ADVENTSGESCHICHTE 2018

Prolog

Uns ist in alten maeren                wunders viel geseit

von katern hungericen,                von sorg‘ und vroelichkeit,

von fröuden, âventiuren,              von weinen und von klagen

von küener katzen strîten             muget ir nu wunder hoeren sagen.


Es war einmal, es ist schon so lange her, dass man getrost von einer anderen Zeit sprechen kann, da herrschte ein König über ein großes Reich. Er war ein gerechter Mann und so wurde er sowohl von seinem Volk, als auch von seinen Rittern verehrt. Ein mächtiges Schloss nannte er sein Heim, dort lebte er mit seiner wunderschönen Frau, die ihm drei Kinder geschenkt hatte, die ihren Eltern an Anmut, Stärke und Klugheit in nichts nachstanden. Oft…

Entschuldigung, aber komme ich auch noch vor? Du hast gesagt, du erzählst eine Geschichte über mich.

Nicht so ungeduldig. Also, oft stand das Königspaar am Fenster, blickte in den Schlosshof herunter und ihre Blicke ruhten auf ihrem ältesten Sohn, der einmal selbst auf dem Thron die Geschicke des Königsreiches lenken würde. Doch dazu sollte es niemals kommen, denn…

Also das finde ich jetzt richtig daneben, du verrätst ja schon alles! Was soll denn das für eine Geschichte sein? Und immer noch keine Rede von mir! Außerdem sind Ritter doof.

In Ordnung, keine Andeutungen mehr. Aber lass mich einfach mal erzählen, vielleicht gefallen dir die Ritter doch. Die Königsfamilie lebte also in Eintracht miteinander und blickte gemeinsam in eine strahlende Zukunft. Eines schönen Herbsttages saß das Herrscherpaar im Hof auf einer Bank, zu ihren Füßen spielten die Kinder, da rief es von der Mauer herab: „Euer Majestät, uns nähert sich ein Reiter!“ Der König blickte ruhig auf zu dem Rufenden und antwortete: „Das wird wohl einer unserer Verbündeten sein, lasst die Zugbrücke herab.“ Man tat, wie geheißen und kurze Zeit später kam ein Reiter in den Schlosshof geritten. Er trug einen dunklen Umhang, der über und über mit Rabenfedern geschmückt war, sodass er mit seiner dunklen Kapuze, unter der sein Gesicht nicht auszumachen war, wie eine schwarze Krähe auf dem hohen Streitross hockte. Der Kö-…

Jetzt reicht es aber: Krähe, Streitross, und wo bleibe ich? Die Geschichte ist langweilig.

Wart’s ab. Du kommst noch früh genug ins Spiel. Der König hatte diesen Reiter noch nie zuvor gesehen, verspürte jedoch keinerlei Bedrohung. Er war sich gewiss, in seinem Rücken die Ritterschaft zu haben, die mit gezogenen Schwertern bereit waren, ihn zu verteidigen. Nachdem der Hofmarschall die lange Liste von Titeln, Ehren und Leistungen des Königs heruntergebetet hatte, forderte er den Anderen auf, sein Gesicht zu enthüllen und sich zu erkennen zu geben. Doch der Fremde tat nichts dergleichen. Er blieb auf seinem Pferd, geduckt, in lauernder Haltung.

Was ist das denn für ein Vogel?

Nun unterbrich mich doch nicht andauernd. Also, nun trat der König vor. Seine Frau hielt ihn am Ärmel fest, doch er machte sich sanft von ihr los. „Wer seid ihr und was führt euch zu mir?“, wandte er sich selbst an den Mann. Unter den Worten zuckte der Angesprochene zusammen. Eine blasse Hand mit langen, spitzen Fingernägeln erhob sich aus den Bahnen schwarzen Stoffs und ein dünner Zeigefinger wies anklagend in Richtung des Königs. „Ihr seid es wirklich“, wisperte eine Stimme aus den Tiefen der Kapuze hervor. „Wie bitte?“, gab der König zurück. Er war nicht mehr der Jüngste und schon ein wenig schwerhörig. „Ihr seid es, der König“, wiederholte die Gestalt etwas lauter. „Ja, ich bin der König“, gab dieser zurück, „und nun habt doch die Güte, mir zu sagen, aus welchem Grund ihr mich aufsucht.“ Der Fremde wrang seine knochigen Hände ineinander, dann kamen die Worte aus seinem Mund, dünn, schneidend, wie Eis: „Ich bin gekommen, um endlich Rache zu nehmen.“ „Es tut mir leid, aber sprecht doch ein wenig lauter“, bat der König und wandte dem Reiter sein gutes Ohr zu. Die Gestalt räusperte sich. „Ich bin gekommen“, begann sie, „um endlich meine langersehnte Rache zu nehmen.“ Der König zuckte mit den Achseln und wandte sich seinen Beratern zu. „Tut mir leid, aber ich verstehe einfach nicht, was er sagt. Er spricht so leise.“ „Er sagt, er wolle Rache an Eurer Hoheit nehmen“, beeilte sich der Hofmarschall zu sagen. „Achso“, sagte der König, „bitte fahrt fort. Welchen Unrechts bezichtigt ihr mich?“ Der Fremde neigte sich nach vorn über den Hals seines schwarzen Pferdes. „Ihr“, wisperte er, „ihr habt getötet.“ „Ich habe was?“ „Getötet!“ „Achso, ich habe zuerst geflötet verstanden, das hätte auch keinen Sinn ergeben.“ Der Reiter wies dramatisch auf den König und zischte: „Er hat meine Frau getötet!“ „Wie bitte, euren Pfau?“ „Meine Frau!“ „Ich-…

Also langsam wird es ein bisschen albern. Was soll denn das für eine komische Geschichte sein. Ich glaube, bevor ich mich zu Tode langweile, gehe ich lieber in die Küche und schaue, ob mein Napf sich in der Zwischenzeit gefüllt hat. Ich komme sowieso nicht mehr vor, da verpasse ich auch nichts.

Das ist wieder typisch. Nur weil du nicht vorkommst, ist die Geschichte also doof.

So ist es: Mit mir wird einfach jede Geschichte hundertmal besser.

In Ordnung. Wenn du es unbedingt willst, dann erzähle ich eben eine Geschichte, in der du die Hauptperson bist.

Aber ohne Ritter.

Okay, ohne Ritter.


1. Dezember

Irgendwie hatte sie in der Luft gelegen, eine dunkle Ahnung von schlimmen Dingen, die da kommen würden. Dabei hatte die Woche noch so gut begonnen.

Am Montagnachmittag hatte der Postbote ein riesiges Paket voller Dosenfutter gebracht, dazu eine Stiege Milchfläschchen und ein neues Kratzbrett. Dieses hatten die Katzen des Hauses direkt in Augenschein genommen und einer ersten Bearbeitung unterzogen. Doch damit nicht genug, aus den Tiefen des Pakets kam ein zweites Kratzbrett zum Vorschein, kreisrund, mit einer Vertiefung darin, durch deren löchrige Oberfläche man nach kleinen, klingelnden Bällen fummeln konnte. Zunächst brachten die Katzen Stunden mit dem neuen Spielzeug zu und Lotta damit um einige Nerven. Doch nun war es Mittwoch und es lag ungeachtet in einer Ecke, langweilig geworden, wie so vieles, womit man ihnen eine Freude machen wollte.

Nuka, der dicke, orange-getigerte Kater, hockte auf dem Kühlschrank und spähte herab in die Küche. Lotta war gerade dabei, Frühstück zu machen und rührte in einem Topf mit heißem Kakao. Der war uninteressant, viel spannender war dagegen die Pfanne mit Rührei, das schon fertig war und nur noch warmgehalten wurde. Es duftete herrlich und Nuka schnupperte verzückt in der Luft herum. „Kommst du mal kurz?“, tönte Georgs Stimme aus dem Schlafzimmer. „Was ist denn?“, fragte Lotta zurück. „Habe ich noch irgendwo Socken? Ich finde hier keine!“

Lotta schnaubte genervt und verdrehte die Augen. „Schau doch mal unterm Sofa nach“, rief sie, „wenn dir die Dinger immer dort vom Fuß fallen, wo es dir passt, ist es kein Wunder, wenn die Katzen sie darunter kicken.“ Ein barfüßiger Georg kam aufgebracht in die Küche gestapft. „Das stimmt überhaupt nicht! Ich muss sie nur ständig in die Wäsche schmeißen, weil sie voller Katzenhaare sind! Das nervt total!“ Lotta zog den Topf vom Herd, ließ den Löffel fallen und stemmte die Arme in die Seiten. „Tja, dann müssen wir wohl oder übel jeden Tag staubsaugen“, erwiderte sie, „aber ich sehe nicht ein, dass ich die Einzige bin, die dafür verantwortlich ist.“ „Ich helfe ja wohl mehr als genug mit!“, protestierte Georg, „aber – hey, sag mal, was soll denn das!?“ Unter lautem Schimpfen wurde der kleine Kater, der sich, ungeachtet von den beiden Zankenden, am Rührei gütlich getan hatte, aus der Küche bugsiert. Schmollend saß er nun unterm Bett und leckte sich die letzten Krümel Ei von den Schnurrhaaren. „Du bist unverbesserlich“, maunzte eine Stimme hinter ihm. „Was kann ich denn dafür, wenn die beiden sich streiten“, gab er verärgert zurück, „man muss die Feste feiern, wie sie fallen.“ „Woher hast du denn diesen schlauen Spruch?“ Seine Schwester Mika strich auf ihren weißen Pfötchen an ihm vorbei und er hörte, wie ihre Krallen auf dem Fußboden klickten, als sie ihrerseits nun in die Küche schlenderte. Dort waren Georg und Lotta noch in ihre Diskussion vertieft, allerdings hatten sie es nun endlich an den Frühstückstisch geschafft.

„Ich finde, wir sollten einen Putzplan aufstellen“, sagte Lotta gerade, „damit wir die Aufgaben gerecht verteilen können.“ „Ich brauche keinen Putzplan“, antwortete Georg und biss mit gerunzelter Stirn in sein Brötchen, „ich sage dir, was wir brauchen: einen Staubsaugerroboter.“ Lotta sah ihn erstaunt an. „Aber die Teile kosten doch einen Haufen Geld. Und wir haben doch schon einen Staubsauger.“ „Lass mich mal machen“, sagte Georg, „ich finde schon ein gutes Angebot.“

Drei Tage später, die Georg vor allem vor seinem Computer verbracht hatte, reckte er triumphierend die Faust in die Höhe. „Heureka, ich habe es gefunden!“ Lotta legte ihr Buch beiseite und gesellte sich zu ihm. „Um genau zu sein, hast du dich gerade wiederholt. Heureka heißt übersetzt „ich habe gefunden“, das war also ein Pleonasmus.“ „Lernst du gerade für deine Lateinklausur und bist deshalb so schrecklich besserwisserisch?“ Lotta grinste: „So sieht’s aus.“ Georg wandte sich wieder seinem Rechner zu und öffnete ein Fenster. „Also“, sagte er mit Stolz in der Stimme, „ich habe noch einen ordentlichen Rabatt rausgeholt. Wir kriegen einen Staubsaugerroboter!“

Und noch während die Worte verklangen, fuhr den Katzen ein leichter Schauer der Vorahnung über den Rücken. Sie wussten nicht, was dieses Gerät sein sollte, von dem Georg da sprach, aber der Teil mit dem „Staubsauger“ klang nicht gut. „Staubsauger“ klang niemals gut.


2. Dezember

Als das Unheil ein paar Tage später in Form des Briefträgers an der Tür klingelte, ahnten die Katzen noch nichts.

Mit freudestrahlendem Gesicht trug Georg den Karton ins Wohnzimmer und eine halbe Stunde später stand das Gerät in der Mitte des Raumes: flach, kreisrund und von glänzend schwarzer Farbe wie ein massiver Suppenteller. Die Katzen beäugten es misstrauisch vom Sofa herab. „So“, sagte Georg und wies auf sein Handydisplay, „und wenn ich hier drücke, geht es los.“ Er tippte und mit einem Mal erwachte die Schüssel zum Leben. Sie gab ein lautes Zischen von sich und eine kleine Bürste begann sich zu drehen. Dann setzte das Monstrum sich in Bewegung – ganz von selbst! Den Katzen standen die Haare zu Berge. Was war das für eine Ausgeburt der Hölle und warum hatte man es in ihre Wohnung gebracht! Der Sauger drehte sich um die eigene Achse, fuhr unter den Couchtisch und mit einem flupp hatte er ein Band eingesaugt, mit dem Mika gerade gespielt hatte. Die kleine Katze starrte entsetzt auf die Stelle, wo ihr Spielzeug eben noch lag. „Ach, so ein Mist“, sagte Lotta. „Macht nichts“, gab Georg zurück, „das kann man alles wieder rausnehmen. Aber wir lassen ihn erstmal fahren.“

Während die beiden Menschen sich interessiert über das Telefon beugten, um auf dem Display die Route zu verfolgen, die der Staubsauger durch die Wohnung nahm, zogen die beiden Katzen es vor, ihm in der Realität nachzuschleichen. Das Gerät war inzwischen durch den Flur ins Schlafzimmer gelangt. „Was ist das für ein Ding“, knurrte Mika zwischen den Zähnen. „Ich weiß es auch nicht“, antwortete Nuka, „aber ich werde es aufhalten. Bleib hinter mir!“ Mit einem beherzten Satz sprang er auf den Feind zu, baute sich vor ihm auf, doch der besessene Kreisel gab sein Saugen nicht auf, hielt inne, dann wandte er sich um und fuhr in die entgegengesetzte Richtung davon. „Feigling!“, schrie Nuka und setzte ihm nach. Mika folgte, blieb jedoch stets zwei Schritte hinter ihrem Bruder – sollte er das mal machen. Man konnte ja nicht wissen, was dieses Ding für fiese Tricks auf Lager hatte.

In einer Zimmerecke hatten sie ihn endlich eingekesselt. Es gab kein Entkommen mehr. „Stell dich, du Elender!“, rief Nuka und machte sich zum Angriff bereit. Mit einem Mal hörte das zischende Geräusch auf. Verdutzt starrten die Katzen den Kreisel an, der nun reglos dastand. Auch die kleine Bürste war völlig ruhig und drehte sich nicht mehr. Nur eine rote Lampe auf der Oberseite begann schnell zu blinken. „Ich glaube, wir haben ihn erschreckt“, flüsterte Mika, da ertönte mit einem Mal eine blecherne Stimme aus dem Inneren des Saugers: „Bitte stelle sicher, dass sich in meinem näheren Umfeld keine Hindernisse befinden.“ Die Katzen fuhren zusammen. Es konnte sprechen! Und was das für eine schreckliche Stimme war! Nuka nahm allen Mut zusammen und stieß das Ding mit der Pfote an. Die Oberfläche war kühl und glatt. „Sensor verdeckt“, gab das Gerät scheppernd von sich. Erschrocken zog Nuka seine Pfote zurück, da näherten sich auf einmal Schritte im Flur. „Na das geht ja gut los“, hörte er Lotta sagen. „Sei doch nicht immer so ungeduldig“, antwortete Georg, als er das Zimmer betrat, „Mensch, was ist denn hier schon wieder los? Nuka, lass bitte den Roboter in Ruhe.“ Der Kater wich langsam zurück, ließ den Sauger jedoch nicht aus den Augen.

Da ergriffen ihn zwei Hände und er wurde hoch in die Luft gehoben. „Du darfst dich doch nicht direkt davor stellen“, lachte Georg, der ihn in die Arme genommen hatte. Doch Nuka fixierte weiterhin das Etwas, was nun wieder seine schreckliche Arbeit aufgenommen hatte und erneut, wie von Geisterhand geführt, seinen Weg durch die Wohnung fortsetzte. Der kleine Kater konnte nun nicht mehr an sich halten. „Das ist ein Teufelsteil“, schrie er, „ein Dämon, ein Monster, ein Ungeheuer! Ich will, will, will, dass es wieder auszieht! Sofort!“ Doch anstatt auf seine Forderung einzugehen, streichelte Lotta ihm über den Kopf. „Reg dich nicht so auf“, sagte sie beruhigend, „du kannst den Staubsauger gleich wieder untersuchen, aber lass ihn erstmal zu Ende saugen.“ „Ich will ihn nicht untersuchen! Ich werde ihm zeigen, wer der Herr im Hause ist, und dass er direkt wieder dorthin verschwinden kann, wo er hergekommen ist!“, fauchte Nuka zornig und wand sich in Georgs Arm. „Na, dann lass ich dich wieder runter, aber bitte benimm dich!“, sagte der und setzte das tollwütige Tier zu Boden. Mit großen Sprüngen war Nuka bei dem Sauger angekommen, der inzwischen auf dem Bettvorleger seine Kreise vollführte. „Nimm das!“, schrie der Kater und versetzte dem Gerät einen Hieb mit der Pfote. „Nuka!“, rief Lotta empört, „du lässt das sofort bleiben!“ Doch der dachte gar nicht daran und verpasst seinem Gegner einen weiteren Schlag. „Jetzt reicht’s“, sagte Lotta und während der Sauger den Rest der Wohnung reinigte, wurde der aufmüpfige Kater auf den Balkon gesperrt.

Dort war es zu dieser Jahreszeit einigermaßen kalt, doch das bemerkte er gar nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den neuen Feind durch das Fenster anzustarren und seinen Hass gegen dieses Gerät zu bündeln. Das konnte doch nicht der Ernst sein, was hier gerade passierte! Da wurde er, der von allen geliebte und geschätzte Kater, der heimliche Herrscher dieser Wohnung, wie ein Depp vor die Tür gesperrt, damit dieses unheimliche Ding seine teuflischen Kreise ziehen konnte, und Lotta und Georg standen dabei und lächelten! Er musste es schlauer angehen – er würde warten, wenn alle schliefen. Der Sauger konnte ja nicht ewig saugen, oder etwa doch? Schließlich war er eine Katze und was konnten die am besten? Lauern. Er würde lauern und dann, dann würde er diesen Eindringling zur Strecke bringen, beim Katzengott, das schwor er! Da sprang seine Schwester Mika vor das Fenster und ihre Blicke trafen sich durch die beschlagene Scheibe. Sie würde ihm dabei helfen, das wusste er. Gemeinsam würden sie es schaffen, und dann wäre endlich alles so wie vorher. Als Georg den Kater nach kurzer Zeit wieder hineinließ, war der wie ausgewechselt. Gleichgültig schritt er am Sauger vorbei, der nun starr und stumm in seiner Ecke stand, und würdigte ihn keines Blickes.

Einige Tage vergingen und Nuka wurde immer unzufriedener. Jede Nacht hatten sie sich bisher beim Sauger getroffen, um ihn ordentlich zu vermöbeln, aber weder hatte dieser sich zur Wehr gesetzt, noch ein Wort mit ihnen gesprochen. Wie eine Statue stand er da und rührte sich nicht. Lotta und Georg hatten selbstverständlich die Kratzer auf der glänzenden Oberfläche bemerkt, vermuteten aber, dass sie von Zusammenstößen mit Möbeln herrührten, da der Sauger sich noch nicht allzu gut in der Wohnung auskannte und hier und da aneckte. Er fuhr jetzt jeden Tag und, wie die Katzen mit Schrecken bemerkten, auch von selbst, wenn die Menschen nicht da waren.

Knapp eine Woche, nachdem das Teufelsteil, wie Nuka es nur noch nannte, eingezogen war, trafen die beiden Katzen sich zur Strategiebesprechung auf dem Kühlschrank. Unten zog der Sauger seine Kreise. „Was können wir nur tun?“, maunzte Mika besorgt, „unsere nächtlichen Attacken haben nichts genützt. Schau doch, er fährt immer noch genauso wie am ersten Tag!“ Nuka runzelte die Stirn, was eher niedlich als bedrohlich aussah. „Hm“, murmelte er, „ich glaube, es bleibt uns nur noch eine Sache übrig, die wir tun können.“ „Und die wäre?“ Er zögerte, dann begann er: „Weißt du, Lotta hört doch morgens immer Radio. Letztens, als ich hier oben ein Nickerchen gemacht habe, hat sie den Kühlschrank aufgemacht und ich bin aufgewacht, weil man ja von hier aus so gut an den Käse kommt, der im obersten Fach liegt. Und wenn Lotta mal nicht aufpasst, dann kann ich mit der Pfote …“ „Muss ich mir jetzt deine Fressgeschichten anhören?“, unterbrach ihn seine Schwester, „komm doch mal zum Punkt.“ „Also“, fuhr Nuka fort, „da habe ich gehört, wie ein Mann im Radio etwas vom Weihnachtsmann erzählt hat.“ „Vom Weihnachtsmann?“, wiederholte Mika fragend. „Ja, Weihnachtsmann. Er soll am Nordpol leben und einen langen weißen Bart haben. Und er kann Wünsche erfüllen, die man ihm auf einen Wunschzettel schreibt. Nur er kann uns jetzt noch helfen und das Teufelsteil in die Wüste schicken, Lotta und Georg scheinen ja völlig verliebt zu sein. Von denen brauchen wir nichts mehr zu erwarten.“ Nun war es an Mika, die Stirn in Falten zu legen. „Aber wir können doch gar nicht schreiben“, warf sie ein, „und wie soll er unseren Wunschzettel überhaupt bekommen?“. „Ja, das ist wohl ein Problem … deshalb müssen wir es ihm eben persönlich sagen!“ „Das ist doch total absurd!“, maunzte Mika erregt, „Außerdem ist Ausreißen keine gute Idee. Du weißt doch, wie wir uns beim letzten Mal verlaufen haben. Das will ich nicht noch einmal durchmachen.“ „Aber möchtest du lieber mit diesem Monster hierbleiben?“, fragte Nuka und deutete mit der Kralle nach unten auf den Sauger, der just in diesem Moment Mikas Lieblingsspielzeug, eine kleine Plüscheule, unter grässlichem Schlürfen einsaugte.

