ADVENTSGESCHICHTE 2023


Erster Dezember
„Meine Liebe, das darf doch nicht wahr sein!“ Octavia Winthrop war außer sich. Eine braune Locke hatte sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst und fiel ihr in die Stirn, sie atmete schwer und warf einen entgeisterten Blick über den Rand ihrer Teetasse auf ihre Gesprächspartnerin.
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Zweiter Dezember
Der Nebel hing in dicken Schwaden über dem Fluss. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, dabei war der Morgen schon halb verstrichen. Die Haushaltshilfen waren schon vor einigen Stunden durch die Straßen gehetzt und was die Fabrik- und Hafenarbeiter betraf, für die war beinahe schon Zeit für die erste Pause.
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Dritter Dezember
Nicht zu glauben, wozu Menschen fähig waren! Josephine bückte sich und kehrte mit einem geschickten Handgriff einen kleinen Stapel zerknüllte Taschentücher auf. Teure Stoffe waren das, mit Spitzenrand – mit Lippenstift verschmiert und achtlos weggeworfen.
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Vierter Dezember
Am folgenden Tag war er immer noch wütend. Die Piraten von Penzance hatten nur wenig an seiner miserablen Laune ändern können. Seine Gedanken kreisten um die Begegnung mit Josephine Fairchild. „Dass man sich von solchen Individuen abhängig machen muss, ist doch der eigentliche Skandal“, murmelte Ewan Cunningham.
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Fünfter Dezember
Heute würde ein guter Tag werden, das hatte Josephine im Gefühl. Sie war in aufgeräumter Stimmung erwacht und hatte noch eine halbe Stunde im Bett gelegen. Ihre Haushaltshilfe klapperte bereits in der Küche mit dem Geschirr, doch sie dachte nicht ans Aufstehen.
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Sechster Dezember
Er hatte es nicht über sich bringen können, den Artikel zu veröffentlichen. Damit war ein ganzer Tag Recherchearbeit dahin. Das wusste Ewan auch ohne dass sein Vorgesetzter ihn zehn Minuten lang anbrüllte, man müsse sich moralische Prinzipien leisten können.
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Siebter Dezember
„Sehr gut, vielen Dank, Mrs Delaney!“ Josephine war sehr zufrieden mit der Arbeit ihrer Haushaltshilfe. Sie hatte ihr die Haare mit einem Brenneisen in sanfte Wellen gelegt, dann in einen eleganten Knoten gebunden und die Fransen über der Stirn in kleine Löckchen gekräuselt. Am Kleiderschrank hing bereits ihr Abendkleid.
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Achter Dezember
Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Gestern Nacht hatte es geschneit, eine gute Handbreit hoch. In den frühen Morgenstunden war ein kräftiger Frost gekommen, härtete die pudrige Oberfläche und glasierte das Kopfsteinpflaster mit einer Schicht Eis von trügerischer Schönheit.
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Neunter Dezember
Endlich nahm der Abend eine interessante Entwicklung! Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass dieser Ausflug, der höchstens ein paar neue Seilschaften, Affären und Mauscheleien enthüllt hätte, noch diese Wendung nehmen würde. Zugegeben, nun seit einer Ewigkeit in diesem stickigen Schrank zu hocken, entsprach nicht ganz ihrem Geschmack.
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Zehnter Dezember
Er schlug den Kragen seines Mantels hoch, doch der eisige Wind aus der Bucht war so stark, dass er in den festen Tweed kroch. Der weiche Filzhut auf seinem Kopf hatte bereits mehrere Versuche unternommen, sich von seinem Träger zu entfernen und ins Hafenbecken zu wehen, doch Ewan konnte ihn jedes Mal im letzten Moment festhalten.


Elfter Dezember
Das Haus ungesehen zu verlassen, hatte ihr größten Mut abverlangt. Sie hatte abgewartet, bis das Treffen des Concordia Clubs vorbei war, die Bediensteten zum Abräumen hereinkamen und die Lichter ausschalteten. Dann schlich sie sich in die Bibliothek. An der Tür horchte sie, bis im Flur Stille eingekehrt war und hastete lautlos zur Tür.
Zwölfter Dezember
Der elegant gekleidete Mann gab Thomas Murphy einen Geldschein, dann tippte er sich an die Krempe seines Zylinderhuts. Als er sich zum Gehen wandte, teilten sich plötzlich die Wolken und ein verirrter Sonnenstrahl durchschnitt das Dämmerlicht des frühen Abends.


