum des Rektors war schnell gefunden. Glücklicherweise war gerade Unterricht, daher zeigten sich die weiß gekalkten Gänge des Schulgebäudes menschenleer. Aus den Klassenzimmern hörte Ewan Geräusche, die ihn schaudern ließen. Das Quietschen der Kreide an der Tafel, das Knarren der Schulbänke und die gedämpften Stimmen der Lehrer erinnerte ihn an seine eigene Schulzeit. Unschöne Erinnerungen kämpften sich in ihm hoch, doch er unterdrückte sie, denn nun war er am Büro des Schulleiters angekommen. Er trat ein, nachdem er sein Kommen durch ein leises Klopfen angezeigt hatte.
Der Raum war klein, mit dunklen Holzmöbeln, in denen zahlreiche Akten ordentlich aufgereiht waren. Eine leichte Patina der Zeit lag über den Dingen. Die Wärme eines kleinen Kohleofens erfüllte den Raum, und die schwache Glut strahlte Gemütlichkeit aus. Prof. Quincey Maguire saß hinter seinem Schreibtisch und ging einige Papiere durch. Sein weißer Walrossbart bedeckte seinen Mund vollständig und machte es nahezu unmöglich, an seinem Gesicht abzulesen, welcher Stimmung er war. In Ewan stieg leichter Neid auf – er selbst sah sich kaum in der Lage, sich jemals einen solch prachtvollen Schnauzer wachsen zu lassen. „Entschuldigen Sie die Störung, Mr Maguire. Mein Name ist Ewan Cunningham, ich bin Journalist bei den Edinburgh Evening News. Ich hoffe, ich raube Ihnen nicht allzu viel Ihrer kostbaren Zeit.“ Maguire nickte knapp und lud ihn mit einer Kopfbewegung ein, Platz zu nehmen. „Was kann ich für Sie tun, Mr. Cunningham?“ fragte er, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und seine Hände über die Papiere auf seinem Schreibtisch legte. „Gestatten Sie mir, dass ich ohne lange Vorrede direkt auf den Punkt komme: Auf den Straßen kursiert das Gerücht, es verschwinden Waisenkinder. Machen Sie hier ähnliche Erfahrungen?“ Maguire hob eine Augenbraue. „Sie interessieren sich für Waisenkinder? Bei den Evening News? Nun, das erscheint mir etwas völlig Neues zu sein. Sie sind doch nicht etwa Sozialist?“ Ewan hatte den Tory schon aus mehreren Meilen gegen den Wind gewittert. Bedacht setzte er nach: „Nun, weniger aus sozialer, als aus einer kriminologischen Motivation.“ Der Walrossbart zuckte, der Mann war augenscheinlich besänftigt.
Nach dem gut halbstündigen Gespräch trat Ewan fassungslos auf die Straße. Ein paar Kinder seien in den vergangenen Monaten plötzlich nicht mehr zum Unterricht gekommen, aber gedacht habe man sich nicht viel dabei, hatte der Schulleiter ihm mitgeteilt. „Üblich“ sei es, dass Jungen auf Bauernhöfen oder Booten anheuerten, in die Lowlands oder gleich nach Amerika auswanderten. Nachforschungen? „Was denken Sie denn?“, hatte der Rektor geantwortet. Ewan rief sich eine Kutsche und während sie mit ihm im Verschlag über das Pflaster rollte, überlegte er, wie es eigentlich sein könne, dass eine mit der Armenfürsorge bedachte Institution so wenig auf ihre Schüler gab. Fast hoffte er nun, dass er mit seiner ursprünglichen Vermutung Recht behalten und keine Auskunft von Wert in der Schule erhalten hätte.
Im Craiglockhart-Armenhaus zeigte sich ein ähnliches, wenn nicht gar noch schlimmeres Bild. Es war eine große Einrichtung für die Fälle, bei denen noch nicht alle Hoffnung vergebens war. Die Kinder wurden in die nahegelegene Schule geschickt und arbeiteten daneben noch einige Stunden am Tag. Ewan war in Gedanken versunken, während er durch einen leichten Schneefall, der am Nachmittag eingesetzt hatte, zurück zur Kutsche ging. Zehn Kinder waren im letzten halben Jahr hier „abgängig“, wie ihm die Aufseherin nach einem langen Blick in ein großes Buch mitgeteilt hatte. Er war immer noch schockiert, wie egal es der Frau zu sein schien. „Aber einige von ihnen haben doch sicherlich Vater, Mutter oder Geschwisterkind hier in dieser Einrichtung? Haben sich die Familien nicht geäußert?“, hatte er gefragt. Nein, war die Antwort, einige der Eltern wüssten es noch nicht, da man Erwachsene und Kinder sowie nach Geschlechtern streng trennte.
Die Dämmerung setzte langsam ein, obwohl es noch Nachmittag war. Die Straße, in die die Kutsche nun einbog, war nicht befestigt, sondern hatte durch den zertrampelten Schnee in etwa die Qualität eines aufgeweichten Ackerwegs. Als er vor der Dean Village School ausstieg und man die Kutschentür hinter ihm schloss, sah sich Ewan um. Das Dörfchen Dean wuchs von Besuch zu Besuch mehr, dachte er. Aus dem einst verschlafenen Müllerort vor den Toren der Stadt war ein mit Kästen im gotischen Stil vollgebautes Areal geworden. Durch den Nebel blinkten die Gaslaternen, in der Ferne sah man den Rauch aus hunderten Schornsteinen aufsteigen.
Der Rektor von Dean Village School empfing Ewan höflich, aber man konnte ihm eine gewisse Irritation angesichts des überraschenden Reporterbesuchs anmerken. Immerhin reichte er ihm eine Liste mit Namen, Alter und letzten Arbeitsorten der verschwundenen Jungen. Auf der Rückfahrt – die Nacht hatte sich bereits wie eine samtblaue Decke über die Stadt gezogen – rechnete er im Kopf zusammen: Vier in James Gillespie’s Schule, zehn in Craiglockhart, sechs in Dean Village. Zwanzig Kinder, von denen es keine Spur mehr gab und nach denen auch niemand suchen würde.