Die Miene der kleinen Katze verfinsterte sich. „Sag mir, was wir tun müssen, um diesen Weihnachtsmann zu finden.“


3. Dezember

Entgegen aller Erwartungen war es kein Problem gewesen, sich aus der Wohnung zu schleichen. Da die Weihnachtsvorbereitungen ins Haus standen, hatte Georg bei zahlreichen Rabattaktionen zugeschlagen und so war der Postbote ein häufiger Gast an der Haustür. Die beiden Katzen nutzten die Gelegenheit, um nach draußen in den kalten Hausflur zu huschen. Über die Schulter warf Nuka einen letzten Blick auf den Staubsauger, der, hämisch mit der Bürste wirbelnd, vorbeiratterte, wie als würde er ihnen zum Abschied zuwinken. „Freu dich nicht zu früh“, knurrte der kleine Kater, „ich komme wieder, und dann geht es dir an den Kragen.“

Nuka und Mika waren natürlich nicht leichtfertig losgezogen – nein, diesmal wussten sie, was sie in der Welt da draußen erwartete. In einer waghalsigen Nacht- und Nebelaktion hatten sie die Tür zum Katzenfutterschrank geöffnet und zwei Packungen mit getrocknetem Hühnchen und eine Tube Lachscreme geklaut. Viel komplizierter war es gewesen, die erbeuteten Dinge mit Bändern an Nukas Bauch zu befestigen, was Mika nach mehreren Versuchen endlich gelang. „Uns fehlt einfach der Daumen für solche Sachen“, murrte sie, während sie die letzte Schleife mit den Zähnchen festzog. Auch für Nuka war es eine große Herausforderung: zum einen musste er immer geduckt gehen, damit niemanden die Tüten unter seinem Bauch auffielen (ein Anblick, der Lotta und Georg beinahe dazu gebracht hätte, mit ihm zum Tierarzt zu gehen) und er musste den Drang zurückhalten, über die Leckereien herzufallen. Doch jedes Mal, wenn er schwach zu werden drohte, ging er ins Wohnzimmer und betrachtete hasserfüllt den Sauger, wie dieser ihn überheblich aus seiner Ecke her angrinste. Das war es wert, dachte der kleine Kater, das war es allemal wert.

Nun standen die beiden Katzen unten auf der Straße, fast genau ein Jahr, nachdem sie bereits einmal hier gestanden hatten. Damals waren sie voller Angst – heute voller kaltem Zorn. „So“, sagte Nuka, „zu allererst müssen wir unser Haus genau anschauen, damit wir es wiederfinden.“ Das taten sie und versuchten, sich jedes Detail ins Gedächtnis einzubrennen. Die drei Stufen hinauf zur klatschmohnroten Haustür, die niedrigen Kellerfenster, die grauen Mauern – das konnte man sich merken. Auch schnupperten sie herum und prägten sich die unsichtbaren Geruchsspuren ein, die die vielen Stiefel auf den Stufen hinterlassen hatten, einige davon von Lotta und Georg. Nach einigen Minuten richtete Nuka sich auf. „In Ordnung, ich glaube, jetzt finden wir es wieder“, sagte er und Mika nickte. „Wir machen nicht den gleichen Fehler wie damals.“ „Dann also los.“

Die beiden Katzen zogen los, sie hatten ein Ziel: den Bahnhof, von wo sie einen Zug in Richtung Norden nehmen wollten. Doch ein großer Nachteil am Katzen-Dasein ist, dass man die Schrift der Menschen nicht lesen kann. So steuerten sie in die Richtung, aus der sie eine leichte Spur von Ruß wahrnehmen konnten, wie er bei ihrer letzten Zugfahrt in der Luft gelegen hatte. Unterwegs versuchten sie, sich jede Häuserecke einzuprägen, doch bald verschwammen die einzelnen Bilder in ihrem Gedächtnis und es blieb einzig die klatschmohnrote Haustür zurück, von der sie sich immer weiter entfernten. Es war noch früh am Morgen und nur wenige Fußgänger waren auf den Gehwegen unterwegs. Kaum einer bemerkte die beiden Katzen, die Seite an Seite lautlos durch die Straßen strichen. Es hatte in diesem Jahr noch nicht geschneit, aber die Kälte hing im Asphalt und stach ihnen in die Pfoten. Es dämmerte, aber die dichte Wolkendecke verhüllte die Sonne so zuverlässig, dass nur das Licht der Straßenlaternen ihren Weg erleuchtete. Hinter den Fenstern der Wohnhäuser machten sich die Menschen bereit, den Tag zu beginnen und aus vielen Schornsteinen strömten weiße Wölkchen, denn es wurde geheizt, geduscht und gekocht. Doch die beiden Katzen hatten keine Augen für die erwachende Stadt, sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, dem rußigen Geruch zu folgen. Er wurde immer stärker, während die Wohnhäuser immer mehr abnahmen und schließlich ganz von Werkhallen, Höfen und Bürogebäuden ersetzt wurden.

Sie bogen um eine Ecke und standen vor einem großen, schmiedeeisernen Tor. Ohne lange zu überlegen, schlüpfte Mika durch die Stäbe. Da bemerkte sie, dass Nuka nicht mehr neben ihr ging. Sie drehte sich um und sah den dicken Kater, wie er zwischen den Stäben hing und weder vor noch zurückkonnte: er war steckengeblieben.

„Was machst du denn da?“, fragte sie grinsend, als sie Nuka erreichte. Der versuchte derweil, sich aus seiner misslichen Lage herauszuwinden und strampelte wild mit den Beinen, aber seine Pfötchen scharrten nutzlos auf dem Beton herum. Er saß bombenfest. „Bitte hilf mir“, maunzte er kläglich, „ich komme hier nicht allein raus!“ Mika schlenderte betont langsam um das Tor herum, nahm Anlauf, dehnte die Pause bis zur Unerträglichkeit – und warf sich mit aller Kraft gegen das flauschige Hinterteil des Katers. Wie der Korken aus einer Sektflasche schnipste Nuka nach vorn und vollführte einen Purzelbaum, der ihm wohl keine guten Haltungsnoten eingebracht hätte. Er rappelte sich auf und überprüfte der Sitz seiner wertvollen Fracht. „Vielen Dank“, schmollte er, „ein etwas sanfterer Umgang mit meiner Person hätte auch nicht geschadet.“ „Ach, komm schon“, lachte Mika, „du hast ja wieder ordentlich zugelegt in letzter Zeit, da muss man ein bisschen kräftiger schubsen.“ „Was für eine gemeine Unterstellung, ich habe überhaupt nicht…“, echauffierte sich der Kater, doch Mika war schon weitergegangen.

Gemeinsam steuerten sie dem großen Gebäude entgegen, das vor ihnen lag. Nun konnten sie auch die hohen Schornsteine sehen, die dahinterstanden und aus denen riesige weiße Wolken gen Himmel quollen. „Das sieht aber nicht wie ein Bahnhof aus“, murmelte Nuka. Tatsächlich, von Zügen war weit und breit nichts zu sehen. „Vielleicht müssen wir durch das große Tor?“, vermutete seine Schwester. Doch als die beiden Katzen durch den Spalt schlüpften, den das hölzerne Schiebetor offenließ, fanden sie keinen Bahnsteig vor. Stattdessen standen sie inmitten einer großen, staubigen Fabrikhalle. Ein Wald aus metallenen Säulen lag vor ihnen, dessen Ende nicht auszumachen war und an den Wänden standen hohe Holzregale voller Kartons. „Sieht aus, als wären wir hier falsch“, murmelte Nuka, während sie in der Dunkelheit herumblinzelten.

„Nein, mein Hübscher“, ertönte da eine melodiöse Stimme über ihren Köpfen, „du bist hier völlig richtig!“

Erschrocken blickten die beiden Katzen auf und versuchten, in der dunklen Höhe den Sprecher auszumachen. Eigentlich verfügen Katzen über eine sehr gute Sehkraft, auch in schlecht beleuchteten Verhältnissen, aber dort oben hing der Staub so dick in der Luft, dass auch ihre leuchtenden Augen die Finsternis nicht durchdringen konnten.

Da löste sich aus der Höhe ein Schatten, flog einen eleganten Bogen und landete beinahe lautlos auf vier Pfoten vor ihnen.


4. Dezember

Nuka und Mika blickten ihr Gegenüber fassungslos an. Vor ihnen war eine Birmakatze gelandet, schlank, mit einem prächtigen weißen Fellkleid. Sie blickte die beiden Fremden aus himmelblauen Augen herausfordernd an, während sie sich anmutig den Staub von den dunklen Pfötchen abputzte. Dann platzte es aus ihr heraus: „Ich habe sooo lange gewartet – und jetzt stehst du endlich vor mir!“

Die beiden Katzen blickten sich gegenseitig an. Wen meinte diese Fremde? Da musste wohl eine Verwechslung vorliegen. „Entschuldigung“, begann Nuka, „aber…“ Doch die weiße Katze ließ ihn nicht zu Ende kommen. „Du sprichst, mein Prinz und deine Stimme klingt wie Honig in meinen Ohren!“ Mika wandte sich langsam zu ihrem Bruder und um ihren Mund spielte ein Grinsen. „Da ist wohl jemand in dich verschossen“, presste sie zwischen den Zähnen hindurch. Nuka rempelte sie in die Seite, aber ihr Gegenüber schien nichts bemerkt zu haben. „Du bist noch schöner, als ich mir dich in meinen Träumen ausgemalt habe!“, flötete die Katze und scharwenzelte um den Kater herum. „Dieses orangene Fell – und dann bist du so … kräftig!“ Mika musste sich ein Lachen verkneifen. „Kräftig“, hüstelte sie, „so kann man es natürlich auch sagen.“

Während die fremde Katze ihn umschlich, versuchte Nuka, mit ihr Schritt zu halten und drehte sich umständlich um seine eigene Achse. „Dürfte ich vielleicht fragen, wer du bist?“, fragte er zögerlich. „Natürlich!“, rief die Fremde aus und blieb stehen. „Das ist ein historischer Moment, von dem wir unseren Kindern noch erzählen werden! Du wirst gleich das erste Mal meinen Namen hören! Oooh, wie aufregend!“ Mika verdrehte im Hintergrund die Augen.

„Mein Name ist…“, begann die weiße Katze und machte eine unnötig lange Kunstpause, „Helena.“ „Helena“, wiederholte Nuka, „ein sehr schöner Name.“ „Findest du wirklich?!“, quietschte sie und schmiegte sich mit einem Mal an ihn, „und jetzt musst du mir nur deinen Namen verraten. Aber – moment, halt! Ich rate, welcher Name zu dir passt. Es muss auf jeden Fall ein prächtiger Name sein, einer, der Stärke ausstrahlt und Leidenschaft! Ich glaube, du heißt … Antonio!“ Jetzt konnte Mika nicht mehr an sich halten und prustete los. Die beiden anderen drehten sich zu ihr um. „Ich musste niesen“, erklärte sie, mit Mühe um Fassung ringend, „hier ist so viel Staub.“„Das stimmt“, erwiderte Helena und wandte sich von Nuka ab, „dieser Ort ist einer weißen Katze nicht unbedingt würdig. Ständig muss ich mich putzen, ihr macht euch keine Vorstellung…“ „Wo sind wir eigentlich hier?“, fragte Nuka und folgte ihr zögerlich nach, denn Helena war auf leisen Pfoten um eine Säule gestrichen, während sie weiterplapperte.

Sie drehte sich nicht um, sondern schritt tiefer in die Halle hinein. „Wir sind an dem Ort, wo Katzenträume wahr werden! Hier gibt es alles, was das Katzenherz begehrt: so viele Verstecke, wie ihr euch nur erträumen könnt! So viele Mäuse, wie eine Katze in ihrem Leben nicht fangen kann! So warme Öfen, an denen man nicht tief genug dösen kann! Es ist nicht weniger als das Katzenparadies, an dem ihr hier gelandet seid – und ich, ich bin die Königin dieses Paradieses!“ Mika und Nuka sahen sich an. „Na, da hast du ja eine gute Partie erwischt“, flüsterte Mika ihrem Bruder zu. „Antonio, kommst du?“, flötete Helena ihnen über die Schulter zu. „Ich heiße …“, wollte Nuka korrigieren, doch er wurde erneut unterbrochen. „Ich führe euch jetzt in das Herz dieses Hauses! Aber wir dürfen nicht mehr sprechen, vergesst nicht, das hier ist ein Katzenparadies – und das bedeutet vor allem was?“ Sie beantwortete sich die Frage selbst: „Ruhe!“ Mika verdrehte im Hintergrund die Augen und verkniff sich die schnippische Bemerkung, dass es ja eigentlich sie selbst war, die hier die ganze Zeit schwatzte.

Schweigend folgten die Geschwister der weißen Katze tiefer in die Fabrik hinein. Die Fenster wurden weniger, durch die das ohnehin spärliche Morgenlicht hereinfiel und bald hüllte Dunkelheit sie ein. Als sie den Säulenwald durchschritten hatten, erreichten sie das Eingangstor zu einer weiteren Fabrikhalle. Der rauchige Geruch war unterwegs immer stärker geworden und nun konnten sie mit Sicherheit sagen, dass er aus dem Raum hinter dieser Tür kam. Wo führte die fremde Katze sie nur hin? Auch wenn sie Hals über Kopf in Nuka verliebt zu sein schien, hatten sie sie doch gerade erst kennengelernt und nach den Erfahrungen des ersten Abenteuers sollte man Fremden nicht einfach so trauen.

Als sie eintraten, blieben die beiden Katzen erstaunt stehen. Sie standen auf einer metallenen Brüstung, von der aus man den ganzen Raum überblicken konnte. Unter ihnen lagen lange, verschlungene Fließbänder, die ihre Wege durch Maschinen und andere, kompliziert aussehende Apparaturen nahmen. Darauf lagen unzählige Gebäcke, Kekse und Plätzchen in den verschiedensten Formen, Farben und Größen. Schwarze, turmhohe Öfen brannten überall in der Halle und tauchten die merkwürdige Szenerie in ihr orange-goldenes Licht. Wie von Geisterhand gesteuert, fuhren die Plätzchen in die Öfen hinein und kamen duftend und knusprig auf der anderen Seite wieder heraus. Spritzen voll mit buntem Zuckerguss verzierten die Gebäcke und eine Art Sprinkleranlage verstreute Schokoladenstreusel in alle Richtungen. Am Ende der Fließbandkette wurde alles in Kartons verpackt, verklebt und mit Etiketten versehen auf einen kleinen Lieferwagen geladen.

Dieser Anblick allein hätte die Katzen nicht so verdutzt machen können, nein, daran waren im Besonderen drei Dinge schuld. Zum einen konnte man trotz aller Geschäftigkeit der Bänder, Greifarme und Maschinen nirgendwo einen Menschen erblicken, zum anderen lag, bis auf ein leises Brummen, eine merkwürdige Stille über der Halle. Aber was Nuka und Mika völlig verblüffte, waren die vielen Katzen, die es sich überall in der Halle gemütlich gemacht hatten.


5. Dezember

Sie waren überall – schwarze, weiße, buntgefleckte, getigerte, dicke, dünne, große, kleine, junge, alte Katzen räkelten sich auf den Maschinen, rollten sich in Ecken zusammen, kuschelten in Pappkartons auf dem Boden, stolzierten über die Fließbänder und besonders viele von ihnen lagen nah bei den Öfen. Nun ergab auch das Brummen einen Sinn: das Geräusch war ein Schnurren aus hunderten Katzenkehlen.

„Willkommen im siebten Himmel!“, flötete Helena und die beiden Katzen lösten sich langsam aus ihrer verblüfften Starre. „Wie viele Katzen sind das denn?“, japste Nuka, während sein Blick über die vielfarbigen Pelzknäuel flog. „Ich habe hier keine Volkszählung oder so etwas gemacht“, antwortete Helena schulterzuckend, „aber es werden schon einige hundert sein, vielleicht sogar tausend.“ Mika wagte sich nun auch ans Geländer vor. „Aber was machen die denn alle hier?“, fragte sie zögerlich. Die andere wandte sich ihr zu und ihre blauen Augen leuchteten: „Sie sind zu mir gekommen! Am Anfang war es nur ich, ganz allein, mutterseelenallein in dieser großen Fabrik, das muss schon drei oder vier Winter her sehr. Damals gab es einen schlimmen Frost und ich wusste nicht, wohin ich sollte. Hier habe ich einen warmen Platz gefunden und scheinbar war ich nicht die Einzige, die diesen Gedanken hatte. Nach und nach sind andere gekommen, haben sich hier niedergelassen.“ Sie schritt langsam am Geländer entlang und ihre Stimme nahm einen ernsteren Ton an. „Ich habe vorhin nicht übertrieben, als ich gesagt habe, dass das hier ein Katzenparadies ist. Die Menschen kommen einmal im Monat her, ansonsten werden wir nie gestört. Durch die Öfen ist es immer kuschelig warm und die Kekse locken allerlei Mäuse an, auf die wir nur zu warten brauchen. Es ist perfekt. Und jetzt wo du da bist…“ – sie schmiegte sich an Nuka – „da werden wir gemeinsam über diesen wunderbaren Ort herrschen. Ich war die erste Katze hier, das heißt, es ist mein Revier und bisher hat sich niemand dagegen aufgelehnt. Für meine Position verlange ich nicht viel, nur die eine oder andere dicke Maus, damit ich meine Pfötchen nicht unnötig schmutzig machen muss.“ Da sie Mika wieder achtlos stehen gelassen hatte, war diese hinter den beiden Turteltäubchen hinterdrein gefolgt und äffte lautlos die pathetische Rede ihrer Führerin nach. Als Nuka sich nach seiner Schwester umdrehte und dies bemerkte, warf er ihr einen scharfen Blick der Zurechtweisung zu. „Also“, sagte Helena, die von all dem nichts bemerkt hatte, „dann will ich euch mal ein paar meiner Leute vorstellen. Oder vielmehr will ich ihnen meinen Bräutigam vorstellen, dich, meinen geliebten Antonio!“ Nuka war stehengeblieben und sah Mika hilfesuchend an. „Los, weiter geht’s, Antonio!“, grinste Mika schadenfroh und stieß ihn vorwärts.

Nuka hatte in seinem Leben noch nicht so viele Katzen gesehen, geschweige denn, mit ihnen gesprochen. Schon nach den ersten zehn Namen konnte er sich nicht mehr an den ersten erinnern und versuchte einfach einen freundlichen Eindruck zu machen, auch wenn er vom ganzen gekünstelten Lächeln langsam einen Krampf im Schnäuzchen bekam. Helena klebte wie eine Klette an seiner Seite, kuschelte sich an ihn und belegte ihn mit immer neuen Kosenamen. Dem kleinen Kater war das alles furchtbar peinlich, aber er wusste sich auch nicht zu helfen, deshalb ließ er alles über sich ergehen. Gerade wurde er einem weißgrauen, struppigen Kater vorgestellt, dem die Zotteln so dicht ins Gesicht hingen, dass seine gelben Augen kaum zu sehen waren. Er wurde als „der General“ vorgestellt und wahrlich, mit seiner straffen Haltung und dem stechenden Blick machte er seinem Namen alle Ehre. Quer über seine Nase verlief eine tiefe Narbe, ein Andenken aus einem erbitterten Kampf? „Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr General“, sagte Nuka ehrfürchtig und senkte den Blick – in der Katzensprache ein Zeichen der Demut und Unterordnung. „Kein Grund für schlechte Haltung!“, tönte auf einmal der fremde Kater. Sofort richtete sich Nuka auf und versuchte, so kerzengerade wie möglich zu stehen. „Besser!“, schnarrte der Andere, „Musst ein Inbegriff der Stärke sein, eine Waffe ist nirgends gefährlicher als in der Hand des Schwachen.“ Nuka beeilte sich, zustimmend zu nicken, auch wenn er die Bedeutung seiner Worte nicht verstand. Der alte General wandte sich mit zufriedener Miene ab und stolzierte davon. Der struppige Schwanz bauschte sich wie ein Federbusch über seinem Kopf auf und die beiden Katzen blickten ihm nach, bis er um den Ofen herum in der Dunkelheit verschwunden war. „Er ist ein wenig“ – Helena verdrehte die Augen und machte mit der Pfote eine kreisförmige Bewegung neben ihrer Schläfe – „die meisten halten sich von ihm fern. Er bleibt ohnehin lieber allein, ist ja schon etwas älter. Aber einmal hat sich ein Rudel Wildkatzen hier hinein verirrt, und wollten Ärger machen, da hat er gekämpft, das hätte ich so einem alten Herrn nie zugetraut.“ „Hat er dabei seine Verletzung bekommen?“, fragte Mika, doch Helena schüttelte den Kopf. „Nein, die hatte er schon, als er herkam. Er hat nie darüber gesprochen, egal, wie oft wir ihn danach gefragt haben.“ Sie gingen weiter und lernten noch eine Familie kennen, die sie gleich zum Essen einlud. „Mein Jüngster hat seine erste Maus gefangen!“, maunzte die Mutter stolz und der junge Kater, der ein weiches, grau-getigertes Fell trug, präsentierte stolz seine Beute. Mika verzog die Schnauze, das war nichts für sie. Sie war eine Hauskatze durch und durch – was nicht bequem zerteilt und in Soße eingekocht aus einer Dose serviert wurde, kam ihr nicht in den Futternapf. Ihr Bruder dagegen musste froh sein, von der nervenaufreibenden Vorstellungsrunde nun zu einer ihm äußerst angenehmen Aktivität übergehen zu können. Da ohnehin niemand auf sie achtete, entschlüpfte sie der Dinner-Gesellschaft.

Allein streunte Mika durch die große Halle. Hier und da standen umgekippte Kartons, in denen eine oder mehrere Katzen ihr Mittagsschläfchen hielten. Der Anblick, aber vor allem das ausdauernde Schnurren machte sie mit einem Mal sehr müde. Sie beschloss, auf einen der schwarzen Öfen zu klettern, um sich dort in der Wärme ein bisschen auszuruhen. Das dunkle Metall war vom Rauch und Ruß nicht mehr so glatt, wie es einst gewesen sein musste, sodass die kleine Katze überall guten Halt fand. Doch als sie oben angekommen war, musste sie feststellen, dass der Platz, den sie sich ausgesucht hatte, schon besetzt war.

Der General saß dort, in aufrechter, stocksteifer Haltung und überwachte mit scharfem Blick die Umgebung. Gerade wollte Mika unbemerkt den Rückzug antreten, da fuhr er auf einmal herum. „Du! Herkommen!“ Zuerst wollte sie seiner Aufforderung sofort Folge leisten, doch in ihr regte sich plötzlich Widerstand. Sie hatte schon gegen Schlangen und Eulen gekämpft, wer war dieser alte Kerl eigentlich, dass er ihr einfach Anweisungen geben durfte? Da sie sich nicht vom Fleck rührte, wandte der Kater sich vollständig zu ihr um. „Habe etwas gesagt“, knurrte er, „Herkommen!“ „Ich habe dich schon beim ersten Mal gehört“, gab Mika patzig zurück, „aber du hast mir nichts zu befehlen. Und wenn du dich mit mir anlegen willst, dann komm du doch her. Du machst mir keine Angst.“ Um ihren Standpunkt klar zu machen, setzte sie sich auf ihren Hintern und blickte ihn trotzig an.

Ohne eine Antwort kam er plötzlich auf sie zu. Seine Bewegungen hatten nichts mehr von ihrer Steifheit und seine Augen blitzten bedrohlich. Da schoss Mika durch den Kopf, dass sie mit dem Rücken zum Abgrund stand – ein Stoß, und nicht einmal die berüchtigte Fähigkeit, immer auf den Pfoten zu landen, konnte sie bei einem Sturz aus dieser Höhe noch retten.