Dreizehnter Dezember
Der Regen hatte seit dem Morgen nicht mehr aufgehört, sich über der Stadt zu ergießen. Über Edinburgh hing eine graue Wolkendecke, die einem das Gefühl gab, die Sonne sei nicht richtig aufgegangen. Josephine blickte aus dem Fenster und betrachtete das Wasser, das unaufhörlich in Rinnsalen an der Scheibe entlanglief.
Vierzehnter Dezember
Hast schon die Evening News gelesen?“ Ewan verlangsamte seine Schritte. Dieses Gespräch würde er nur zu gern mit anhören. Um nicht als Lauscher erkannt zu werden, tat er so, als würde er die Auslage eines nahen Schaufensters betrachten.


Fünfzehnter Dezember
Sie saß gerade beim Frühstück, da klopfte es an der Tür. Ihre Hauswirtschafterin ging auf ihre Bitte nachsehen und kam mit einem schlanken Mann im Tweedmantel zurück. Josephine seufzte, erhob sich und schenkte eine zweite Tasse Kaffee ein. „Guten Morgen, Miss Fairchild“, sagte Ewan Cunningham, „gestatten Sie, dass ich mich setze?“
Sechzehnter Dezember
Diese unverschämte Person! Wütend trat er gegen eine Kiste, die den Fehler begangen hatte, zu viel Platz auf dem Bürgersteig einzunehmen. Sie musste bis zum Rand gefüllt sein und bewegte sich daher keinen Zentimeter. Statt das befriedigende Splittern von Holz hörte er nur ein Knacken und ein stechender Schmerz schoss ihm durch den Fuß.


Siebzehnter Dezember
„Einmal nach New Town“, bat sie und der Kutscher nickte. Er warf den Hufkratzer, mit dem er eben noch die Beschläge der Tiere bearbeitet hatte, in den Schnee und schlug den Kragen seines gewachsten Mantels hoch. Dann öffnete er ihr den Verschlag, um sie einsteigen zu lassen. „Feicfidh me ar ball thú!“, rief er seinen Kollegen am Kutschenstand zu.
Achtzehnter Dezember
Als Ewan erwachte, fror er. Zuerst dachte er, es wäre Nacht, weil er nichts sehen konnte, doch dann kehrte die Erinnerung zurück. Sie hatten ihm einen Sack übergezogen, der ihm noch immer die Sicht verdeckte. Außerdem hatte man ihn an Händen und Füßen zusammengebunden, was den Versuch, sich aufzurichten, deutlich erschwerte.


Neunzehnter Dezember
Man hatte sie in die Waschküche des Hauses gebracht und dort auf einem Stuhl festgebunden. Ihren Beteuerungen, nur versehentlich in den geheimen Raum gelangt zu sein, wurde keine Beachtung geschenkt. „Sie bleibt hier, bis Sir Richard nach Hause kommt“, hatte der junge, uniformierte Mann zu der Köchin gesagt.
Zwanzigster Dezember
Es hatte bereits angefangen zu dämmern, als Ewan im Laufschritt auf der Landstraße entlang hastete. Zwei Dörfer hatte er bereits durchquert und auch wenn er ihre Namen auf den verwitterten Schildern lesen konnte, kamen sie ihm völlig unbekannt vor. Ob er sich tatsächlich zur Stadt hinbewegte, war ihm schleierhaft.


Einundzwanzigster Dezember
Sie riss die Tür des White Hart Inn auf, stürzte an den Tresen und verlangte einen doppelten Whiskey. Als der Wirt nicht schnell genug gehorchte, schlug sie wütend mit der Faust auf die Holzplatte. Das Getränk wurde vor ihr abgestellt, sie leerte es in einem Zug und warf die Münzen für ein weiteres hin.
Zweiundzwanzigster Dezember
Ein schneidender Winterwind riss an seinem Mantel, als er durch die Princes Street Gardens hastete und eilig die Stufen zum Scott Monument erklomm.


Dreiundzwanzigster Dezember
Detective Officer Ruaridh MacKay stopfte seine Pfeife, zündete sie an und paffte kleine blau-graue Wölkchen in die Luft. Während dieses Rituals hatte er die beiden Personen, die auf der anderen Seite seines Schreibtisches saßen, nicht aus den Augen gelassen.
Vierundzwanzigster Dezember
„Hast‘ das schon gelesen?“, fragte ein Mann in Arbeitskleidung seinen Kollegen, der neben ihm stand. Der warf dem Verkäufer eine Münze hin und griff nach seinem eigenen Exemplar der Tageszeitung.