6. Dezember

Der alte Kater kam immer näher und Mika überlegte fieberhaft, was sie tun konnte. Über ihn hinweg springen und schnell nach unten flüchten? Das wäre ein glatter Widerspruch zu dem, was sie gerade gesagt hatte – wie erbärmlich, von wegen, „keine Angst“. Ein bisschen mulmig war ihr aber schon zumute. Oder sollte sie den offenen Angriff wagen? Ihr Gegner war zwar ein älteres Semester, aber sie war deutlich kleiner als er und in einem Kampf mit hoher Wahrscheinlichkeit die Unterlegene. Ein leises Knurren entrang sich ihrer Kehle, sie konnte es nicht unterdrücken. „Bleib ruhig“, sagte sie zu sich selbst, als der Kater begann, sie langsam zu umkreisen. Sie schloss die Augen und atmete tief ein, bereit, sich zu verteidigen. Da hörte sie ein Schnuppern. Als sie verdutzt die Augen aufschlug, blickte sie aus nächster Nähe in das struppige Antlitz des Generals, dessen vernarbte Nase aufdringlich an ihrem Gesicht roch. „Ähm … was soll das?“, fragte sie irritiert. Ohne eine Antwort fuhr der Andere fort, die kleine Katze von oben bis unten abzuschnuppern. Plötzlich schoss er abrupt in die Höhe, wandte sich ab und stakste davon, zum entgegengelegenen Rand des Ofens. „Was sollte das denn?“, rief Mika ihm zu, die nun, nachdem er ein Stück von ihr entfernt stand, ihren Mut wiedergefunden hatte.

Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Antwort erhielt. „Habe dich noch nie gesehen. Erscheinst mir aber bekannter als jede andere Katze, mit der ich seit sieben Jahren in dieser Halle lebe.“, knurrte der General. „Sag, wer bist du?“ „Ich heiße Mika“, sagte die kleine Katze, „und ich wüsste nicht, woher wir uns kennen sollten. Ich bin nie draußen unterwegs.“ „Bist trotzdem kein verfressener Feigling, wie die anderen Hauskatzen, die sich hier her verirren“, gab der Andere zurück, „bist mutig.“ Er ließ sich langsam auf die Hinterbeine nieder und man konnte sehen, dass ihm dieses Niederlassen schwerfiel. Mit einer Kopfbewegung forderte er Mika auf, sich neben ihn zu setzen. „Was hast du hier zu suchen?“

Die kleine Katze überlegte kurz. Konnte sie ihm wirklich trauen? Obwohl, was machte es schon, vielleicht konnte er ihnen ja helfen. Ihr Plan, zum Weihnachtsmann zu kommen, war bislang eher das Gegenteil von „ausgereift“ gewesen. Und wem sollte sie sich anvertrauen, Helena vielleicht? Sie fasste schweren Herzens einen Entschluss.

„Wir haben ein Problem. Unser Zuhause wird von einem Teufelsstaubsauger tyrannisiert und wir haben alles versucht, ihn loszuwerden. Aber unsere Menschen sind völlig begeistert davon, also mussten wir eine andere Lösung finden. Nuka meinte, vielleicht könnte der Weihnachtsmann uns helfen.“ Der General hob die buschigen Augenbrauen und für einen kurzen Moment konnte man seine gelben Augen in Gänze sehen. „Der Weihnachtsmann…“, murmelte er. „Ich fürchte, da seid ihr hier aber völlig falsch.“ „Ja, der Meinung bin ich auch, nur ist mein Bruder seit Neuestem verlobt und jetzt kommen wir hier nicht mehr raus!“ „Passiert aller paar Wochen. Helena ist ein wenig“ – er verdrehte die Augen und machte mit der Pfote eine kreisförmige Bewegung neben seiner Schläfe – „ist aber nun mal unsere Anführerin. Heißt doch: Höflichkeit und Treue bringt nimmer Reue.“

Nun wagte sich Mika vor: „Du hast eben so komisch geguckt, als ich den Weihnachtsmann erwähnt habe. Kannst du uns irgendwie helfen, weißt du vielleicht, wie wir zu ihm kommen können? Bisher wissen wir nur, dass er am Nordpol lebt.“ Der General machte eine bedeutungsschwere, quälend lange Pause. „Wüsste nur zu gern, an wen du mich erinnerst …“, murmelte er. „Weiß vielleicht doch etwas“, sagte er dann, „ist aber nur ein altes Ammenmärchen.“ „Das ist egal!“, rief Mika, „erzähl!“ Und der alte Kater erzählte.

„Meine Großmutter ist in den Wäldern des Nordens aufgewachsen. War eine norwegische Waldkatze. Hat mir immer Geschichten erzählt, als ich noch klein war. Weihnachtsmann kam auch vor. Lebte allerdings in Lappland, im Norden Finnlands. Wohnt dort in einem verschneiten Dorf mit seinen Rentieren und tausenden von Wichteln, die ihm bei der Vorbereitung der Weihnachtsgeschenke helfen.“ „In Finnland“, wiederholte Mika, „nicht am Nordpol?“ „Ist in der Nähe vom Nordpol. Großmutter hat ihn jedes Jahr zu Weihnachten gesehen, hat sie mir geschworen. Aber war schon eine alte Dame, weiß nicht, ob sie sich richtig erinnert hat“, brummte der General. Er hatte den Blick gesenkt und seine Augen ruhten auf seinen Pfoten. Sie waren weiß und hoben sich deutlich vom Rest seines grauen Fellkleides ab. Dann wanderte er hinüber zu Mikas Pfoten. Sie waren weiß – und von den Knöcheln aufwärts grau. Ein Gedanke formte sich in seinem Kopf. „Das Bekannte ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt…“, murmelte er, da packte ihn die kleine Katze unvermittelt, krallte sich in seinem Fell fest und schüttelte ihn. „Du musst uns sagen, wie wir dort hinkommen! Bitte! Wir waren schon einmal im Schnee unterwegs und wenn es sein muss, um dieses Teufelsteil loszuwerden, dann werden wir eben nach Finnland fahren!“ Der alte General sah ihr lange ins Gesicht und löste sich dann von ihr. „Scheint mir ein schrecklicher Staubsauger zu sein.“ Die kleine Katze nickte mit finsterer Miene: „Du machst dir keine Vorstellung.“ „Nun gut. Werde euch helfen. Sag deinem Bruder Bescheid, aber lass Helena nichts davon wissen. Treffen heute Nacht hier am Fuß des Ofens, werde euch jemandem vorstellen, der euch zum Bahnhof bringt.“

Mika blickte ihn dankbar an. „Weißt du was? Am Anfang dachte ich, du bist ein knurriger, alter Kauz.“ Ein leises Lächeln spielte um den buschigen Schnauzbart des Generals. „Knurrst du nicht auch einmal mehr, als nötig ist, damit die anderen dich mit ihrem Quatsch in Ruhe lassen?“ Sie nickte, das stimmte wohl. „Gehen wir zu den anderen zurück.“

Als sie zu den anderen zurückkehrten, fanden sie einen Nuka vor, der, mehr kugel- als katzenförmig, in einer Ecke lehnte und sich stöhnend den Bauch hielt. „Was ist denn mit dir los?“, fragte Mika erstaunt. „Antonio hat sooo viele Kekse gegessen!“, rief die heraneilende Helena, „der arme, arme Antonio! Er braucht jetzt ganz viel Ruhe und natürlich Pflege von mir, seiner Liebsten!“ Mika konnte sich nur schwer beherrschen. Sie zwang sich ein künstliches Lächeln aufs Gesicht und sagte ruhig: „Vielen Dank für deine Hilfe, aber ich übernehme ab hier. Ich bin seine Schwester, ich kümmere mich schon um den … armen Antonio.“ Dagegen war nichts mehr zu sagen und die Geschwister blieben allein.

Nuka wandte mühsam seinen Kopf zu seiner Schwester um. „Bitte…“, ächzte er angestrengt, „wir … müssen … weg. Dieser Ort … nicht gut … Helena …“ Mika bedeutete ihm mit der Pfote, dass er schweigen solle und weihte ihn in den Plan ein, worauf er nur gequält nicken konnte, aber das reichte ja auch.

Den Rest des Tages verbrachte Nuka in unruhigem Dämmerschlaf. Er wälzte sich hin und her und als Mika ihn mitten in der Nacht weckte, fiel ihm das Aufstehen immer noch schwer. „Selbst schuld“, fauchte ihn Mika an, „was bist du auch so dämlich und futterst die ganzen Plätzchen auf?“ „Die waren echt lecker“, maunzte der Kater selbstmitleidig und trottete seiner Schwester hinterher. Tatsächlich, da wartete der alte General auf sie und er hatte noch jemanden bei sich, eine kleine Gestalt, die verdächtig un-katzenhaft aussah … „Na kiek ma‘ eener an, ick gloob, mir knutscht ‘n Elch!“


7. Dezember

„Nante?!“, riefen die beiden Katzen ungläubig und stürmten auf ihren Freund zu. Was für eine Überraschung, hier ihren alten Rattenkumpel wiederzutreffen! „Pssscht“, lachte der und umarmte sie – sofern es ihm aufgrund seiner Größe möglich war, er umarmte eher ihre Beine – „ick bin hier ‘n Spion uff jeheimer Missjon. Wir reden, wenn wa draußen sind.“ Die Katzen nickten und verabschiedeten sich vom General. Bei Mika hielt er sich lange auf, wollte etwas sagen, brachte es aber nicht heraus und knurrte dann auf seine bekannte, kauzige Art: „Kannst ja mal vorbeischauen, wenn ihr euer Staubsauger-Problem gelöst habt. Würd mich freuen.“ Mika versprach es ihm.

Nun hatten sie Nante wiedergetroffen und wo sollte er sie anders hinführen, als durch die Rohre der Kanalisation? Über einen defekten Abflussdeckel gelangten sie aus der Fabrik hinaus, hinein in die unterirdischen Gänge. Als sie weit genug entfernt waren und sich außer Hörweite der guten Katzenohren wähnten, drehte sich Nante um und zündete ein Streichholz an. Die Ratte sah immer noch genauso aus, wie sie sie das letzte Mal gesehen hatten, struppig, gefleckt wie eine Kuh – nur ihr Bäuchlein schien noch mehr gewachsen zu sein. „Jetzt kiekt ma‘ nich‘ so wie ‘ne Jans, wenn’s donnert“, grinste er, „ick wees selbst, wie verrückt dit is. Hätteta nich‘ jedacht, dass’er mich noch mal vor die Oogen kriegt, oda? Na, nu erzählt aber ma‘, wat wollta denn in Finnland?“

In wenigen Worten berichteten die beiden Katzen von ihrem Problem. „Eieiei“, kommentierte die Ratte das Gehörte, „dit würde mir ja ooch jewaltig auf’n Docht jehen.“ „Aber jetzt erzähl‘ du mal“, warf Mika ein, „warum kennst du denn den General? Ich dachte, ihr Ratten haltet euch von Katzen fern?“

Nante grinste. „Vor ‘n paar Wochen war ick dit erste Mal hier. Werd ick doch ma‘ wieder nach ‘n paar Schmeckerchen Ausschau halten, denk ick, is‘ ja Adventszeit und Mutti fragt mir ständig nach Plätzchen. Stiefel‘ ick also durch die halbe Botanik und komm‘ irjendwann hier raus. Steck meene Birne aus der Röhre, denk, wat is’n dit für ‘ne Demse hier, da krieg ich den ersten Schlag von ‘ner Tatze ab! Ick natürlich erstma‘ ab durch die Mitte, is‘ ja klar. Aber dit roch da so knorke, da musst ick wieder hin. Werd mir also in der Nacht durch die Hintertür anschleichen. So, nu‘ stellt euch vor, icke, wie ick bin, schleich mir durch ’ne riiiesige Halle, wo an jeder Ecke eins von euch Viechern liegt. Da …“ – die Ratte machte eine dramatische Pause – „packt mir uff eenmal ’ne Tatze im Jenick!“ Die Katzen atmeten erschrocken ein. „Keene Angst“, lachte Nante, „ick steh ja hier vor euch, jesund und fidel wie’n Joldfisch inner Ostsee. Aber da häng‘ ick nun, zappel rum inner Luft und mir kiekt diese alte, jraue Katze ins Jesicht. Davon allein hätt‘ ick schon den Schirm zumachen können, dit kann ick euch sagen! Aber ihr kennt mir ja, ick mach, wat icke am besten kann und nehm‘ meene Kodderschnauze in Betrieb. Und wat soll ick sagen, dit hat funktioniert! Scheint nich‘ so, aber der alte Knacker hat ‘nen ausjefeilten Sinn für Humor und hat sich mit mer anjefreundet. Ick schätz‘ ma‘, besonders die Zonenwitze ham ihm jut jefallen, damit konnt’er wat anfangen.“ Die Ratte räusperte sich. „Aber ick red mir schon wieder de Schnute fusslig! Keene Sorge, ihr könnt euch uff mir verlassen, ick bring euch jetze uff schnellstem Weje zum Bahnhof.“ Damit pustete er das Streichholz aus und der kleine Trupp setzte sich in Bewegung. Allerdings war den Katzen leicht schwindlig von den Erzählungen der Ratte – sie mussten sich erst wieder an seinen Dialekt gewöhnen.

Der Weg war lang und unterwegs unterhielt sie Nante in gewohnter Manier mit seinem Geplapper. Nachdem er zunächst einige Witze zum Besten gegeben hatte – „janz neuer Kram, muss ick euch unbedingt erzählen, da lacht ihr euch ‘n Ast“ – und die Katzen wieder einmal nicht verstanden, was daran lustig sein sollte, ging er dazu über, ein Liedchen zu schmettern:

"Mir" und "mich" verwechsl’ ick nich,
dit kommt bei mich nich vor.
Meen Köta looft nich mit mit mich,
und rennt mich weg durchs Tor.

„Mir“ und „mich“ verwechsl’ ick nich,
dit kommt bei mich nich vor.
Ick hab’n kleen’n Mann im Ohr,
der sacht mich allet vor.

Dazu klatschte er im Takt in seine kleinen Pfötchen. Die Katzen verstanden zwar nur die Hälfte, lobten ihn aber, als er geendet hatte. „Dit is‘ ein urtypisches Berliner Jedicht“, erwiderte Nante stolz, „und ick hab mir höchstselbst eene Melodie für dit Janze ausjedacht, nich‘ schlecht, oder?“ „Ja, das klingt echt gut“, bestätigte Nuka, doch dann wagte er sich doch zu fragen: „Worum geht es eigentlich in dem Lied?“ „Dit handelt vom Inhalt her von eenem jrammakitalischen Problem“, antwortete Nante, „also von eenem … wie nennt man ditte … Pauxfas! Eenem jrammakitalischen Pauxfas, wat eenem als Berliner manchetmal so passiert. Aber kiek‘ ma‘, wir sind schon da.“

Wären sie allein unterwegs gewesen, hätten die Katzen nicht sagen können, ob sie an ihrem Ziel angekommen waren oder sich völlig verlaufen hatten. Die Kanalisation verriet keinerlei Hinweise – die immer gleichen gemauerten Wände und das immer gleiche Glucksen des schwarzen Wassers in der breiten Rinne umgaben sie in der Dunkelheit. Doch Nante schien sich auszukennen. Ein Ratschen ertönte und im Licht des Streichholz deutete die Ratte in eine abzweigende Röhre. „Hier jeht’s rein“, krähte sie, „mir nach, Jenossen!“

Am anderen Ende des Tunnels empfing sie das helle Licht einer Leuchtstoffröhre. Die Ratte hopste voraus und die Katzen folgten ihr in den gekachelten Vorraum einer Bahnhofstoilette. Anscheinend hatte es in der Zwischenzeit geregnet und die vielen Stiefel hatten nasse Pfützen auf dem Fußboden hinterlassen. Nuka und Mika bemühten sich, diese weiträumig zu umsteuern, Nante hingegen tapste einfach hindurch, dass das Schmutzwasser nur so spritzte.

Die kleine Gruppe trat auf den verlassenen Bahnsteig hinaus. Gierig sogen die Katzen die frische, kalte Luft ein – was für eine Wohltat nach der verrauchten Fabrik und der stickigen Kanalisation! Nante war ihnen vorausgeeilt, auf einen Sockel geklettert und studierte in der Höhe die Fahrpläne. Dann schaute er auf die große Bahnhofsuhr. „Allet klar“, rief er von oben herab, „ick wees jetzt, wie ihr fahrn müsst.“


8. Dezember

Ob diese Reise eine gute Idee gewesen war? Bisher hatte sich das Ganze als ziemlich kompliziert erwiesen, so grübelte Nuka vor sich hin, während er unter seinen Pfoten die Vibrationen der Stahlräder spürte, wie sie über die Schienen zischten.

Nante hatte ihnen genau erklärt, welche Züge sie nehmen mussten. Leider gab es keine direkte Verbindung nach Finnland, weshalb sie zuerst mit dem Schnellzug nach Russland fahren würden. Von dort aus könnten sie dann nach Lappland weiterreisen. Zum Glück blieb noch etwas Zeit, bis der Zug in den Bahnhof einfuhr, und so nutzten die Katzen die Gelegenheit, sich die Namen der Bahnhöfe und die entsprechenden Uhrzeiten einzuprägen. „Wie konntest du das überhaupt lernen?“, hatte Mika zerknirscht gefragt, die sich einfach keinen Reim auf die absonderliche Schrift der Menschen machen konnte. „Ick sach‘ ma’ so …“, grinste Nante, „ohne euch zu nahe treten zu wollen, aber Ratten sind jetzt nich‘ gerade dumm wie’n Konsumbrot. Meenen Großonkel – Jott sei seiner Rattenseele jnädig – haben se in einem Labor jehalten, wo er dann ausjebüxt ist. Da haben se Exerpimente mit ihm jemacht, ob wir Ratten so schlau sind, dasse uns Lesen beibringen könn‘. Stellt‘ sich raus, sind wa. Nachdem er da weg war, hatt’er dit mir und meener Sippe beijebracht. Jut, oder?“ „Auf jeden Fall sehr nützlich“, hatte Nuka ihm beigepflichtet.

Der Abschied war ein kurzer, aber dennoch schmerzlicher gewesen. Die Katzen umarmten ihren Freund und der wischte sich unbemerkt ein Tränchen aus dem Auge. „Macht euch weg“, schniefte er, um Fassung bemüht, „ick hoff‘, ick seh‘ euch bald mal wieder. Und wenn ihr dit Weihnachtsmänneken findet, legt een, zwee jute Worte für euren alten Freund Nante ein, dit wär‘ schnieke.“ „Das machen wir – danke für alles!“, riefen ihm die Katzen zu, während sie die Stufen zum Bahnwaggon hochkletterten. Bis die Türen sich schlossen, winkten sie ihm zu und die dicke, kuhgefleckte Ratte winkte zurück.

Nachdem der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, waren die Katzen in ein besonders leeres Abteil geschlichen. Hier saß nur ein älterer Herr, der seinen Hut tief in die Stirn gezogen hatte und zu schlafen schien. Die Katzen verdrückten sich unter einen der Sitze in angemessener Entfernung, das fehlte noch, dass sie jemand hier entdeckte. Der Fußboden des Waggons war mit Teppich ausgelegt und an der Wand verströmte eine Heizung angenehme Wärme im ganzen Abteil.

Nante hatte ihnen schon angekündigt, dass die Fahrt eine Weile dauern würde. Also machten sie es sich bequem. Der Zug hielt ab und an und eine Frauenstimme aus den knackenden Lautsprechern verkündete blechern, welcher Bahnhof gerade erreicht worden war. Die Geschwister vereinbarten, dass immer einer von ihnen wach bleiben und darauf achten würde, dass sie ihren Ausstieg nicht verpassten und so hielten sie abwechselnd ein Nickerchen, eng aneinander gekuschelt.

Mika war als Erste eingeschlafen. Die kleine Katze war durch die ganze Aufregung sehr erschöpft gewesen und musste sich jetzt zur Krönung mit wilden Träumen herumschlagen. Darin flüchtete sie vor einem Staubsaugerroboter, der mit wirbelnder Bürste hinter ihr herfuhr und dabei immer wieder „Katze identifiziert! Starte Saugvorgang!“ röhrte. Während er sie verfolgte, sog er nach und nach all ihre Spielzeuge ein, dabei machte er ein schlürfendes und schmatzendes Geräusch … fluuuurp … schmatz … aber war das noch ihr Traum? Oder war es vielmehr …? Mit einem Mal war Mika wach. Sie öffnete die Augen und ihr Blick fiel auf Nuka, der mit einer akrobatischen Verrenkung die Tube Lachscreme, die auf seinen Bauch geschnallt war, ausschleckte. „Ich glaub‘ es ja nicht!“, schrie sie und warf sich auf ihn, „hör sofort auf damit! Das ist unser Proviant!“ „Ich hatte Hunger!“, verteidigte sich der Kater, während er versuchte, sich selbst zu entknoten, aber sein Bäuchlein erschwerte seine Lage noch. „Du hast doch vorhin einen Haufen Plätzchen gegessen!“  – „Ja, aber … davon kriegt man eben noch mehr Hunger! Hey – lass mich los!“ Mika hatte sich auf ihn gestürzt und fauchend und spuckend rollte das Knäuel aus balgenden Katzen in den Gang hinein.

„Was ist denn hier los?“ Eine tiefe Stimme riss die beiden Kämpfenden aus ihrer Wut. Der Mann war aufgewacht und stand nun, eine gerollte Zeitung in der Hand, über ihnen. Mika duckte sich instinktiv, hob ihren Kopf und fauchte den Mann wütend an. Doch der zeige sich von ihrer Drohgebärde unbeeindruckt. „Was bist denn du für ein Streuner, mich fauchst du nicht an!“ – und er griff nach ihr.

Dies war ein Fehler, den Menschen häufig begingen, wenn sie Mika sahen, und er rührte von zwei Irrtümern her. Zum einen wurde die kleine Katze aufgrund ihrer Körpergröße oft als harmlos eingeschätzt und zum anderen war sie einfach viel zu niedlich, als dass man denken konnte, dass von ihren Krallen Gefahr ausging. Der Fremde mochte wohl beides gedacht haben, doch als er versuchte, Mika im Nacken zu ergreifen, packte sie blitzschnell zu. Als der Mann seine Hand mit einem Schrei zurückriss, zogen sich drei rote Wunden über seinen Handrücken. „Geschieht dir Recht!“, fauchte Mika und machte sich für einen weiteren Schlag bereit. „Elendes Biest!“, schrie der Mann und holte mit der Zeitung aus. Gerade noch konnten die Katzen ihm ausweichen und suchten ihr Heil in der Flucht, ihren Verfolger dicht auf den Fersen. Zum Glück war das Abteil ansonsten leer, sie schlängelten sich durch die Sitzreihen und konnten so wertvolle Zeit gewinnen. Aber als sie aus der Tür hinauswaren, lag ein langer Gang vor ihnen und der Mann konnte mit langen Schritten um einiges aufholen. „Wo sollen wir hin?“, schrie Nuka seiner Schwester zu. „Einfach gerade aus!“, rief sie zurück, „ich weiß es doch auch nicht!“ Waggon um Waggon durchschossen sie, in einigen saßen Menschen, die gar nicht wussten, wie ihnen geschah, als ein orangeroter und grauer Blitz durch den Gang fegten, gefolgt von einem wütenden Mann, der mit einer Zeitung um sich schlug. Doch leider ist auch der längste Zug irgendwann zu Ende und so mussten die beiden Katzen voller Schrecken bemerken, dass sie auf eine eiserne Wand zurasten. Ein Ausweg war nirgends zu erkennen. „Was sollen wir nur tun?“, rief Nuka seiner Schwester verzweifelt zu, als sie davor zum Stehen kamen. Ihr Verfolger war im letzten Waggon über einen Koffer gestürzt und so hatten sie etwas Abstand gewonnen, doch jetzt war er ihnen wieder dicht auf den Fersen und kam immer näher. Da öffnete sich eine kleine Klappe in der Wand und eine Stimme wisperte: „Na los, rein mit euch!“ Ohne lange nachzudenken, schlüpften die beiden Katzen durch den Spalt.


9. Dezember

Sobald die Katzen die hölzerne Klapptür passiert hatten, wurde diese auch sofort hinter ihnen geschlossen. Draußen hasteten die Schritte ihres Verfolgers weiter, man konnte hören, wie er verdutzt stehenblieb. „Das ist doch nicht möglich!“, hörten sie ihn wütend ausrufen, dann stapfte er, unverrichteter Dinge, zornig davon.

Zunächst konnten Nuka und Mika sich gar nicht umschauen, geschweige denn, bei ihrem Retter bedanken. Zu erschöpft waren sie von der Hetzjagd durch den Zug, keuchend ließen sie sich auf den Boden plumpsen. Aber als sie aufsahen, war da niemand. Aber irgendjemand hatte sie doch eben noch gerufen! Warum verbarg er sich jetzt vor ihnen?

Nun konnten sie erkennen, an welchem Ort sie gelandet waren. Die beiden Katzen befanden sich in einem Wandschrank, der jedoch eher die Ausmaße einer kleinen Abstellkammer hatte. Alle Wände waren mit Regalen ausgekleidet, die mit haltbar gemachten Lebensmitteln in Dosen, Büchsen und Flaschen vollgestellt waren. Auf den oberen Regalbrettern befanden sich augenscheinlich Handtücher und Wischlappen, denn die Zipfel hingen über das Holz herab. Hier und da standen Putzmaterialien herum, ein Besen mit Kehrschaufel und ein Wischeimer. Insgesamt machte die Kammer einen staubigen und unaufgeräumten Eindruck, wie als wäre es ganz recht so, dass die Tür meistens geschlossen blieb.

Während Nuka noch mit seinem Seitenstechen kämpfte, begann Mika sich schon in dem kleinen Raum umzusehen. Sie schnupperte besonders unter den Regalen herum, untersuchte den Wischmop und wühlte in einem Karton voller Papierschnipsel, der in einer Ecke stand. Auf einmal zog sie mit einem schmerzerfüllten Quieken ihre Pfote zurück. „Aua!! Was ist das denn?“ Nuka stand auf und eilte zu seiner Schwester, die im schummrigen Licht, dass durch den Spalt unter der Tür hereinfiel, die Verletzung in Augenschein nahm. „Was hast du denn gemacht?“, fragte er besorgt. „Ich weiß es nicht“, gab sie zurück, „mich hat etwas gestochen. Schau mal, ich blute sogar!“ Dabei hielt sie ihre Pfote anklagend in die Höhe. Auf einem der rosafarbenen Fußballen glänzte ein kleiner, roter Fleck. „Tja“, sagte Nuka, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Wunde bei weitem nicht so schlimm war, wie Mika ihm glauben machen wollte, „aber jetzt siehst du mal, wie es ist, wenn du die Menschen kratzt. Da packst du einmal zu und die bluten noch viel stärker, als du es jetzt tust. Und du beschwerst dich immer, dass sie deshalb mit dir schimpfen.“ Seine Schwester gab ein missmutiges Geräusch von sich. „Ich muss mich doch auch irgendwie wehren“, murrte sie und leckte zerknirscht an ihrer Pfote. „Ich sag ja nur“, erwiderte der kleine Kater, „du übertreibst es eben immer.“ „Viel wichtiger als deine Standpauke ist doch herauszufinden, was mich da eben gestochen hat!“, versuchte Mika, ihn von dem leidigen Thema abzulenken.

Gemeinsam schlichen sie zu dem Karton, der in der Ecke stand und sich Mühe gab, möglichst unschuldig auszusehen. Nuka blickte seine Schwester an, doch die schüttelte den Kopf: „Ich fasse da garantiert nicht noch einmal rein!“ Das war ja klar, alles blieb mal wieder an ihm hängen. Er hob die Pfote und begann, vorsichtig die Schnipsel zu durchwühlen. Mika lugte interessiert über den Rand des Kartons und beobachtete ihn dabei. „Also hier ist nichts“, stellte Nuka fest, „ich weiß echt nicht, was dich da – au!“ Nun war er es, der sich um seine schmerzende Pfote kümmern musste. „Mir reicht es jetzt“, sagte Mika, „ich kippe diese Kiste jetzt um, und was auch immer sich darin versteckt und unschuldige Katzen in die Pfoten sticht, wird herauskommen und sein blaues Wunder erleben!“

Plötzlich raschelte es, die Papierschnipsel wurden in Bewegung versetzt und aus Inneren des Kartons tönte eine tiefe, melancholisch klingende Stimme, die jedes „R“ ausgiebig rollte: „Lieber probieren und schlecht machen, als gar nichts tun, nicht wahr?“

Die beiden Katzen zuckten zusammen. Das war definitiv nicht die Stimme, die ihnen eben den Weg in diese Kammer gewiesen hatte! Vor ihren überraschten Augen teilte sich auf einmal das papierne Meer und ein grauer Rücken erhob sich daraus, mit aberhunderten spitzen Stacheln besetzt. „Daran habe ich mich gestochen!“, rief Mika aus und deutete anklagend auf den Fremden, der nun über den Rand der Kiste kletterte und ungeschickt zu Boden plumpste. Da trat hinter ihm eine Gestalt aus dem Schatten hervor, anscheinend hatte sie sich unter den Regalen verborgen. Ein kleiner Kopf mit großen, runden Ohren thronte auf einem schlanken Oberkörper und schwarze Knopfaugen funkelten bedrohlich. So stand das ungleiche Paar vor den Geschwistern: ein alter Igel, schon weiß um die Schnauze und ein braun-weiß geflecktes Wiesel.

„Was machen wir jetzt mit denen?“, fragte das Wiesel den anderen, doch der zuckte mit den Schultern – soweit Igel dazu imstande sind. Es hatte eine schleppende Stimme und betonte die Wörter in einer Weise, die den Katzen völlig fremd war. „Ich weiß es doch auch nicht“, gab der Igel zurück, „schließlich hast du sie hereingebeten, nicht wahr?“ Er tapste auf Nuka und Mika zu und begann, lautstark ein- und auszuatmen. Nuka blickte seine Schwester irritiert an. Wo waren sie denn nun schon wieder hineingeraten? „Ich habe nur nach besten Wissen und Gewissen gehandelt, als ich die beiden hereinließ“, verteidigte sich das Wiesel unterdessen, während der stachelige Kerl unbeirrt weiter schnaufte und die Katzen dabei langsam umkreiste. Auf die Worte des Anderen drehte er sich zu ihm um und blinzelte ihn aus seinen dunklen Augen an. „Das Gewissen ist unser bester und zuverlässigster Wegweiser, doch wo finden sich Merkmale, die seine Stimme von anderen Stimmen unterscheiden?“, sagte er dann bedächtig. „Was willst du denn damit sagen?“, empörte sich das Wiesel, „willst du mir etwa niedere Beweggründe unterstellen?“

Doch bevor der Igel antworten konnte, kam Leben in einen der Handtuchstapel auf dem Regal und eine lispelnde, piepsige Stimme schrie: „Ich hab‘ es immer gewusst! Passt bloß auf Leute, jetzt seid ihr fällig! Einem Wiesel sollte man nicht trauen! Ich hab‘ es immer gewusst!“

Der Igel bemühte sich nicht einmal, den Kopf nach oben zu wenden. „Ganz ruhig, da oben.“ Stattdessen bedachte er das Wiesel mit einem langen Blick. „Tja, Verantwortung entsteht dadurch, dass man nicht rechtzeitig Nein sagt, nicht wahr?“ „Jetzt kommt der Alte mir schon mit meinen eigenen Sprüchen“, murrte der Angesprochene, „aber stellt es euch vor, ich wollte nur helfen. Und du da oben, reiß dich endlich zusammen. Wir sind seit drei Tagen hier und ich habe bisher keine Anstalten gemacht, dich zu fressen. Würdest du dann bitte herunterkommen und dich zivilisiert verhalten?“

„Niemals!“, krähte die Piepsstimme vom Regal herab, „das könnte dir so passen, du Schuft! Aber so leicht lass‘ ich mich nicht reinlegen!“ Das Wiesel schüttelte über diese Worte den Kopf und atmete hörbar verächtlich durch die Nase aus. Der Igel hatte nun sein Schnaufen endlich eingestellt und baute sich vor den Katzen auf, die der Szene wie versteinert beigewohnt hatten und höchst verwirrt waren. „Ich denke, ihr habt einige Fragen, nicht wahr? Die werde ich euch gern beantworten.“


10. Dezember

„Also dann“, sagte der Igel, „nur zu. Fragt drauflos.“

Nuka wagte sich als Erster vor: „Warum habt ihr uns gerettet?“ Eine lange Pause folgte, dann drehte sich der Igel zum Wiesel um und nickte ihm auffordernd zu. „Sagen wir, ich habe ein Herz für Tiere“, ließ es sich schließlich zu einer Antwort herab, während es die beiden Katzen süffisant angrinste.

Auch wenn diese Antwort nicht sonderlich zufriedenstellend war, ahnte der kleine Kater, dass aus diesem wortkargen Gesellen nichts mehr herauszuholen war, also wandte er sich an den Anderen. „Wer seid ihr, wie heißt ihr und was macht ihr hier?“ Ein Lächeln spielte um den Mund des Igels. „Natürlich, wie unhöflich, dass ich mich noch nicht längst vorgestellt habe. Mein Name ist Tolstoi.“ Er versuchte sich an einem höflichen Knicks, der nicht besonders gut gelang, da seine Beine dafür zu kurz waren. „Der da drüben heißt Trotzki“ – das Wiesel nickte ihnen mit dem Kopf zu. „Und wer ist das dort oben auf dem Regal?“, fragte Mika. „Den hätte ich beinahe vergessen. Das ist Kevin.“

Die Katzen blickten nach oben und jetzt sahen sie, dass ein kleiner, runder Kopf mit großen Glubschaugen und langen Zähnchen über den Rand zu ihnen hinabspähte. „Das Wiesel hat die Katzen extra hier hergebracht, damit sie ihm helfen“, murmelte es, hastig, wie zu sich selbst, „Katzen können sehr hoch springen. Ja ja, sie sollen hier hoch springen und mich in die Tiefe zerren, damit das Wiesel mich endlich fressen kann. Was mach ich nur, was mach ich nur…“ Es wühlte sich zurück in den Stoffhaufen und sein verzweifelter Monolog war nicht mehr zu hören. Trotzki blickte nun doch nach oben, mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen. „Du, Kevin, es tut mir ja leid, deine Verschwörungstheorien zunichte zu machen, aber wenn ich zu dir heraufkommen wollen würde, dann hätte ich es schon längst getan.“ Der Igel sah die Katzen entschuldigend an. „Das geht seit drei Tagen so. Unangenehm, nicht wahr? Aber ich sollte nicht tadeln. Indem wir andere tadeln, regen wir uns unnützerweise auf und begehen große Irrtümer. Fremde Sünden sieht man vor sich, aber die eigenen hat man hinter dem Rücken, nicht wahr?“ Nuka blickte seine Schwester triumphierend an. „Das ist mal eine guter Spruch“, maunzte er, „den sollte ich mir merken. Das sage ich, wenn du mich das nächste Mal kritisierst.“ „Dir fällt echt nichts anderes ein, was du in dieser Situation sagen könntest?“, fauchte sie mit gedämpfter Stimme zurück, „du bist sowas von kleinlich! Außerdem habe ich doch Recht, wenn dir dein voller Bauch wichtiger ist als ich, dann darf ich das ja wohl kritisieren“ Der Igel stupste sie von der Seite mit der Nase an. „Djewuschka, entschuldige, dass ich mich einmische, aber für jeden existiert ein besonderer Weg, auf dem jede These für ihn zur Wahrheit wird. Ihr beide habt bestimmt eine lange Reise hinter euch, weshalb ihr so gereizt seid. Aber das bringt euch nicht weiter, nicht wahr?“ Die Katzen blickten leicht beschämt zu Boden.

„Ihr wolltet wissen, was wir hier tun“, fuhr er nach einer Pause fort, „wir wollen heim in den Schoß von Mütterchen Russland.“ „Mütterchen Russland?“, wiederholte Nuka fragend. „Tolstoi wollte sich vor dem langen Winter noch einmal im Süden aufwärmen und ich war aus politischen Gründen unterwegs. Jetzt sind wir auf dem Weg nach Hause. Mehr braucht ihr nicht wissen“, warf Trotzki ein, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. „Die Geburt Christi steht vor der Tür, nicht wahr“, fuhr der Igel fort, „dafür zieht es uns in die Heimat.“ „Dich zieht es in die Heimat, weil die Heilige Nacht bevorsteht“, korrigierte ihn das Wiesel und brachte dabei die Worte „heilige Nacht“ auf besonders lächerliche Weise heraus, indem er den schwermütigen Tonfall des Igels imitierte, „ich dagegen bin wahrhaftig kein Gläubiger. Die Religionen sind eine unlogische, primitive Form der Ignoranz, wenn ihr mich fragt.“ „Ja, du magst kein Gläubiger Gottes sein, aber du glaubst an etwas anderes, nicht wahr?“, warf Tolstoi ein. „Weil ich daran glaube, dass aus dieser Welt eine gerechte werden kann, vergleichst du mich mit einem, der den wohl ersten Studenten der Geschichte verehrt?“, echauffierte sich Trotzki.  „Wohnte mit 30 noch Zuhause, hatte lange Haare und wenn er was tat, war das ein Wunder!“

„So geht das hier seit drei Tagen“, meldete sich Kevin vom Regal herunter. „Ich habe keinen Plan, was die beiden da plappern, ganz ehrlich, da kommt man sich schon ganz schön dumm vor!“ „Ich käme mir eher dumm vor, wenn ich darauf pokern würde, dass ein Wiesel nicht klettern kann!“, erwiderte Trotzki mit spottendem Unterton. Tolstoi räusperte sich vernehmlich. „Lasst uns bitte nicht mehr streiten, ich bin zu alt, um solche Strapazen standzuhalten. Ich würde unsere Gäste gern fragen, wer sie sind und was sie hergeführt hat.“

Bereitwillig erstatteten die Katzen Bericht: wer sie waren, was sie auf ihre Reise geführt hatte und was sie bisher erlebt hatten. Auch von ihrem Freund Nante erzählten sie und nachdem ihre Erzählung beendet war, kam Bewegung in Kevins Handtuchhaufen. Sekunden später wagte sich, am ganzen Leib zitternd, ein pelziges Wesen in ihren Kreis, welches allumfassend am besten mit dem Adjektiv „rund“ beschrieben werden konnte. Kevin war ein Lemming mit dickem, hellbraunem Fell, runden Ohren und einer großen, schnurrhaarbesetzten Nase, die schüchtern in der Luft herumschnupperte. Ängstlich flogen seine Augen hin und her, während er schnell an Trotzki vorbei wuselte und sich mitten zwischen Nuka und Mika drückte. Von diesem geschützten Platz aus blinzelte er das Wiesel misstrauisch an. Das brach in Gelächter aus, allerdings war auch sein schleppendes Lachen von einer Abgeklärtheit, die ihm so mancher als herablassende Überheblichkeit ausgelegt hätte. „Du bist wahrhaftig ein Feigling, Kevin!“, spottete er. „Ich bin kein Feigling, aber auch kein Dummkopf“, zischte der Lemming und blickte die Katzen flehend aus seinen großen Augen an. „Euer Freund ist eine Ratte? Das sind nahe Verwandte von mir. Würdet ihr auch auf mich aufpassen, so, wie ihr es für euren Freund getan habt?“ „Keine Angst“, lächelte Mika, „dir wird niemand etwas tun.“ Im Hintergrund schlug sich das Wiesel die Pfote vor die Stirn. „Dir hätte sowieso niemand etwas getan, du Plinse!“

„Entschuldigt“, warf Tolstoi ein, der, seitdem die Erzählung der Katzen geendet hatte, einen nachdenklichen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte, „aber ich habe eine Frage. Ihr habt vom Weihnachtsmann gesprochen, wer soll das sein?“ „Der Weihnachtsmann lebt im Norden und mit der Hilfe seiner Wichtel kann er Wünsche erfüllen“, erklärte Nuka, „man kann ihm einen Wunschzettel schreiben und am Weihnachtsabend bringt er allen auf der Welt die Geschenke.“ „Ich weiß nicht, wer das sein soll“, erwiderte der Igel. Die beiden Katzen erschraken. Da reisten sie in den Norden und die, die angeblich dort lebten, kannten nicht einmal den Weihnachtsmann?

Doch da kam ihnen das Wiesel zu Hilfe. „Du hast als Kind schon von ihm gehört, aber bei uns heißt er Väterchen Frost“, warf es ein. Seine Worte beschwichtigten die Katzen, vielleicht war das nur ein anderer Name für den Weihnachtsmann. Gut kannten sie sich ja nicht gerade aus in der Welt. „Väterchen Frost…“, die Stimme des Igels nahm einen träumerisch-schwärmenden Tonfall an, „natürlich. Aber der kommt in Russland erst am Neujahrsabend. Er trägt einen eisblauen Mantel, der über und über mit silbernen Schneeflocken bestickt ist. Und er reist in der Troika, das ist ein Schellenschlitten mit Rentieren davor, nicht wahr, und er hat –“ Trotzki atmete hörbar aus. „Ich wusste nicht, dass du viel auf diese alten Märchen gibst?“ „Sie sind doch schön, oder etwa nicht?“ – „Seltsam, wie groß die Illusion ist, dass Schönes auch gut ist.“

Mika wurde langsam schwindelig. Sie war das Geschaukel des Zugs nicht gewöhnt und dann auch noch diese philosophische Ping Pong, das war zu viel für sie. Kevin schien es ähnlich zu gehen, denn er drehte seine kleinen Däumchen ineinander und hatte schon seit einer Weile nichts mehr gesagt. „Tut mir leid“, meldete sich die kleine Katze zu Wort und die Debattierenden verstummten, „aber könnten wir unser Gespräche etwas später weiterführen? Ich habe schreckliche Kopfschmerzen und muss dringend ein wenig ausruhen.“ Der Igel entschuldigte sich umständlich und wollte den beiden Katzen seinen Karton anbieten, doch Kevin bekniete sie, bei ihm oben auf dem Regal zwischen den Handtüchern zu schlafen – anscheinend fürchtete er sich immer noch vor den Kletterkünsten des Wiesels – und so rollten sich Nuka und Mika kurz darauf in luftiger Höhe zusammen, um nun das erste Mal seit ihrem Aufbruch in einen tiefen, erholsamen Schlaf zu fallen. Noch während sie einschlummerten, hörten sie die Diskussionen der anderen unter sich und durch die sonore, schwermütige Stimme des Igels glitten sie sanft ins Land der Träume.


11. Dezember

Wie lange sie geschlafen hatten, hätten die Katzen nicht zu sagen vermocht, als sie aus tiefem Schlummer erwachten. Ein wunderbarer Duft hing in der Luft und die Katzen schauten sich um, woher er wohl stammen mochte.

Unten war die Diskussion einem zufriedenen Schmatzen gewichen, denn Tolstoi und Trotzki hatten eine der Büchsen geöffnet und taten sich am darin enthaltenen Thunfisch gütlich. Das war also der köstliche Geruch, der sie aufgeweckt hatte! Nuka und Mika waren wie hypnotisiert. Kevin konnte ihnen nur hastig hinterhertrippeln, denn schon hatte sich der dicke Kater über die Dose gestürzt und auch Mika fiel es schwer, an sich zu halten. „Ich muss mich für meinen Bruder entschuldigen“, maunzte sie, „aber er ist unverbesserlich.“ „Das macht doch nichts“, lächelte Tolstoi, „wie sagt mein Kumpel Fjodor immer: die Armut ist immer aufdringlich. Das Stöhnen der Hungrigen stört die Satten im Schlafe.“ „Glaub’ mir, der da ist weder arm noch hungrig“, murrte Mika, „der ist einfach nur verfressen.“ „Ha ha“, machte Nuka mit vollem Mund, „langsam wird es langweilig. Wie oft willst du das noch erwähnen?“ „Sooft, bis sich was ändert“, gab seine Schwester schnippisch zurück, „aber darauf kann ich wohl bis zum Sankt-Nimmerleinstag warten.“

Trotzki öffnete eine weitere Dose, die sich alle schmecken ließen. „Ich denke, wir werden bald in Sankt Petersburg sein“, sagte Tolstoi, als sie ihr Frühstück – ob es ein Frühstück war, konnten sie gar nicht mit Sicherheit sagen – beendet hatten. „Dann werden Trotzki und ich euch leider verlassen müssen.“

„Was ist eigentlich mit dir, Kevin?“, wandte sich Mika an den Lemming. „Willst du auch mit nach Russland?“ Zuerst kam keine Antwort, denn Kevin hatte gerade einen großen Happen Haferflocken im Mäulchen und mümmelte eifrig, um schnell antworten zu können. „Ich –“, begann er mit vollem Mund zu antworten, „ich möchte noch weiterfahren.“ „Wo willst du denn hin?“, fragte Nuka. „Ich weiß noch nicht, erstmal nur weg. Einfach mal raus, was anderes machen.“ „Er ist auf einem Selbstfindungstrip“, grinste Trotzki, „er meinte, er hätte Burnout.“ „Das ist kein Witz!“, empörte sich der Lemming. „Es hat ja auch keiner gelacht.“ „Ja, aber du hast es mit lächerlicher Stimme gesagt!“ „Aber, aber, moj dorogoj“, mischte sich der alte Igel ein, „niemand hat die Absicht, sich über dich lustig zu machen.“

Einige Stunden später hörten sie, wie die Lautsprecherstimme als nächsten Halt „Sankt Petersburg“ ankündigte. Nun folgte eine umständliche Abschiedsszene mit vielen geschwollenen Zuneigungsbekundungen von Tolstoi, während Trotzki sich mit einem lässigen Schlag auf die Schulter von den Katzen verabschiedete. „Und falls du es dir anders überlegst, wir brauchen immer eifrige Revolutionäre“, warf er Kevin über die Schulter hinweg zu. „Danke, nein“, murrte der zu sich selbst, „ich würde gern noch ein Weilchen leben.“

Die Fahrt ging weiter. Stundenlang verbrachten die Katzen im angenehmen Dämmerschlaf, während Kevin ihnen abwechselnd den Rücken massierte. Jetzt, da die beiden anderen ausgestiegen waren, kam er richtig aus sich heraus und hörte gar nicht mehr auf zu plappern. Sie erfuhren, dass er als Masseur in der Schweiz arbeitete, wo er sehr gefragt bei allen möglichen Tieren der Berglandschaften war. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie verspannt so eine Gemse ist, wenn sie den ganzen Tag einen steilen Hang herabgelaufen ist“, krähte er, als er gerade mit kleinen Trippelschritten auf Nukas Rücken herumlief und das Schnurren des Katers fast seine feine Lispelstimme übertönte. „Mannomann, da hat man ganz schön was zu tun. Aber irgendwann konnte ich nicht mehr, es ging einfach nicht. Die Erkenntnis kam, als ich Manfred, das ist ein Murmeltier nur drei Höhlen weiter, den Nacken massiert habe. Der hat die lauteste Stimme der Nachbarschaft, aber vom ganzen Rufen in der Paarungszeit zieht sich bei dem alles fest. Naja, und von dem Geschrei bin ich auch ständig wach geworden, war also sowieso ein bisschen dünnhäutig unterwegs, da habe ich gesagt, weißt du was Manni, dein Nacken muss warten, ich muss hier raus. Und dann bin ich zwei Tage ins Tal gewandert und habe mich in den erstbesten Zug gesetzt. Meine Näni hat zwar gesagt, ich hätte übertrieben, aber ich bin einfach ein leidenschaftlicher, impulsiver Typ. Also bin ich jetzt unterwegs, wie in Blatt im Wind, lasse mich treiben. Lasse den Tag an mir vorüber –“

Plötzlich unterbrach er sich selbst. „Wir … halten?!“ Tatsächlich, der Zug verlangsamte seine Fahrt, die Fahrtgeräusche wurden leiser, immer leiser, bis mit einem langen Quietschen die Lok endgültig zum Stehen kam. „Warum halten wir?“, fragte Mika in die Stille hinein. „Es wurde gar keine Haltestelle angesagt.“ Wie als würde sie auf die Frage reagieren, meldete sich die Blech-Else aus den Lautsprechern. „Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund wettertechnischer Probleme muss dieser Zug auf unbestimmte Zeit einen außerplanmäßigen Halt einlegen. Wir bitten Sie, dies zu entschuldigen.“ Nuka blickte seine Schwester erschrocken an. „Was machen wir denn jetzt? Wir verpassen noch den Anschlusszug!“ „Macht euch mal keine Sorgen“, versuchte Kevin die beiden Katzen zu beschwichtigen, „das kommt öfter mal vor. Wir fahren bestimmt gleich weiter.“

Doch dem war nicht so. Der Zug blieb stehen und die Stunden vergingen. Zuerst hatten die Katzen sich wieder zusammengerollt, jedoch war seit dem Halt so viel Zeit verstrichen, dass sie nicht mehr ruhig bleiben konnten. Nervös tigerten sie im Abteil hin und her. Was sollten sie bloß tun? Was, wenn ihr Zug weg war? Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit ihren unbeantworteten Fragen im Kopf weiter darauf zu warten, dass sich das Schicksal ihrer annehmen und den Zug in Bewegung setzen würde.

Stunden später, als die drei Bewohner des Wandschranks schon wieder eingenickt waren, weckte sie die Lautsprecherstimme. Mit Freude bemerkten sie, dass der Zug auch wieder langsam anrollte. „Sehr geehrte Fahrgäste! Das Wetter hat sich inzwischen beruhigt, die Fahrt kann fortgesetzt werden. Leider müssen wir Ihnen jedoch mitteilen, dass bei der Beseitigung der Schneewehen ein Schaden am Fahrwerk festgestellt wurde, weshalb wir Sie bitten müssen, am nächsten Bahnhof in einen anderen Zug umzusteigen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.“ „Wie bitte?“, empörte sich Nuka, „sie bedanken sich für unser Verständnis? Ich verstehe aber überhaupt nichts! Das kann doch nicht wahr sein!“ Mika kicherte. „Du klingst schon wie Lotta und Georg, wenn die sich über die Bahn aufregen.“ „Nachvollziehbar“, murrte der kleine Kater, „jetzt müssen wir auch noch umsteigen. Damit wir überhaupt noch beim Weihnachtsmann ankommen, dafür müsste inzwischen schon ein kleines Wunder passieren.“

Als die Lok kurze Zeit später erneut hielt, ergriff Kevin mit seinen kleinen Pfötchen Mikas Tatze. „Meine Lieben“, sagte er an die Geschwister gewandt, „ich werde hier bleiben.“ „Bist du dir sicher?“ „Ja, ich bin mir sicher. Hier habe ich alles, was ich zum Überleben brauche und einen ungestörten Schlafplatz noch dazu. Ich hoffe, ihr findet euren Weihnachtsmann.“ Er umarmte sie zum Abschied und die beiden Katzen schlichen sich aus dem Wandschrank, hinaus in den zugigen Gang.

Dort herrschte eine allgemeine Aufbruchsstimmung, Menschen in dicken Wintermänteln schleppten ihre Koffer durch die Gegend; Kinder, die offensichtlich gerade unsanft aus dem Schlaf gerissen worden waren, weinten und weigerten sich, den warmen Zug zu verlassen. Nuka und Mika nutzten den Tumult, um sich unbemerkt über die eisernen Trittstufen aus dem Waggon zu schleichen. „Hoffentlich sieht der böse Mann uns nicht“, flüsterte Mika ihrem Bruder zu. „Ach, hier sind so viele Leute…“, wisperte Nuka zurück.

Auf dem Bahnsteig war es eiskalt. Ein kalter Wind fegte durch den kleinen Bahnhof und hätten sie ihr dickes Fell nicht gehabt, wären die Katzen direkt zur Salzsäule erstarrt. „Komm, folgen wir den anderen“, sagte Nuka und wies mit dem Kopf auf einen Mann mit einem großen braunen Koffer, der mit ihnen ausgestiegen war. Unauffällig schlichen sie ihm hinterher. Den Bahnsteig entlang, eine Treppe hinunter, einen langen, gefliesten Gang entlang, eine Treppe hinauf, einen weiteren Bahnsteig entlang und – in ein Bahnhofscafé hinein. Entsetzt beobachtete Mika, wie der Mann sich hinsetzte und etwas bestellte. „Was nun?“, maunzte sie verzweifelt, „er muss uns doch den Weg zu unserem Anschlusszug zeigen!“ Doch als sie sich umwandte, war ihr Bruder nicht mehr hinter ihr.


12. Dezember

Was war passiert? Wohin war der kleine Kater schon wieder verschwunden? Man mochte meinen, er habe sich erneut von einem Bratwurststand oder einer köstlich duftenden Bäckerei locken lassen, doch zu seiner Verteidigung sei gesagt, das war diesmal nicht der Fall. Etwas hatte ihn gelockt, ja, soviel stimmte, aber es war kein Ort der kulinarischen Verführung. Während Mika sich konzentriert an die Fersen ihres Mitfahrers geheftet hatte, waren Nukas Augen auf Wanderschaft gegangen.

Abseits der Bahnsteigkante begann der Wald und hatte den kleinen Kater sofort in seinen Bann gezogen. Im Wandschrank hatte es ja nicht viel zu sehen gegeben. Hier aber lagen so tiefe Flecken Dunkelheit zwischen den Bäumen, dass man sich mit ein bisschen Fantasie die verrücktesten Wesen einbilden konnte, die zwischen den dicht stehenden Bäumen umher huschten. Und als Nuka gerade überlegte, ob es den anderen Leuten auch so ging, tauchte wirklich eine Gestalt hinter dem Stamm einer Fichte auf. Sie war groß, größer als jeder Mensch, den Nuka je gesehen hatte. Es war ein alter Mann mit langem weißem Bart und buschigen Augenbrauen. Er trug eine Kappe mit einer dicken weißen Pelzborte, warme Handschuhe und klobige, mit Fellstreifen umwickelte Schneestiefel. Doch was Nuka den Atem stocken ließ, war sein eisblauer Mantel, der kunstvoll mit Schneeflocken bestickt war. So stapfte er durch den Schnee, in der einen Hand einen langen, gedrehten Stab, der wie ein Eiszapfen schimmerte. Ohne lange nachzudenken, schoss Nuka los. Das hier war wichtiger als jeder Zug! Es bestand gar kein Zweifel, das war Väterchen Frost – Tolstoi hatte ihn genau beschrieben! Im gestreckten Galopp rannte Nuka über den Bahnsteig, sprang in einem großen Satz über die Schienen und landete mitten in einer Schneewehe. War das kalt! Prustend tauchte er wieder auf und jagte weiter, dem Mann hinterher, der immer weiter in den Wald hinein schritt. Doch ihn einzuholen, das musste Nuka erkennen, war schwerer als gedacht. Der Schnee war tief und locker, der Kater sank immer wieder bis zum Bauch ein und musste sich mühsam frei strampeln. Immer weiter entfernte er sich in seiner Verfolgungsjagd, sodass die Geräusche des Bahnhof immer leiser wurden und schließlich gänzlich verklangen.

„Hey, warte!“, schrie da auf einmal eine Stimme hinter ihm. Nuka drehte sich um. Mika war ihm gefolgt und kam durch die Schneeverwehungen noch langsamer voran als er. Die kleine graue Katze sah aus wie ein Schneemann, das kalte Weiß klebte in ihrem Fell und ihre finstere Miene machte das ganze Bild auch nicht besser. Zwei Sprünge, dann hatte das zerzauste Wesen den Bruder eingeholt und baute sich vor ihm auf. „Warum in aller Welt wartest du nicht auf mich?! Das kann doch nicht wahr sein!“ „Aber das ist Väterchen Frost!“, versuchte Nuka zu erklären. „Wenn wir ihn erreichen, kann er uns bestimmt helfen und wir können wieder nach Hause!“ Er wies mit der Pfote in die Richtung, in die er unterwegs gewesen war und blickte seine Schwester beschwichtigend an. „Bitte sei nicht sauer, aber ich musste ihm hinterher!“ „Wem hinterher?“, fragte Mika. Der kleine Kater drehte sich um. Er konnte es nicht fassen: der alte Mann war verschwunden.

Das Schicksal hätte nicht ungerechter zu den beiden Katzen sein können. Nicht nur, dass sich Väterchen Frost vor ihrer Nase in Luft aufgelöst hatte, der Rückweg zum Bahnhof hatte es ihm gleichgetan und war ebenso verschwunden. Zur Krönung des Ganzen hatte es auch noch zu schneien begonnen. Dichte Flocken erschwerten ihnen die Sicht, während sie in die Richtung schlurften, in der sie den Bahnhof vermuteten. Aber nicht ein Geräusch war zu vernehmen, kein Pfeifen eines abfahrenden Zuges, keine Menschenstimmen, kein Rattern einer Lok.

„Meine Pfoten sind eingefroren“, jammerte Mika, „ich glaube, sie fallen mir gleich ab.“ „Bleib mal stehen“, gab ihr Bruder zurück und als sie ihm ihre klammen Füßchen präsentierte, pustete er darauf, um sie wieder aufzuwärmen. „Geht es wieder?“, fragte er besorgt. Doch die kleine Katze antwortete nicht. Sie blickte sich um und ein Ausdruck echter Verzweiflung legte sich in ihren Blick. „Nuka“, flüsterte sie, „was machen wir denn nur?“ „Durchhalten“, maunzte der kleine Kater, „durchhalten.“ So gingen sie weiter, ohne ein Wort zu sagen. Mika fror zu sehr, um ihrem Bruder ernsthafte Vorwürfe wegen seines Alleingangs zu machen, was hätte es auch genützt.

Da schimmerte zwischen den Bäumen ein Licht, warm und verlockend. Sofort wurden die Katzen schneller, schon rannten sie auf den goldenen Schein zu, der immer größer wurde. Endlich konnten sie erkennen, woher das Licht kam: es schien hinter den hölzernen Fensterkreuzen einer kleinen, einstöckigen Blockhütte hervor, aus deren Schornstein warmer Rauch dampfte – es war also jemand zu Hause!

Aber es war keine normale Hütte, soviel war sicher. Sie stand nämlich nicht fest auf ihrem Fundament, sondern auf zwei knochigen, gelben Hühnerbeinen.


13. Dezember

„Ich denke, es ist niemand zu Hause“, wisperte Mika. Die Geschwister hatten die merkwürdige Hütte nun mehrere Male umrundet und die kleine Katze hatte es gewagt, auf ein Fensterbrett zu springen. Als sie durch die schmutzigen Scheiben blinzelte, wurde sie einer gemütlich eingerichteten Stube gewahr, die durch den Schein eines prasselnden Kaminfeuers erleuchtet wurde. Die Wände waren mit Bücherregalen verkleidet, in denen neben dicken Wälzern die verschiedensten Modellfiguren standen. In der Mitte des Raumes stand ein zerknautschtes Sofa mit einer Vielzahl an farbigen Kissen und einigen Kuscheltieren darauf, sogar ein geschmückter Tannenbaum passte noch in das winzige Zimmer. Bewohner konnte Mika weder sehen, hören, noch riechen – es umgab sie nur die Stille des Waldes, dessen Wipfel im Winterwind rauschten und den Dachstuhl der Blockhütte leise knarren ließ.

Mit einem knirschenden Geräusch ließ sie sich von der Fensterbank herab auf den Boden neben ihren Bruder fallen. „Denkst du, wir können da einfach so hinein?“, fragte sie ihn. Der antwortete zunächst nicht, sondern hielt ihr die Unterseite seiner Vorderpfote unter die Nase. Die Ballen seines Fußes, welche normalerweise eine zartrosa Farbe aufwiesen, waren beinahe blau gefroren. „Scheint so, als hätten wir keine andere Wahl“, sagte er tonlos, „wir erfrieren sonst hier draußen.“ „Gut“ – seine Schwester nickte entschlossen, „dann gehen wir’s an.“

In die Hütte zu gelangen, erwies sich leichter als gedacht. Zunächst hatten die beiden Katzen vor der massiven Eingangstür gerätselt, wie sie die Klinke erreichen sollten, die unerreichbar hoch über ihren Köpfen hing. Doch zu ihrem Erstaunen war die Tür nur angelehnt, sie ließ sich einfach aufschieben. Vorsichtig tapsten sie auf leisen Pfoten hinein – Nuka vorneweg, Mika hinterher. Ach, war die Wärme eine Wohltat! Knarrend zog sich die schwere Haustür hinter ihnen zu und der kalte Wind musste draußen bleiben. „Hier riecht es gut“, murmelte Mika, während sie den Flur entlang schlichen. „Ja“, stimmte Nuka zu, „es riecht … nach frischen Plätzchen.“ Schon standen sie in der guten Stube. Alles war genauso, wie es Mika von außen gesehen hatte. Aber durch die Hitze, die das Kaminfeuer in den kleinen Raum strahlte, überkam die beiden Katzen mit einem Mal eine fürchterliche Müdigkeit.

Wer jetzt denkt, meine Güte, was sind diese Tiere doch unbelastbar, dem sei gesagt, dass Katzen ihre Tage meistens schlafend verbringen. Man könnte sie beinahe mit Koalas oder Faultieren vergleichen. Besonders Hauskatzen sind von einer ausgesuchten Trägheit und wenn sie nicht gerade die Tapete mit ihren Krallen bearbeiten oder versuchen, Essen aus der Küche zu stehlen, trifft man sie meistens schnarchend in irgendeinem Karton an. Nun, diese beiden Exemplare waren auch Hauskatzen, gewöhnt an Tage, die frei von aufregenden Zugfahrten und langen Schneewanderungen ins Land gingen. Und da sie nun auch noch in einem gemütlichen Wohnzimmer standen, mit einem bollerndem Ofen nahebei, brachen sie kurzerhand ihre weitere Erkundungstour durch die Hütte ab und rollten sich unter dem Sofa zusammen.

Einige Zeit später wurde Nuka durch ein Geräusch geweckt. Klick … klack … Es war kein lautes Geräusch, kaum eine Katze hätte es wahrgenommen und ein Mensch erst recht nicht. Es war ein rhythmisches, metallisches Klicken – regelmäßig, wie ein Herzschlag. Klick … klack … Was konnte das sein, eine Uhr vielleicht? Der kleine Kater blickte sich im Raum um. Nein, eine Uhr war hier nicht zu sehen. Das Geräusch kam vom Regal, soviel war sicher. Da seine Schwester noch schlief, beschloss er, der Sache allein auf den Grund zu gehen. Er blieb ja in der Nähe, da konnte sie ihm nicht wieder vorwerfen, er würde Alleingänge machen! Zunächst würde er auf die Sofalehne springen, um von dort eine bessere Sicht auf die Regale zu haben. In der Tat, nun konnte er sich die verschiedenen Figuren genauer ansehen, die da auf den Brettern standen. Einige trugen Uniformen oder Arbeitskleidung, dazu unterschiedliche Gegenstände und Gerätschaften: es gab Polizisten, Feuerwehrmänner, Soldaten, Handwerker, Bauarbeiter und Verkäufer. Manche waren etwas kleiner als andere, beispielsweise gab es eine ganze Horde von winzigen Zimmerleuten in schwarzer Kluft, von denen die einen große Holzbalken über der Schulter trugen, die anderen Säge und Werkzeug in der Hand. Dann gab es Figuren aus Porzellan, Frauen in wunderschönen Kleidern, Ballerinen, Schäferinnen, aber auch prachtvolle Vögel und Fantasiewesen. Ganz hinten standen mächtige geschnitzte Zwerge, die nicht bemalt worden waren und zwischen den bunten Gesellen mit ihren braunen Gesichtern grimmig dreinblickten.

Klick … klack … klick … klack … Doch woher kam dieses Geräusch? Es musste von diesen Figuren stammen, daran bestand kein Zweifel, er konnte ja sogar sehen, dass das Regalbrett bei jedem Klack leicht vibrierte. Da nahm er plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und fuhr erschrocken herum. Einer der dicken, braunen Teddys, die auf der Sofalehne hockten, wackelte mit den Beinen.


14. Dezember

Wie angewurzelt stand Nuka da und starrte den Bären an, der unbeirrt fortfuhr, seine Beine von der Sofalehne herabbaumeln zu lassen. Dann löste der Kater sich endlich aus der Starre. „Mika!“, wisperte er, „wach auf!“ „Was ist denn?“, murrte es unter dem Sofa hervor. „Ich will doch nur noch ein bisschen schlafen …“ „Das geht jetzt nicht!“, versuchte Nuka so laut wie möglich zu flüstern, „hier ist was … Komisches, ich kann es jetzt nicht erklären! Du musst herkommen!“ Er sah, wie seine Schwester unter dem Sofa hervorkroch und sich auf dem Teppich lang ausstreckte, um ihren Rücken zu dehnen. „Keine Zeit für Katzenyoga! Ich brauch‘ dich hier oben“, zischte er. Mit einem eleganten Sprung landete seine Schwester neben ihm. „Geduld, Geduld“, gähnte sie, „ich bin ja schon da. Du brauchst nicht gleich – aaah! Was ist das denn!“ Sie hatte den Teddy bemerkt und war vor Schreck einen halben Meter in die Luft gesprungen. „Ich hab‘ doch gesagt, hier ist was Komisches im Gange.“ „Ja, aber dass es total gruselig ist, hast du mal eben verschwiegen“, maunzte Mika und versuchte, soviel Abstand wie möglich zwischen sich und den belebten Bären zu bringen. Plötzlich zischte sie, vor Angst quiekend, quer über die Polster und verschwand unter dem Sofa. Der große dunkelgrüne Plüschdino, hinter dem sie sich eben verbergen wollte, hatte sich zu ihr umgedreht! Mit einem Schlag erwachten alle Kuscheltiere zum Leben. Sie reckten und streckten sich, schüttelten Arme und Beine aus, wackelten mit den Ohren und nickten mit den Köpfen. Nuka sträubten sich die Nackenhaare und auf seinem Rücken formte sich eine voluminöse Pelzbürste. Was war das für ein Zauber? Die Tiere erhoben sich, manche klopften ihre eigene Füllung zurecht, die sich anscheinend durch das lange Sitzen etwas verformt hatte, andere halfen sich gegenseitig beim Aufstehen, wenn die Gelenke steif geworden waren. Ein hellbrauner Teddy, der ein großes Plüschherz mit der Aufschrift „Du bist supi“ in den Händen trug, blickte Nuka trübsinnig an. „Es ist doch alles eine riesengroße Ungerechtigkeit in der Welt.“ Dem kleinen Kater blieb schlicht die Spucke weg. Jetzt konnten diese Viecher auch noch reden? Der Andere fuhr fort, während er mühevoll, da ihn das riesige Herz beim Laufen behinderte, über die Polster schritt. „Sie sagen, auf den Geist muss man schauen. Denn was nützt ein schöner Körper, wenn in ihm nicht eine schöne Seele wohnt. Sowas sagen sie einem. Aber dann schau mich an. Denkst du, irgendeiner interessiert sich für die schöne Seele eines Bären, der dieses kitschige Teil in den Pfoten hält? „Du bist supi“ – warum nicht gleich „Der Besitzer dieses Teddys hat keinen Geschmack“ oder „Ich kann dich eigentlich nicht leiden, deshalb schenke ich dir diesen Mist“? Ich kann nicht mal richtig laufen, geschweige denn, meine Pfoten benutzen! Warum muss ich das überhaupt halten? Das Leben ist schrecklich. Ich wünschte, es würde sich lohnen, sich von der Couch zu stürzen, aber ich falle ja immer auf dieses dämliche Ding! Ach, welch ein Künstler geht mit mir zugrunde!“ Mit einem entkräfteten Seufzer ließ er sich in eine Ecke plumpsen und starrte das verhasste Objekt in seinen Pfoten an.

Nuka blinzelte. Das war doch alles ein Traum. Das musste ein Traum sein! Kein Zweifel, er lag bestimmt gerade eingerollt unter dem Sofa und das alles spielte sich in seinem Kopf ab. Aber warum wirkte es so echt? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Der kleine Kater ließ sich auf den Hinter plumpsen, packte sein Schwänzchen mit der Pfote und biss kräftig hinein. Aua! Offenbar war es doch kein Traum, er war hellwach. Nun musste er sich wieder der Kuscheltier-erfüllten Realität widmen und zu allem Übel tat ihm auch noch die Schwanzspitze weh.

„Mika“, rief er, „komm wieder her!“ „Auf gar keinen Fall“, hörte er die gedämpfte Stimme seiner Schwester. „Das ist das Schlimmste, was mir je passiert ist! Ich kann Dinge nicht leiden, die sich bewegen, obwohl sie sich eigentlich nicht bewegen dürfen!“ „Ich doch auch nicht, aber –“ „Gib’s auf, ich werde garantiert nicht zurückkommen! Das ist mein letztes Wort.“  „Na“, sagte da ein dicker Eisbär mit Bassstimme, der vor Nuka stehengeblieben war, „Frauenprobleme?“ „Nicht wirklich“, stammelte Nuka, der sich einfach nicht daran gewöhnen konnte, dass die Plüschtiere sich bewegen und verständigen konnten. „Das unter dem Sofa ist meine Schwester. Sie hat … ein bisschen Angst.“ „Angst?“, dröhnte der Bär, „vor uns?“ Sein schallendes Gelächter hallte durch den Raum. „Hey Leute“, brüllte er, „habt ihr gehört? Jemand hat vor uns Angst! Sowas soll’s geben?!“ Die anderen Kuscheltiere waren stehengeblieben und krümmten sich vor Lachen. „Wir…“, quiekte ein flauschiger Golden Retriever, „wir sollen … angsteinflößend sein?“ „Also wirklich“, japste der Eisbär, nachdem er sich einigermaßen gesammelt hatte, „das hat noch niemand zu uns gesagt. Aber nun lasst uns zu den ernsten Themen kommen, Leute.“ Die Plüschtiere hatten sich wieder beruhigt und bildeten einen Kreis um den kleinen Kater, der sich, so weit es ging, in die Sofalehne drückte. Wenn er einen beherzten Sprung machte, konnte er es außer Reichweite der Teddyarme schaffen, aber wie stark waren diese Kreaturen? Konnten sie ihn festhalten?

„Was wollt ihr hier?“, richtete der Eisbär das Wort an Nuka und blickte ihn mit gerunzelter Stirn an. „Wir wollten uns nur ein bisschen aufwärmen“, antwortete Nuka zögerlich, „es war nicht unsere Absicht, irgendjemanden zu stören oder zu wecken.“ „Ihr habt uns nicht geweckt“, gab der Bär zurück, „dafür seid ihr nicht verantwortlich. Aber du verstehst mich falsch. Von mir aus könnt ihr euch hier aufwärmen, solange ihr wollt. Leider ist das aber nicht mein Haus. Es gehört –“ Er unterbrach sich und blickte zum Regal, auf dem plötzlich eine nach der anderen die Figuren zum Leben erwachten. Die Schäferinnen gähnten, Soldaten salutierten, Zimmerleute schulterten ihre Balken, Ballerinen schnürten ihre Schuhe, Polizisten strichen ihre Schnurrbärte zurecht und die Holzzwerge rieben sich den Schlaf aus den Augen. „Ihr beiden müsst jetzt unbedingt gehen“, sagte er mit einer Stimme, in der keine Spur von Freude mehr lag. „Die Hexe kommt nach Hause.“


15. Dezember

„Was soll das heißen?“, fragte Nuka erschrocken, während er das Erwachen ringsum beobachtete. „Das heißt“, gab der Eisbär zurück, „dass ich mich an eurer Stelle schnell aus dem Staub machen würde.“ Der kleine Kater zögerte nicht lange, mit einem Satz sprang er vom Sofa herunter und kroch zu seiner Schwester. „Wir müssen gehen“, flüsterte er ihr zu.

Da ließ ein leises Knarren sie aufhorchen. Die Haustür hatte sich geöffnet und fiel nach einigen Sekunden knarzend wieder ins Schloss. „Vielleicht bemerkt sie uns ja gar nicht“, wisperte Mika. Vorsichtig hockte sich Nuka neben sie und die beiden Katzen warteten. Durch den Spalt zwischen Polster und Fußboden konnten sie alles beobachten, was im Raum vor sich ging.

Da sahen sie, wie etwas auf vier schwarzen Pfoten in den Raum geschlendert kam. Und da hörten sie auch eine Stimme, hell und schneidend wie Glas: „Ach, ist das schön, endlich wieder zu Hause zu sein!“ „Willkommen zurück“, hörten die Katzen den Eisbären in unterwürfigem Ton sagen. „Es ist alles vorbereitet.“ „Ich sehe schon“, fuhr die fremde Stimme fort und begann, durch die Stube zu wandern. „Nun fehlen nur noch…“ – die Pfoten blieben vor dem Sofa stehen; plötzlich senkte sich der schwarze Schatten herab und sah die beiden Katzen aus hellgelben Augen forsch an – „diese beiden.“

Verschüchtert mussten die beiden Katzen unter dem Sofa hervorkriechen und jetzt sahen sie auch in Gänze, wer da eingetreten war. Vor ihnen stand eine schlanke, pechschwarze Katze mit glattem Fell. Sie sah sehr elegant aus, doch wenn man in ihre Augen sah, glühte darin das Feuer des Wahnsinns. „Wunderbar“, maunzte sie, „einfach wunderbar.“ Nuka und Mika blickten sich an, während die schwarze Katze sie langsam umkreiste. „Wer…“, fragte der kleine Kater zögerlich, „wer bist du?“

Sie antwortete zunächst nicht, sondern blieb stehen und blickte ihn lange an. Nuka hatte das Gefühl, sie könnte direkt in ihn hineinsehen. Dann kam sie ihm auf einmal ganz nah, sodass sich ihre Nasen fast berührten. Er konnte so tief in ihre Augen sehen, dass ihm beinahe schwindlig wurde.

„Aber erkennst du mich denn nicht?“, hörte er auf einmal ihre Stimme. „Mein geliebter … Antonio?“ Und vor seiner Nase färbten sich ihre Augen hellblau und ihr Fell wurde nach und nach strahlend weiß. „Helena?“, piepste Mika fassungslos, „Was passiert hier?“ „Mein geliebter Antonio!“, wiederholte Helena und schmiegte sich heftig an Nuka. „Ich dachte, du hättest mich für immer verlassen! Aber jetzt bist du endlich zu mir zurückgekehrt.“

Doch der kleine Kater wich von ihr zurück. „Du bist nicht Helena“, stammelte er, „wer oder was bist du?“ Die weiße Katze runzelte die Stirn. „Dummerchen, schau doch hin: ich bin Helena, deine Verlobte! Wir werden für immer zusammen sein, eine Familie gründen, uns lieben, für immer, für immer!“ „Du lügst!“, rief Mika plötzlich, „du bist eine Hexe!“ Die weiße Katze fuhr herum. „So sieht also in deinen Augen eine Hexe aus, ja?“, zischte sie. „Oder sieht sie nicht viel mehr … so aus?!“

Und mit einem Mal wuchs sie, wuchs ungemein groß, ihr kleines Katzengesicht wandelte sich zu dem einer alten Frau mit Hakennase und buschigen Augenbrauen, graue, strähnige Haare fielen lang über ihren krummen Rücken und da stand sie vor den Katzen: eine Hexe, wie man sie sich als Kind in den schlimmsten Träumen nicht grauenvoller hätte ausmalen können. Auch das Wohnzimmer veränderte sich. Ein Wind hauchte das Feuer aus, es wurde eiskalt, die Tapete schälte sich von der Wand, die Gardinen zerfielen zu Staub und das Sofa verwandelte sich in eine harte Pritsche. Die vielen Modellfiguren zitterten in den Regalen und die Kuscheltiere hatten sich unter die Bank geflüchtet.

Nuka und Mika waren nicht so naiv, auch noch eine Sekunde länger in dieser gruseligen Hütte auszuharren. Ohne lange zu überlegen, zischten sie durch die Beine der Hexe und durch den Flur in Richtung Haustür. Hinter ihnen tobte die wütende Stimme der Alten, die auf eine unglaubliche Lautstärke angeschwollen war. „Bleibt stehen!“, schrie sie, „ihr entkommt mir sowieso nicht!“

Tatsächlich, als sie auf die Haustür zustürmten, war diese fest verschlossen. „Nein!“, schrie Mika verzweifelt, „was machen wir denn jetzt?“ „In die Küche“, schnappte Nuka atemlos und die beiden Katzen hetzten durch den Flur zurück in den Raum, aus dem der Duft nach Plätzchen gekommen war. Doch auch die Küche hatte sich verändert. Sie war nicht mehr hell und freundlich, sondern finster und rußig und auf dem Herd blubberte ein Topf mit Unaussprechlichem darin. Die Geschwister blickten sich an und nickten sich zu. Durch das Fenster, das war der einzige Weg.

In einem Regen von Glassplittern flogen die beiden Katzen in hohem Bogen in den Schnee. Doch sie hatten keine Zeit, um sich lange aufzurappeln und zu begutachten, ob sie eine Verletzung von ihrem Fall davongetragen hatten. Mit großen Sprüngen hetzten sie in den Wald hinein mit dem einzigen Wunsch, so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und das Hexenhaus zu bringen. Doch was war das? Die Hütte begann sich zu bewegen! Sie streckte sich aus, erhob sich vom Boden und ragte nun meterhoch in die Luft auf. Eines der Hühnerbeine machte einen großen Schritt nach vorn, das andere zog nach und donnernd versetzte sich das Haus um einige Meter. Verzweifelt kämpften Nuka und Mika sich voran, aber es war sicher, gleich würde die Hütte sie eingeholt haben. Es war nur eine Frage der Zeit.

Da rauschte es auf einmal hinter ihnen und etwas packte Nuka im Genick. Jetzt ist es vorbei, dachte der kleine Kater, jetzt hat sie uns. Doch er wurde in die Luft geschleudert und landete auf struppigem Fell. Sekunden später flog seine Schwester neben ihn und klammerte sich an ihm fest. Nun sahen sie, wo sie gelandet waren – sie saßen auf dem Rücken eines riesigen Wolfs, der im Slalom durch den Wald hetzte. Die beiden Katzen wandten sich um, wie weit ihre Verfolgerin noch von ihnen entfernt war, nur um zu sehen, wie die Hütte plötzlich mitten im Lauf innehielt. Sie war gegen eine unsichtbare Wand geprallt und konnte ihnen nicht weiter folgen!

Der Wolf verlangsamte seinen Schritt und ging nun langsam durch den knirschenden Schnee. „Danke“, wagte sich Nuka zu sagen, „du hast uns wahrscheinlich das Leben gerettet.“ „Kein Problem“, antwortete der Wolf nonchalant, „aber würdet ihr mir vielleicht verraten, was ihr hier draußen zu suchen habt? Wir haben auf euch gewartet, die Vorstellungen gehen los und das Publikum ist auch schon ungeduldig!“ „Welches Publikum?“, fragte Mika erstaunt. „Also ehrlich“ – die Stimme des Wolfes klang aufrichtig verdutzt – „ihr seid doch die Zweitbesetzung, oder nicht?“ „Zweitbesetzung?“, wiederholte Nuka wie ein Papagei. „Wie auch immer, euch schickt der Himmel!“, überging der Andere seine Bemerkung. „Wir wussten schon nicht mehr weiter. Unser gestiefelter Kater ist vor ein paar Tagen desertiert und bei den Bremer Stadtmusikanten geht eine Grippe um, wie sollen die denn singen mit Halsschmerzen und Schnupfen? Aber jetzt seid ihr ja da. Ich bringe euch zurück zu den anderen. Rotkäppchen wird sich riesig freuen, wenn sie euch sieht.“


16. Dezember

Die beiden Katzen wagten nicht, darauf etwas zu erwidern. So glitten sie schweigend auf dem Rücken des Wolfes über den Schnee – den Kopf voller Fragen, aber kein Mut, um sie auszusprechen.

Einige Zeit später blinkten ihnen rote und weiße Lichter durch den Wald entgegen und sie erreichten die ersten Häuser. Es waren rustikale Fachwerkhäuser, die mit Lichterketten verziert worden waren und hinter den Fenstern leuchtete ein goldener Schein hervor. „Wir sind da“, sagte der Wolf und passierte einen niedrigen Zaun durch ein eisernes Tor. Mit den Katzen auf dem Rücken schritt er bis in die Mitte des kleinen Dorfes, bis auf einen Marktplatz, der vom schummrigen Licht einiger Laternen erleuchtet wurde. Strahlenförmig führten dunkle Gässchen zu ihm hin und fanden ihren Schnittpunkt in der Mitte des Platzes, in der ein tiefer, gemauerter Brunnen stand. Dort ließ er Nuka und Mika sanft von seinem Rücken absteigen. Die beiden Katzen blickten sich um. Hier und da sahen sie Gestalten durch die Straßen huschen.

Von einer Seite kam ein Hase geschritten, er trug einen weißen, gut geschnittenen Anzug und war in Begleitung eines Igels in derselben Kleidung, mit dem er heftig diskutierte. „Wenn du dich nicht mit ihr versöhnst, können wir unsere ganze Nummer vergessen!“, schnauzte er den anderen an. „Ich werde mich mit dieser Zicke nicht wieder vertragen, sie ist einfach total stur!“, gab der andere patzig zurück. Der Hase zuckte mit den Schultern. „Ganz ehrlich, deine Eheprobleme interessieren mich nicht. Wenn wir morgen unsere Vorstellung haben, sitzt deine Frau in der Ackerfurche, wo sie sitzen soll. Ansonsten werde ich mir neue Bühnenpartner suchen.“ Damit stürmte er davon. Der Igel seufzte. „Klar, kein Problem“, sagte er zu sich selbst, „da kann ich mich schon mal auf eine Predigt gefasst machen. Dann kommt sie mir wieder mit der Frauenquote, es ist ja heutzutage wohl möglich, dass eine Frau gegen den Hasen gewinnen kann, wir haben auch eine Vorbildfunktion … ach, was mach‘ ich denn nur?“ Verzweifelnd vor sich hinmurmelnd, tippelte er in eine Seitengasse.

„Wo sind wir hier?“, wandte sich Nuka an den Wolf. „Also, ihr habt echt keine Ahnung?“, grinste der. „Na gut, dann werde ich euch mal erleuchten.“ Er wies mit der Pranke auf die Häuser um sich. „Willkommen im nördlichsten Märchendorf der Welt!“ „Märchendorf?“, fragte Nuka. „Ja, Märchendorf. Viele Menschen genießen es, alte Märchen nacherzählt zu bekommen, am besten noch, wenn sie von Schauspielern dargestellt werden. Jedes Wochenende strömen tausende Besucher in unser Dorf, um uns spielen zu sehen. Und sie werden auch euch morgen spielen sehen! Ich bringe euch jetzt in eure Unterkunft, wenn es euch recht ist?“ „Ja, gern“, antworteten die beiden Katzen wie aus einem Mund, jedoch waren sie noch immer sehr verwirrt.

Sie wurden zu einem zweistöckigen Fachwerkhaus gebracht. „Hier werdet ihr einen Schlafplatz finden“, sagte der Wolf, „das ist das Haus der Bremer Stadtmusikanten. Sie werden euch alles weitere erzählen. Und dich“ – er nickte dem kleinen Kater zu – „hole ich morgen früh bei Sonnenaufgang ab und bringe dich in die Maske.“ Dann verabschiedete er sich und schlenderte in die Dunkelheit davon.

Die beiden Katzen blickten sich an. Es war besser, der Aufforderung des Wolfs zu folgen, schließlich hatte er sie gerettet. Und ein warmer, sicherer Schlafplatz für die Nacht konnte auch nicht schaden. Als sie eintraten, begrüßten sie ein Hahn und ein Esel, die mit dampfenden Krügen an einen Holztisch saßen. „Na hallo“, grölte der Esel und hob den Krug, „da kommt ja unsere Zweitbesetzung!“ „Dann… dann…“, stotterte der Hahn grinsend, „dann fä-fä-fällt unsere Auffü-fü-führung morgen nicht ins Wa-wa-wasser.“ „Aber gleich in doppelter Ausführung“, lachte der Erste und nahm einen tiefen Schluck, „die wollen wohl sicher gehen, dass wir morgen auch wirklich auftreten.“ „Dann würde ich an eurer Stelle aber nicht so tief ins Glas gucken“, meldete sich eine Stimme aus dem hinteren Teil der Stube, der im Dunkel lag. Aus dem Schatten trat ein schlanker Hund hervor, mit hellbraunem Fell und spitzen Ohren. Ein Hund! Nuka nahm sofort eine lauernde Haltung ein, sein Schwanz wurde buschig und er begann, leise zu knurren. „Wa-wa-was ist das denn?“, krähte der Hahn, „da ist wo-wo-wohl einer nicht so-so-so gut auf Hu-hu-hunde zu sprechen, was?“ „Ihr müsst meinen Bruder entschuldigen“, erwiderte Mika versöhnlich, „er ist kein großer Hundefreund.“ „Und das ist noch nett ausgedrückt“, fauchte der kleine Kater. Mika stieß ihn unsanft in die Seite. „Ich glaube, du gehst schon mal ins Bett“, zischte sie, „ich komme dann nach.“ „Treppe hoch, erste Tür links“, sagte der Hund grinsend und machte Nuka Platz, der so aufgeplustert war, dass er fast nicht an ihm vorbei passte.

Mika schob sich auf die Bank und der Esel bot ihr mit einer Geste einen Becher von dem Getränk an, den sie dankend ablehnte. Der Hund setzte sich zu ihnen an den Tisch. Schnell hatte man sich miteinander bekannt gemacht. Ihre neuen Mitbewohner waren allesamt Gelegenheitsschauspieler, die sich mit ihrer Rolle als Märchendarsteller so über den Winter ein warmes Dach über dem Kopf und Verpflegung sicherten. „Du kannst dir nicht vorstellen“, röhrte der Esel, „wie nutzlos ein Esel sein kann, der für das Reiten auf Jahrmärkten zu alt geworden ist. Mein Besitzer wollte mich zu Salami verarbeiten, kannst du dir das vorstellen?“ „Und i-i-ich“, krakeelte der Hahn dazwischen, „ich bin ein Ma-ma-mann und kann keine Ei-ei-eier legen. Pech, wenn das a-a-aber alle von dir erwar-war-warten.“ „Und du?“, wandte Mika sich an den Hund. „Ich spreche nicht darüber“, gab der zurück und lächelte ihr zu. „Mir gefällt es nicht, die Stimmung zu verderben.“ Die kleine Katze nickte. „So, Zweitbesetzung“, erhob der Hund das Wort an alle, „morgen kommt der Tag, an dem wir endlich zur Erstbesetzung aufsteigen können. Werden wir das schaffen?“ Hahn und Esel hoben ihre Becher und prosteten ihm zu, wobei sie einiges von der Flüssigkeit auf dem Tisch verspritzten. Der Hund blickte Mika mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck an. „Na, ob das was wird … wir warten mit angehaltenem Atem.“


17. Dezember

Am nächsten Morgen wurden sie früh aus dem Schlaf gerissen. Jemand schlug polternd gegen die Haustür und die Stimme des Wolfes tönte bis ins erste Stockwerk hinauf: „Los geht’s, gestiefelter Kater – es ist Showtime!“ Nuka blieb keine Zeit für ausgiebiges Stretching, geschweige denn für ein Frühstück. Als er auf die Straße trat, stand der Wolf lässig gegen die Hauswand gelehnt und grinste ihn an: „Na, ausgeschlafen?“ „Einigermaßen“, gähnte der kleine Kater, „aber du hättest uns ruhig sagen können, dass einer unserer Mitbewohner ein Hund ist.“ „Ach, du hast ein Problem mit Hunden? Na, dann mach dich auf einiges gefasst.“ Nach dieser viel (oder gerade wenig) sagenden Andeutung löste er sich aus seiner bequemen Haltung und schlenderte die Straße hinab. Nuka musste sich beeilen, um ihm zu folgen. Kurz darauf standen sie vor einer Scheune, deren Rolltor aufgeschoben war, wodurch man ins Innere blicken konnte. In dem weitläufigen, dunklen Raum standen zahlreiche Garderobenstangen, an denen die unterschiedlichsten Kostüme hingen. Anzüge, Kleider, Umhänge, Schaffellwesten, zerrissene Lumpen, sogar einen roten Königsmantel mit Hermelinpelz konnte man entdecken. An der Wand standen niedrige Regale voller Schuhe, Stiefel, Sandalen, Latschen und Holzpantinen. Auf langen Tischen in der Mitte der Halle befanden sich Perückenköpfe mit Hüten und Masken, daneben samtene Bezüge voller Schmuck und in Schalen und Körben andere Dekorationen wie Tücher, Blumen und Glitzersteine.

Aber noch viel erstaunlicher als diese Fülle verschiedener Kostüme waren die vielen Tiere, die hier herumliefen und sich vor Spiegeln zurecht machten! Jetzt verstand Nuka die merkwürdige Bemerkung des Wolfes: der Großteil von ihnen waren Hunde. Auch wenn es ihm schwerfiel, er musste sich beherrschen. Der Kater setzte ein Lächeln auf und nickte den anderen gezwungen zu, während er an ihnen vorbeischritt.

Da kam von der Seite eine Border-Collie-Hündin auf ihn zu und sprach ihn fröhlich an. Sie trug einen roten Umhang, unter dessen Kapuze sich deutlich ihre großen, spitzen Ohren abzeichneten und der hervorragend zu ihrem schwarz-weißen Fell passte. „Hallo, du musst die Zweitbesetzung sein, richtig?“ Dem kleinen Kater blieb keine Zeit um zu antworten, denn sie plapperte gleich weiter. „Ich bin Rotkäppchen, wie man sieht.“ Sie rückte mit den Pfoten ihren Umhang zurecht. „Also, ich kleide dich mal schnell ein – in Zukunft musst du das natürlich selbst machen – aber es muss heute schnell gehen. Du bist gleich dran.“

Und ehe Nuka sich versah, steckten seine Pfoten in klobigen Stiefeln, die ihm einige Nummern zu groß waren, um seinen Bauch war ein Plastikdegen gegürtet und auf seinem Kopf thronte ein übergroßer Hut mit einer mächtigen Straußenfeder, die ihm ständig an der Nase kitzelte. Aus dem Augenwinkel betrachtete er sich selbst im Spiegel und schaute schnell wieder weg. Wie albern er aussah! Er war doch ein Kater von Rang und Namen, eigentlich dürfte er sich das gar nicht gefallen lassen! Er mochte gar nicht daran denken, wie viel Zeit sie diese alberne Kostümparty hier kosten würde, die sie eigentlich für die Suche nach dem Weihnachtsmann benötigten!

Als er dermaßen kostümiert die Scheune verließ, bemerkte er seine Schwester, die verzweifelt versuchte, einen verkaterten Esel dazu zu bewegen, dass er stillstand und nicht beständig von einer Seite zur anderen wankte. „So wird die Pyramide niemals halten!“, rief sie gerade und Nuka konnte einen äußerst genervten Unterton wahrnehmen. Die anderen nahmen sich lieber in Acht, so, wie er Mika kannte, war das Maß gleich voll.

Doch er hatte keine Zeit, um den Fortgang dieser kleinen Tragödie zu verfolgen, denn er wurde von Rotkäppchen in den dunklen Raum hinter einer Bühne bugsiert. Dort warteten schon ein Bernhardiner im Zauberumhang und -hut, und eine Maus, die eine winzige Version dieser Verkleidung trug und zwischen den Beinen des großen Hundes hockte. Der Bernhardiner blickte Nuka aus seinen großen, melancholischen Augen an. „Du kennst das Prozedere?“, fragte er den Kater mit träger Stimme. „Nicht…wirklich?“, antwortete Nuka zögerlich, „wenn du mir kurz den Ablauf erklären könntest?“ „Also“, hob der Hund an, „wir spielen die Szene zwischen dem Zauberer und dem Kater. Ich gehe zuerst auf die Bühne, wedele ein wenig mit diesem Stab hier herum, das finden die Menschen immer sehr lustig, dann kommst du, bedrohst mich mit deinem Degen und dann wirft hinten die Technik eine Tüte Mehl auf die Bühne. Das gibt einen Haufen Staub und dann kommt Kurt hier“ – er wies auf die Maus – „auf die Bühne…“ „Und du tust bitte nur so, als würdest du mich fressen“, quiekte Kurt dazwischen, „nicht so wie dieses Monster, was meinen Vorgänger vor versammeltem Publikum angefressen hat! Die Kinder waren schockiert, geschweige denn, mein Kollege!“ Die Augen der Maus füllten sich mit Tränen. „Er hat sich nie ganz davon erholt…“, wisperte sie und legte ein winziges Pfötchen auf ihr Herz, „Guido, wo auch immer du gerade bist – du wurdest nicht vergessen.“ Mit einem bedeutungsschweren Kopfnicken saßen die beiden eine Weile schweigend da, bis Nuka sich bemüßigt fühlte, etwas zu sagen. „Ich werde dich auf jeden Fall nicht fressen!“, beteuerte er, „du brauchst keine Angst zu haben.“ „Darauf werde ich achten“, sagte der Bernhardiner mit warnendem Unterton.

Verschüchtert wartete Nuka nun auf seinen Auftritt, während sich seine Ko-Darsteller auf ihre Plätze begaben. Durch einen Spalt im Vorhang konnte der kleine Kater bereits das Publikum sehen und der Anblick jagte ihm eine Furcht ein, die er bisher noch nicht gekannt hatte. Ihm wurde mit einem Mal heiß und kalt zu gleich, tausend Schauer rasten ihm den Rücken herunter, sein Magen drehte sich um, in allen vier Pfoten kribbelte es und sein Kopf war wie leergefegt. Was sollte er noch mal tun? Wann war sein Auftritt? Was tat er eigentlich hier? Und warum wedelte ihm diese Feder beständig vor der Nase herum?

Da wurde er mit einem Mal angestoßen. Hinter ihm stand Rotkäppchen und sie sah äußerst verärgert aus. „Dein Auftritt!“, zischte sie und schubste ihn durch den Vorhang auf die Bühne. Nun stand er vor der Menge, die ihn mit großen Augen begutachtete. Nuka schaute ebenso verdattert zurück. In den ersten Reihen standen vor allem Kinder, sie waren gegen den großen Zaun gelehnt, der die Bühne umgrenzte und kreischten überrascht, als der Kater nach draußen trat. Und mit einem Mal begannen die Menschen zu applaudieren. Sie freuen sich, mich zu sehen, dachte der kleine Kater und begann, neuen Mut zu fassen. In ihm regte sich auf einmal ein Gefühl des Stolzes. Ja, endlich hatte man erkannt, wie er zu behandeln war, er war ein Kater in seinen besten Jahren, von stolzer Gestalt und wunderbarem orangefarbenem Fellkleid, und man würdigte ihn dafür! Der Applaus fühlte sich richtig an, so richtig und rechtmäßig! Von nun an, so dachte er, würde er eine solche Behandlung bei jedem Eintreten in einen Raum erwarten. Er stolzierte auf der Bühne herum, drehte elegante Pirouetten und präsentierte seine Stiefel. Dann erhob er sich auf die Hinterbeine, zog seinen Degen und wirbelte damit ungeschickt in Richtung des Bernhardiners. „Muss ich etwas zu dir sagen?“, flüsterte er dem Anderen quer über die Bühne zu. „Nö“, gab der gelangweilt zurück, „die Menschen können uns eh nicht verstehen. Sag einfach irgendwas.“ „Ähm“, maunzte Nuka, „ich – äh – fordere dich heraus, du Schuft!“ „Du kennst das Märchen echt nicht, oder?“ „Nein“, gab Nuka zerknirscht zu.

Mit einem Mal gab es einen lauten Knall und das Fauchen einer Katze durchschnitt die Luft, gefolgt vom Schrei eines Esels. Alle wandten sich um und versuchten, die Ursache dieses Lärms auszumachen. Auch Nuka und der Bernhardiner spähten von der Bühne herab. Da, dahinten war doch Bewegung! Und der Kater sah plötzlich, was da in vollem Tempo auf ihn zugerast kam. Es war seine Schwester, die von einem hellbraunen Hund verfolgt wurde, der laut hinter ihr her bellte und ziemlich wütend aussah. Die Verfolgungsjagd raste auf den kleinen Kater zu, der etwas verdutzt auf der Bühne stand und instinktiv den Plastikdegen hob. „Leg das Ding weg und laaaaauf!“, schrie seine Schwester ihm zu, als sie mit einem Satz auf die Bühne sprang und ihn beinahe über den Haufen rannte.


18. Dezember

Die beiden Katzen hetzten Seite an Seite durch die Straßen des kleinen Dorfes. Nuka hatte glücklicherweise die Stiefel loswerden können, denn nach einigen Schritten in dem viel zu großen Schuhwerk war er beinahe auf die Nase gefallen. Auch Degen und Hut musste er abwerfen, sie behinderten ihn zu sehr beim Laufen und die blöde Feder wedelte ihm ständig vor der Nase herum. Eigentlich, überlegte der Kater, mussten sie auf dieser Reise für seinen Geschmack ein wenig zu oft rennen. Er hatte sich die Suche nach einem dicken, alten Mann etwas entspannter vorgestellt. „Was hast du denn gemacht?“, rief er seiner Schwester zu.

Ja, was war passiert? Das Unheil hatte sich bereits bei der Generalprobe angebahnt. Der Esel war einfach nicht in der Lage gewesen, ruhig stehen zu bleiben, worauf Mika ihm ordentlich die Meinung gegeigt hatte. Daraufhin weigerte sich der Esel, weiterhin mit dieser Person zusammenzuarbeiten, nie in seiner ganzen Karriere hätte er solch eine Beleidigung erfahren und der Hund, dessen dringlicher Wunsch es war, von der Zweit- zur Erstbesetzung aufzusteigen, hatte der kleinen Katze die Schuld am ganzen Eklat gegeben.

Ein Blick über die Schulter und Nuka musste mit Schrecken feststellen, dass ihr Verfolger sie beinahe eingeholt hatte. Fieberhaft überlegte er, wohin sie sich retten könnten, da sprang seine Schwester auf den Deckel einer Regentonne und von da aus in einen kahlen Rebstock, an dessen Stamm sie behände nach oben kletterte. Der Kater folgte ihr nach, jedoch hielt die Pflanze seinem Gewicht nicht stand, die kleinen Zweige rissen ab und er stürzte in einem Wirbel aus Holzstaub, Betonsplittern und welken Blättern zu Boden.

Da stand auch schon der Hund über ihm und fletschte die Zähne. „Wo ist deine Schwester?“, zischte er, „ich muss etwas mit ihr klären.“ „Ich finde, du musst erstmal eine Zahnbürste benutzen“, gab der Kater frech zurück, der sich nach dem triumphalen Moment auf der Bühne unbesiegbar fühlte – eine ziemliche Selbstüberschätzung, da er auf dem Rücken lag. „Wie bitte?“, grollte der Hund, „Willst du jetzt auch noch frech werden?“ „Ja, das will ich wohl!“, schrie Nuka, den die Wut packte, „Und du lässt mich jetzt gehen, sonst kriegst du meine Krallen zu spüren!“ Um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, spreizte er die Vorderpfoten und offenbarte dabei zehn mächtige Krallen. Der Hund wich plötzlich vor ihm zurück. „Nicht –“, sagte er und seine Stimme klang auf einmal gar nicht mehr wütend, sondern eingeschüchtert und ängstlich. Der kleine Kater rollte unter ihm hervor und rappelte sich auf. „Tut mir leid“, stammelte der Hund, „ich – ich – es tut mir so leid! Was mache ich eigentlich hier? Warum –“ Und er hockte sich hin und begann leise jaulend zu weinen. Obwohl seine Abneigung gegen Hunde so tief saß, konnte der kleine Kater nicht anders, als bei diesem Anblick sofort Mitleid mit dem Anderen zu haben. Er kroch an seine Seite und stupste ihn mit dem Kopf an. „Hey … ist schon vergessen“, maunzte er, „was ist denn los?“

Tränen rannen dem Hund über die Wangen. „Ich … ich mache einfach immer den gleichen Fehler“, sagte er kummervoll, „ich … will perfekt sein und steigere mich dann viel zu sehr hinein. Deshalb … bin ich auch nicht mehr bei meiner Familie. Sie haben mich … weggegeben … weil ich immer viel zu … sehr …“ Schluchzend drückte er sich an den Kater und schnäuzte sich lautstark in dessen Fell. Nuka verdrehte die Augen und unterdrückte den Impuls, seinen nassen Pelz auszuschütteln. „Hey“, sagte er noch einmal beschwichtigend, „wenn sie dich nicht so wollen, wie du bist, dann haben sie dich auch nicht verdient, oder?“ Der Hund blickte auf und sah ihn ernsthaft an. „Danke, das ist lieb von dir“, sagte er, „aber das Problem ist, dass ich mich nicht anpassen kann. Immer muss ich alles so durchsetzen, wie ich es für richtig halte, egal, was die anderen dazu sagen. Dass ich so bin, weiß ich, auch dass es mir immer wieder Probleme macht. Aber ich lerne nicht dazu. Ich laufe lieber hinter kleinen Katzen her, als einfach mit mir zufrieden zu sein, so wie ich bin. Auch wenn das heißt, meinen Traum vom perfekten Leben aufzugeben.“ „Ich finde, das klingt ziemlich traurig“, gab der Kater zurück, „man sollte nie aufhören, vom Leben zu verlangen, dass es genauso ist, wie man sich es wünscht.“ „Siehst du“, sagte der Hund, „ihr Katzen seid da einfach anders. Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt. Aber wir Hunde sind immer noch die besten Freunde unserer Menschen – wann hat das jemals einer über seine Katze gesagt?“ Nuka runzelte die Stirn. „Also ich denke schon, dass Georg und Lotta –“, hob er leicht gekränkt an, doch er wurde von seiner Schwester unterbrochen, die sich lautlos an die beiden herangeschlichen hatte. „Ich will ja eure philosophischen Unterhaltungen nicht unterbrechen, aber unser Taxi wartet, Nuka.“ Die beiden drehten sich zu ihr um und die Frage kam wie aus einem Mund: „Welches Taxi?“


19. Dezember

Das Taxi stellte sich als bärtiges, graubraunes Rentier mit mächtigem Geweih heraus, welches bereits ungeduldig mit den Hufen scharrte. „Na los, schnelle Beine!“, rief es ihnen zu. Als die drei näher kamen, konnten sie auch erkennen, dass bereits ein Fahrgast auf dem Rücken des Tieres saß.

Es war ein rotes Eichhörnchen mit buschigem Schwanz, welches die Ärmchen vor der Brust verschränkt hatte. „I werd gloi wahnsinnich, wenn’s ned gloi losgehd“, murmelte es und klopfte nervös mit einem Fuß auf dem Boden herum.

„Sieht so aus, als müssten wir unser Gespräch verschieben“, sagte der Hund. „Ich glaube auch“, stimmte Nuka zu, „dabei war ich gerade dabei, mich an Hunde zu gewöhnen.“ Der Hund zuckte mit den Schultern und grinste. „Für eine Katze bist du auch nicht ganz übel. Naja, dann muss ich jetzt wohl allein die Bühnen dieser Welt erobern.“ Der kleine Kater lächelte zurück: „Ich glaube, du wirst das hinkriegen. Aber nur wenn du damit aufhörst, unschuldigen Katzen nachzujagen.“

„Jetzt langt’s abb’r, ihr seid’s doch ned ganz bacha! I han dringende Geschäfde zu erlediga, also schwädzd ned ewich, sondern schdeigd endlich uf!“, zeterte da das Eichhörnchen vom Rücken des Rentiers herunter. Alle Augen richteten sich auf ihn. Nuka und Mika atmeten hörbar durch – bitte nicht schon wieder ein Mitreisender mit Dialekt!

„Jo, was guggd ihr so bleed? Zeid isch Geld und beides han mir ned“, legte es konsterniert nach, da niemand sich vom Fleck rührte. „Er bittet euch, nicht mehr so blöd zu gucken und aufzusteigen, er ist nämlich etwas in Eile“, half das Rentier mit einer Übersetzung aus.

Die Katzen warteten nicht darauf, dass das Eichhörnchen den Mund auftat, um erneut einen dialektalen Schwall über sie ergehen zu lassen oder dass vielleicht Rotkäppchen und der Wolf um die Ecke geschlendert kämen und sie wieder auf eine Bühne verfrachten würden und kletterten auf den Rücken ihres Reittiers. Der Hund winkte noch, da setzte es sich mit einem Mal in Bewegung und das Eichhörnchen, dass sich nicht rechtzeitig festgehalten hatte, stürzte rücklings herunter. Da ging ein Gezeter los: „Des gehd doch uff koine Kuhhaud nedd! Du bisch so a Volldaggl, ach noi, du bisch a Halbdaggl – bei dir hedd’s ned mol zum Daggl gelangd! Da könnde i mi doch granadenmäßich uffrege übr so ein‘ Dregg…“ Vor sich hin schimpfend rappelte es sich auf und klopfte sich den Schneematsch aus dem Fell. Ohne darauf einzugehen, bückte sich das Rentier, damit das Eichhörnchen bequem aufsteigen konnte, doch das schnaubte nur „Godd verdammich, Heilandsdonndrwäddr abr auch“ und hüpfte in schnellen Sprüngen hinauf, um auf dem Kopf zwischen dem mächtigen Geweih Platz zu nehmen. „Sind wir dann alle startbereit?“, fragte das Rentier und die Katzen konnten die Spur eines verschmitzten Lächelns in seiner Stimme hören. „Ja“, antworteten die Katzen einstimmig und auch das Eichhörnchen brummte zustimmend.

Mit einiger Vorsicht schritt das Rentier erneut aus, schritt schneller und schneller und der hellbraune Hund wurde im Blickfeld der Katzen immer kleiner und kleiner. Dann bogen sie um eine Ecke und sahen ihn nicht mehr.

Bald hatten sie das Dorf hinter sich gelassen und befanden sich wieder mitten im Winterwald. Er war jetzt bei Tage nur noch halb so gruselig wie bei Nacht, aber, wie Nuka fand, auch nur noch halb so spannend. Der Schnee schimmerte weiß zwischen den dunklen Baumstämmen, die hoch in den Himmel aufragten und von denen durch einen Windhauch ab und zu feiner, glitzernder Puder zu ihnen herab getragen wurde. Nach dem Stimmengewirr und Kindergeschrei im Märchendorf war die Stille hier sehr angenehm und die Katzen genossen es, im warmen Fell des Rentiers zu sitzen und durch die Landschaft getragen zu werden.

Jetzt war endlich Zeit für Erklärungen, derer auch viele benötigt wurden. Nuka erklärte seiner Schwester die Absicht des Hundes und warum sie dessen Wutausbruch nicht persönlich nehmen solle, seine Schwester berichtete ihm, wie sie über das Dach in einen Stall gelangt sei, wo sie auf das Rentier getroffen war und eine „Mitfahrgelegenheit“ nach Finnland klargemacht hatte.

Nun mussten sie sich auch ihren Weggefährten ausführlich vorstellen. „Ich heiße Donner“, sagte das Rentier, „und der schlecht gelaunte Kerl auf meinem Kopf ist Wiggerl.“ „Für euch immr noch Ludwich, wenn’s beliebd“, schnarrte das Eichhörnchen, „und du wärschd ja wohl auch bruddlig, wenn du mid so einem langsama Dranfunzl vorankomma müssdeschd.“ „Was hat er denn?“, fragte Nuka das Rentier. „Ach, das ist ein Schwabe“, sagte Donner lässig, „die sind ein ganz besonderes Völkchen. Dieses Exemplar hier ist unterwegs zum Weihnachtsmann, weil er mit ihm ein ernstes Wörtchen reden will.“ „Was, er will auch zum Weihnachtsmann?“ Die Katzen waren völlig aus dem Häuschen. Konnte es wirklich wahr sein und sie befanden sich so mir nichts, dir nichts auf direktem Weg zu ihrem Ziel? „Na klar“, antwortete das Rentier, „was denkt ihr, würden wir sonst in Finnland zu suchen haben?“

Nuka und Mika blickten sich an – sie hatten es tatsächlich geschafft, jemanden zu finden, der sie zum Weihnachtsmann bringen würde! Das waren ja großartige Neuigkeiten!

„Was hat er denn für ein Problem mit dem Weihnachtsmann?“, fragte Mika neugierig. Man hörte, wie Donner sich räusperte, verschämt hustete, dann brach er in schallendes Lachen aus. „Ludwig ist der Meinung, dass die alljährliche Geschenke-Tauscherei zu Weihnachten ein bisschen übertrieben ist. Er möchte erreichen, dass man sich nur noch aller vier Jahre beschenkt“, brachte er heraus, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte. „Aber … warum?“ Donner räusperte sich: „Also, ich erzähle euch jetzt mal einen Witz über Schwaben, dann versteht ihr den Grund für sein Vorhaben vielleicht besser: Ein schwäbischer Priester lässt den Korb für die Kollekte rumgehen. Als der Korb wieder zurück zum Priester kommt, ist er leer. Daraufhin betet der Priester am Altar: Lieber Gott, danke, dass wenigstens der Korb zurückgekommen ist.“

„Ha ha ha, jedzd han mir alle mol recht gelachd“, unterbrach ihn Ludwig mit beleidigtem Tonfall,  „abr bei den Geschenke isch’s so: dia Lieb vergehd, abbr Sach bleibd Sach. I geb ja gern, abr i hab fünf Kindr und alle wolle Haselnüssle zu Weihnachda, die sammeln sich ned von selbschd!“ „Was sagt er?“, flüsterte Mika ihrem Bruder zu. „Ich verstehe es auch nicht“, gab er ebenso leise zurück. „Dann muss i mir eben Mühe geben, Hochdeudsch zu schwäddze – aber i sag’s euch gleich, des fälld mir ziemlich schwer“, fiel ihm das Eichhörnchen ins Wort. Offensichtlich hatte es sehr gute Ohren. Dann wandte es sich wieder nach vorn und blickte unverändert gerade aus, das rote, buschige Schwänzchen zitternd in der Luft.

„Ruht euch ein bisschen aus“, sagte das Rentier versöhnlich, „wir haben eine lange Reise vor uns.“


20. Dezember

Als Nuka erwachte, fror er an der Nasenspitze. Es fühlte sich beinahe an, als sei sie eingefroren, so kalt war es. Er schob sein Schnäuzchen unter seine Pfoten, doch auch die konnten den eisigen Wind nicht abhalten, der selbst durch die feinen Härchen seines dichten orangefarbenen Pelzes drang. Ein Glück, dass er nicht im Schnee laufen musste! Sie konnten dem Rentier äußerst dankbar sein, dass es sie so selbstlos durch die Gegend trug. Wie hatte seine Schwester das nur wieder hinbekommen – ja, wenn sie nicht gerade biestig gelaunt war, konnte sie ganz umgänglich sein, das war ihm auf dieser Reise schon aufgefallen.

Da hörte er die Stimme des Eichhörnchens und als er aufblickte, hockte es unverändert auf Donners Kopf und hielt sich an dessen Geweih fest wie ein Kapitän an seinem Steuerrad. „Meischdr, wie lang gehd dess noh noch? Es isch saukald und außerdem müssde i mol langsam was esse, i fall gloi vom Schdengl. “ „Noch ein bisschen Geduld“, erwiderte Donner, „ich habe ja gesagt, es ist eine lange Reise.“ Etwas Essbares wäre wirklich keine schlechte Idee, überlegte der kleine Kater, zumal er mit Schmerzen an den Proviant von Zuhause dachte, den sie in der ganzen Aufregung im Märchendorf zurücklassen mussten. Das Eichhörnchen drehte sich halb zu ihm um: „Mer könnde auch den diggen Kadr da überm Feuer brade“, sagte es mit spöttischem Unterton und zeigte mit einer Pfote auf ihn, „da blieb gnug für des nächschde Jahr übr, bei dem Ranzen!“ Mit einem Mal war Nuka hellwach. „Du denkst wohl, ich verstehe dich nicht, wenn du deinen blöden Dialekt sprichst, aber da irrst du dich. Und wenn hier einer über dem Feuer gebraten wird, dann ja wohl du!“, fauchte er das Eichhörnchen an. „Und dick bin ich ja wohl überhaupt nicht mehr, das ist mein Winterfell und das ist ein sehr sensibles Thema!“, setzte er noch nach. „Na, mer wird ja no a Schbäßle mache dürfe?“, gab der andere zurück und wandte sich wieder um. „Den muss man abr au mid Samthandschuhe anfasse, gell?“

Stunden vergingen, während das Rentier knirschend durch den immer tiefer werdenden Schnee schritt. Langsam begann es zu dämmern. Die Sonne sank immer tiefer zwischen die Bäume, die nun lange Schatten auf den Schnee warfen und ein leichter Nebel hing in der Luft wie der Atem eines Riesen. Die Geschwister sahen nicht, wie es Nacht wurde und über ihnen abertausende Sterne aufgingen, sie waren auf dem Rücken des Rentiers aneinander gekuschelt und schliefen tief und fest.

Da trat Donner aus dem Wald heraus. „Hey, Nuka, Mika, seid ihr wach?“, weckte er die beiden. Als sie sich gähnend erhoben, konnten sie ihren Augen nicht trauen. Die kleine Reisegruppe stand am Ufer eines großen Sees. Über ihnen wölbte sich ein majestätischer Himmel voller funkelnder Sterne, einer heller als der andere. Aber am beeindruckendsten war das wilde Farbenspiel, dass sich dort in der Höhe abzeichnete. Den beiden Katzen blieb vor Ehrfurcht glatt der Mund offen stehen und auch Ludwig, das schwäbische Eichhörnchen, der sonst nie um einen Kommentar verlegen war, schwieg ergriffen. Wie ein Vorhang aus Licht waberte es türkis, grün, magenta und eisblau über den Wassern. „Na, wie findet ihr das?“, fragte Donner und in seiner Stimme klang ein Spur von Stolz. „Es ist … wunderschön“, wisperte Mika und konnte ihre Augen nicht von dem Schauspiel lösen. „Die Menschen nennen es Polarlichter“, erklärte ihr Reiseleiter, „und sie haben lange geglaubt, dass diese Lichter ihnen Unglück vorhersagen. Aber wer an diesen Unfug glaubt, ist wirklich einfältig. Jeder weiß doch, dass das das große Rentier im Himmel ist, was sich mit einem Feuer am Himmel vergewissert, dass es allen von uns, wo auch immer wir gerade auf der Welt sind, gut geht.“ „Ich glaube nicht –“ wand Nuka ein, doch seine Schwester stupste ihn an. „Das ist eine sehr schöne Vorstellung“, sagte sie laut. „Ja, nicht wahr? Ich freue mich jedes Mal, wenn ich eines sehe. Mir hat es bis jetzt immer Glück gebracht.“

„Wie geht es denn jetzt weiter?“, fragte Nuka, „wie kommen wir denn über den See?“ „Wir müssen noch ein Stück am Waldrand entlang“, antwortete Donner, „dann kommen wir zu einer Furt, da ist das Wasser nicht tief und ich kann auf die andere Seite gelangen. Das Wasser hier ist auch nicht allzu kalt, es gibt hier und da ein paar warme Quellen, da sind wir früher als junge Rentiere gern baden gegangen.“ „Bei dieser Kälte bestimmt ein riesiges Vergnügen“, murrte Mika, die jedem Bad, was keine Katzenwäsche war, mit völligem Unverständnis begegnete.

Entlang des Sees ging das Rentier dahin, während die Katzen ihre Augen nicht von dem Farbenspiel am Himmel lösen konnten. Hätten sie zur Seite in den Wald, in die Dunkelheit zwischen den Bäumen geblickt, so hätten sie unter einem durch den Schnee herabgedrückten Ast ein gelbes Augenpaar entdeckt, dass ihnen folgte. Sie hätten das flache Atmen gehört, das beinahe lautlose Knirschen des Schnees unter mächtigen Pranken, das Streifen von Tannennadeln über hartes Fell. Doch auf all das achteten sie nicht, sie waren wie gebannt von dem irisierenden Schleier, der nahes Unheil ankündigte oder auch nur ein Rentiergott war, der auf sie herabblickte.

Nicht lange, da meldete sich Ludwig wieder zu Wort, dessen schwäbische Natur vom Naturschauspiel nicht lange gebannt werden konnte: „Könndeschd du di ein bissle beeile? Dir kann man ja undrwegs de Schuh ausziehe, so, wie du vor di hindrödelschd!“ „Er läuft doch extra langsam, damit wir die Lichter in Ruhe anschauen können“, echauffierte sich Mika, die allmählich von dem unhöflichen kleinen Kerl genug hatte. „Gang mr nedd uff den Senggl!“, kam es pampig zurück. „Du musst nicht immer so unfreundlich sein“, erwiderte die Katze kühl, „du solltest dich eher bei Donner bedanken, dass er uns die ganze Zeit trägt und ihn hörst du nicht herumklagen, dass ihm kalt ist oder dass er Hunger hat.“ „Net gemault isch gelobt gnug“, motzte Ludwig, „und i hab jetzt lang genug gschwiege. Jetzt wird‘s Zeit, sag i, Herrgottsdonnerbliddz, odr i –“

Er kam nicht mehr dazu, seine Drohung zu vollenden. Mit einem Mal schoss ein gefleckter Blitz aus dem Unterholz hervor und sprang am den Hals des Rentiers hinauf. Es war ein Luchs, der ihnen schon seit einiger Zeit gefolgt war und in dem einsamen Rentier eine leichte Beute gewähnt hatte. Donner konnte seinen Reißzähnen nur um Haaresbreite entkommen – er bäumte sich auf, trat mit den Hufen aus und traf den Angreifer vor die Brust. Jaulend flog die Bestie einige Meter, dann kroch sie in die Dunkelheit zurück. Das Rentier wartete nicht darauf, dass sie einen erneuten Angriff wagen würde, sondern rannte blindlings drauflos, am Ufer entlang und dann, als es die Sandbank erreicht hatte, mitten ins Wasser hinein. Bis zum Bauch ging ihm das kalte Nass, doch tiefer wurde der See nicht und die kleine Reisegruppe hatte nach kurzer Zeit wieder festen Boden unter den Füßen.

Aber waren sie vollständig? Ludwig hielt sich immer noch am Geweih fest und Mika hatte die Krallen tief in das struppige Rentierfell gegraben, um nicht abgeworfen zu werden. Doch wo steckte Nuka?

Drüben, auf der anderen Seite des Sees, schlug das eisige Wasser über dem kleinen Kater zusammen. Von der Kälte und dem Schock der Nässe völlig überwältigt, war er wie erstarrt. Er sank, sank immer tiefer und seine Augen blickten noch immer hoch in den dunklen Himmel, wo über ihm die Polarlichter zwischen den Sternen schimmerten.


21. Dezember

Als Donner sich aufbäumte, um dem überraschenden Angriff zu entgehen, war Nuka von seinem Rücken katapultiert worden. Rücklings sank er immer tiefer, doch das Wasser um ihn war so klar, dass er wie durch Fensterglas sehen konnte. Man möchte meinen, dass einem kleinen Kater in solch einer Situation tausende Gedanken durch den Kopf fliegen: „Ihhh, Wasser!!“, „Wie komme ich hier nur wieder raus?“ und „Hätte ich doch nur schwimmen gelernt!“. Aber er war völlig ruhig. „Und jetzt?“, dachte er und der Gedanke hallte wie ein einzelner Glockenton in ihm wider. Er versuchte, die Glieder zu bewegen, doch die Kälte hielt ihn fest in ihrem Klammergriff. In großen Blasen verabschiedete sich der letzte Sauerstoff aus seinen Lungen und Nuka blickte ihm wehmütig nach, wie er seinen Weg an die Wasseroberfläche nahm. Wenn er doch auch in solch einer Blase nach oben schwimmen könnte!

Aber – was hatte er denn, er saß doch in einer solchen Luftblase! Das war prima, so im Trockenen durch die Wellen zu segeln! So konnte er in Ruhe die Unterwasserwelt bereisen, die so viel Spannendes zu bieten hatte. Das farbige Himmelslicht fiel in dicken Strahlen auf den Grund des Sees, sodass Nuka alles genau erkennen konnte, was da vor ihm lag. Der Boden war bedeckt von runden Kieselsteinen, die über die Jahrtausende rundgeschliffen worden waren und an einigen Stellen wuchsen Wasserpflanzen, deren Blätter wie wabernde Finger nach ihm winkten. Der kleine Kater passierte in seiner Blase einen ganzen Wald solcher Gewächse, hier und da schlüpfte ein kleiner Fisch an ihm vorbei oder eine Wasserschlange schlängelte sich zwischen den Zweigen hindurch.

Als er den Wald passiert hatte, öffnete sich direkt vor seiner Nase ein Abgrund und in dessen Tiefe brodelten orangerote Quellen zwischen den Steinen hervor. Der kleine Kater konnte ihre Wärme spüren, er fühlte sie auf seinem Gesicht und steuerte seine Luftblase näher an sie heran. Ach, war das herrlich! Was für ein himmlisches Gefühl! Jeder weiß, dass warme Orte eine magnetische, ja, man könnte sogar sagen, eine magische Wirkung auf Katzen haben. Man stelle irgendwo einen Ofen auf und im Handumdrehen haben sich die Stubentiger darum gesammelt, wie als gäbe es eine Lokalrunde Thunfisch. Auch Nuka konnte sich dieser Veranlagung nicht erwehren und als er seine Luftblase direkt in den heißen Wirbel einer solchen Quelle manövriert hatte, rollte er sich bequem zusammen, schloss die Augen und begann zu schnurren. Nach der langen Wanderung in der Kälte und dem Schock des eisigen Wassers war das eine richtige Wohltat. Wenn nun einer dieser Fische sich bereit erklären und sich ihm als Abendbrot anbieten würde, käme ihm das sehr gelegen. Bei der Vorstellung lief ihm schon das Wasser im Mäulchen zusammen, ach, wunderbar wäre das!

Doch was war das? Sein Schnurren wurde auf einmal zu einem mechanischen Rattern, erschrocken öffnete er die Augen – nur um sich auf dem Teppich vor dem Sofa im Hexenhäuschen wiederzufinden! Nuka blinzelte verdutzt. Aber natürlich, jetzt fiel es ihm wieder ein, er war ja hier, um die Spielzeuge zu befreien! Schnell sprang er auf und sah, wie die Figuren und Kuscheltiere durch das zerbrochene Fenster hinausspazierten, daher rührte auch das metallische Geräusch. Aber wo war die Hexe? Sie würde das überhaupt nicht gut finden, oh nein, sie würde gleich zu Hause sein – er musst von hier verschwinden und zwar schnell! Nuka stürmte zur Tür, doch da stand sie schon im Türrahmen und packte ihn am Kragen. „Hab‘ ich dich!“, schrie sie und er konnte ihre spitzen, gelben Zähne sehen, kein schöner Anblick. Da fällt mir ein, dachte Nuka, sie kann mir ja gar nichts anhaben, ich sitze ja im See in meiner Luftblase und außerdem hat sie dort ohnehin keine Macht über mich. Nicht mal ihr Haus konnte uns weiter folgen, also kann sie mich erst recht nicht – doch da öffnete die Alte ihren Mund und verschlang ihn in einem Stück.

Was ist das denn für ein Mist, dachte Nuka, während er da im Dunkeln hockte. Da strahlte ihn auf einmal ein helles Licht an und er war wie geblendet. Wer hatte denn bitte im Magen einer fiesen Hexe eine Taschenlampe dabei? Es leuchtete ihm mitten ins Gesicht und Nuka musste den Kopf wegdrehen, um seine Augen langsam an das Licht gewöhnen. „Wann haben Sie die Katzensnacks zum letzten Mal gesehen?“, fragte eine schnarrende Stimme aus der Dunkelheit. Ja, jemand musste den Kater verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, war er verhaftet worden. Sie wollten ihn verurteilen, für einen Diebstahl, den er nicht begangen hatte. Jetzt nur nicht Falsches sagen, das war die Devise. „Ich habe mit dem Überfall auf den Katzenfuttervorrat nichts zu tun“, sagte Nuka und versuchte, so aufrichtig wie möglich zu klingen. „Das versuchen Sie uns seit Tagen weiszumachen“, sagte der andere, „aber wir werden Sie noch dafür drankriegen, das schwöre ich Ihnen.“ „Sie können mich hier nicht ewig festhalten“, mauzte der Kater, „und vor allem nicht für ein Verbrechen, das ein anderer verbrochen hat!“

„Dann beweisen Sie uns, dass Sie nicht fliegen können!“, gab die Stimme aus der Dunkelheit zurück. Der kleine Kater blickte an sich herunter und auf die großen Vogelschwingen, die er anstelle seiner Pfoten hatte. „Das dürfte schwierig werden“, murmelte er und erhob sich majestätisch in die Luft. Nun war er auf einmal frei, erhob sich in die Höhe über die Baumwipfel und blickte auf den See hinab, der wie ein riesiger Spiegel unter ihm lag. Und dort hinten, da lag doch das Dorf des Weihnachtsmannes! Das Ziel einer langen Reise lag zum Greifen nah, der Kater schlug kräftig mit den Flügeln und setzte zum Landeanflug an, da –

Etwas schüttelte ihn heftig. „Nuka! Nuka!“ Es brachte ihn aus der Fassung. „Sowas ist ein Angriff auf die Flugsicherheit!“, fauchte er empört. „Nuka! Nuka!“, rief es wieder, wie aus weiter Ferne.

Mit einem Mal wurde er wieder ins Jetzt und Hier katapultiert. Keine Flügel, keine Hexe, keine Luftblase und vor allem keine Wärme war da mehr – er lag kalt und klamm am Rand des Sees und schlotterte am ganzen Leib. Seine Schwester beugte sich über ihn. „Nuka! Oh Gott sei Dank, du lebst!“ Sie wandte sich um und rief jemandem etwas zu. Der kleine Kater hob seine Pfote und vor seinen Augen wuchsen daran Federn, große, orangefarbene Federn. Er wedelte damit in der Luft herum. Dann erhob er sich auf die Hinterbeine. Würde er wieder fliegen können? Er versuchte sich vom Boden abzudrücken, nein, er konnte nicht fliegen, aber dafür wunderbar krähen! Ja, warum hatte er das denn nicht gleich gewusst: er war ein Hahn, ein stolzer, prächtiger Hahn! Als sich seine Schwester wieder zu ihm umdrehte, sah sie ihren Bruder auf der Seite liegen, die Augen geschlossen, jämmerlich mit den Pfoten in der Luft herum wedelnd und krächzende Miau-Laute von sich gebend. „Donner!“, rief sie, „kannst du ihn auf deinen Rücken heben? Ich glaube, beim ihm ist seit dem Sturz eine kleine Schraube locker!“ Dann versetzte sie ihrem Bruder einen kräftigen Schlag mit der Pfote. Der kleine Kater schüttelte sich und erwachte endgültig. Zuerst war er noch orientierungslos, dann fing er sich wieder. Was waren das für merkwürdige Träume, in die er eingetaucht war? Alles hatte sich so echt angefühlt. Vor Kälte bibbernd wurde er von Donner aufgehoben und klapperte im Hintergrund laut mit den Zähnen, während das Rentier wieder schneller voranschritt. „Also das passiert mir nicht noch mal“, plapperte es unterdessen, „das ist mir wirklich schrecklich peinlich, aber das hätte ja niemand wissen können … unfassbar peinlich das Ganze, ja ja … und jetzt sitzt er da und ist klitschnass, er wird sich noch den Tod holen … der Weihnachtsmann macht mir die Hölle heiß! Ein Glück, dass es nicht mehr so weit ist, nur noch ein paar Meilen, dann sind wir da.“


22. Dezember

Eine Weile noch ging es durch den Winterwald, dann öffnete sich auf einmal eine freie Fläche und da lag es vor ihnen: ein Häuschen. Mitten in einem verschneiten Tal gelegen stand es da und schmiegte sich an eine kleine Gruppe von Tannenbäumen an. „Was ist das denn?“, platzte Mika heraus, „Da soll der Weihnachtsmann wohnen?“

Donner zuckte mit den Schultern. „Outsourcing“, sagte er und die kleine Katze verstand nicht, was er damit meinte. „Naja, in diesen modernen Zeiten würden einheimische Wichtel viel zu viel kosten“, versuchte er sich an einer Erklärung. „Deshalb hat der Weihnachtsmann die Produktion wohl oder übel auslagern müssen.“ Mika war verwirrt. „Das heißt, er wohnt ganz allein da? Er hat keine Geschenkefabrik, keinen Palast oder zumindest eine große Villa?“ Donner hielt inne und wand den Kopf zu ihr um. „Du klingst ein bisschen enttäuscht.“ „Naja, ich hatte mir jetzt etwas Imposanteres als eine alte Hütte vorgestellt.“ Das Rentier lachte. „Warte mit dem Enttäuscht-Sein erstmal ab, bis du drin bist.“

Das Rentier begann, mit seinen Reisepassagieren ins Tal abzusteigen. Es musste vorsichtig auftreten, denn der Boden war von einer dicken Schneeschicht bedeckt und auch die Dunkelheit machte es ihm nicht leicht, Unebenheiten und Stolperfallen zu erkennen. Aber besonders einer seiner Begleiter bot zur Eile: der dicke Kater, der beinahe auf seinem Rücken festgefroren war und der immer noch bedrohlich hin und her schwankte. Mika versuchte sich ganz nah an ihn zu kuscheln, damit ihm nicht allzu kalt war, aber sein Fell wollte einfach nicht trocknen und so saß er da wie ein begossener Pudel. Als Donner endlich die Hütte erreichte und sie absteigen ließ, fiel er mehr von seinem Rücken, als dass er herunterkletterte. Dann klopfte das Rentier mit dem Huf an die Haustür. „Vielleicht ist er gar nicht da“, flüsterte Mika ihrem Bruder zu. „Was machen wir dann?“ Doch der kleine Kater antwortete nicht, er hatte viel zu viel damit zu tun, sich auf den Beinen zu halten und nicht wieder seitlich umzukippen. „So a Käs“, mischte sich auf einmal das Eichhörnchen ein, „als ob der Kerl ned da isch! Du siehschd do, dess des Lichd brennd, also muss au einr zhause sei.“

Da flog auf einmal die Haustür auf und im Türrahmen stand ein Mann. Er trug einen roten Mantel, der, wenn man genau hinsah, mit goldenen Sternen bestickt war, darunter rote Hosen und gemütliche Pantoffeln an den Füßen. Sein langer, weißer Bart reichte bis auf die Brust herab und unter buschigen Augenbrauen blinkten freundlich zwei blaue Augen hervor. „Das ist ja wirklich der Weihnachtsmann!“, rief Mika, die nicht mehr an sich halten konnte. „Nuka, wir haben es wirklich geschafft!“ Der kleine Kater erwachte langsam aus seiner Starre und rieb sich ungläubig die Augen. „Entschuldige“, sagte er leise, „ich war gerade ganz woanders, aber – was ist das denn für ein Typ da?“ „Na, wer seid ihr denn?“, dröhnte da die tiefe Stimme des Weihnachtsmanns, „Kommt herein, wir haben keine Zeit zu verlieren! Ihr holt euch noch den Tod da draußen. Ich werde euch erstmal etwas zum Aufwärmen bringen.“ Damit drehte er sich auf dem Absatz um und schritt voraus. Die beiden Katzen blickten erstaunt durch die offene Haustür, denn das, was sie da sahen, war schier unglaublich.

Von außen hatte das Häuschen klein und schlicht ausgesehen, aber als die Katzen hineinblickten, erkannten sie, dass von innen viel größer war! Sie konnten sich nicht vorstellen, wie so etwas möglich sein konnte, aber erstaunlicherweise passte eine ganze Eingangshalle hinein, von der zahlreiche Korridore abzweigten. Das ausladende Treppengeländer war mit Tannenzweigen geschmückt und kleine Lichter erleuchteten die Halle mit ihrem schummrigen, warmen Licht. Als Nuka und Mika noch so standen und das Ganze staunend bewunderten, stupste sie das Rentier von hinten mit der Schnauze an. „Los, rein mit euch“, sagte er, „hier draußen ist es viel zu kalt für Nuka.“ Ludwig ließ sich das nicht zweimal sagen. „I werd no zum Hirsch, schwingd eure Huf rei hier!“, brummelte er, während er über die Schwelle hüpfte. Die beiden Katzen blickten sich an. Die Erfahrungen im Hexenhaus hatten sie ein wenig vorsichtig gemacht. Jedoch war Nuka noch nicht wirklich in der Lage, etwas vernünftig zu überdenken und so musste Mika für ihn die Entscheidung treffen. „Na gut, wir versuchen es“, murmelte sie und betrat das Häuschen.


23. Dezember

Im Inneren wurden die beiden Geschwister von einer kuscheligen Wärme empfangen. Sie folgten dem Eichhörnchen durch einen langen Gang, das Rentier tappte hinterdrein. Der Flur mündete in einem geräumigen Wohnzimmer, das dem der Hexe gar nicht unähnlich war. Auch Mika fiel dies auf und sie inspizierte ausgiebig die Regale, auf denen sich aber nur alte Bücher befanden und keine mechanischen Figuren oder Kuscheltiere. Neben dem großen Kamin stand ein gemütlicher Schaukelstuhl und auch ansonsten lud der Raum an allen Ecken zum entspannten Verweilen ein: hier und da lagen Kissen, auf die Fensterbänke waren Sitzpolster aufgelegt und einen großen, runden Esstisch gab es auch.

Der Weihnachtsmann hatte ihnen die Tür aufgehalten und betrat nun gemeinsam mit Donner den Raum. „Bevor wir uns bekannt machen, muss ich den kleinen Kerl hier versorgen“, sagte er und nahm Nuka ohne Umschweife auf den Arm. Normalerweise wäre der Kater ziemlich empört gewesen, dass man ihn einfach so durch die Gegend trug, aber er war noch so verwirrt, dass er sich es gefallen ließ, dass man ihn in eine kuschelige Decke einwickelte und zum Auftauen neben den Kamin setzte. Dort saß er nun, während der Weihnachtsmann sich auf dem Schaukelstuhl niederließ und Mika freundlich ansah. „So, meine Liebe, nun sage mir doch: wer seid ihr und was kann ich für euch tun?“

Mit einem Mal war die kleine Katze schrecklich aufgeregt. Da waren sie so weit gereist und durch Schnee, Eis und viele Gefahren hatte sie die Hoffnung getragen, dass dieser Mann, der da vor ihr saß, ihnen helfen konnte – und nun verschlug es ihr die Sprache! Ja, das war kein Traum, das musste sie sich klar machen, aber erst einmal sollte sie ihm wohl auf seine Frage antworten. Doch plötzlich wusste sie nicht einmal mehr ihren eigenen Namen. „Ich – ähh“, begann sie rhetorisch geschickt ihren Satz, doch eine schnarrende Stimme unterbrach sie im breitesten Schwäbisch: „Jedzd schwätz i mol, die Kloine kriegd ja die Zähne ned auseinandr. I han folgendes Broblem und du bisch der Vogl, der mir den ganze Dregg eigbroggd had.“ Der Weihnachtsmann hob eine Augenbraue, hörte jedoch nicht auf zu lächeln. „Bitte, sprich“, erwiderte er freundlich, „ich möchte gern wissen, wie ich dich verärgert habe und wenn ich dir Probleme gemacht habe, dann werden wir gemeinsam eine Lösung finden.“

„Wenn de no ferdig bisch, lesch mi schwäddza!“, fuhr ihn das Eichhörnchen an und verschränkte aufgebracht die Arme vor der Brust. „Bass mal uf, i sag dir jedzd mol ebbes: dei Schenkerei zu Weihnachde, die machd mi ganz verrüggd. Weischt du, wie viele Kindr i han, die alle zu Weihnachde den Schnabl ufschberra und schreie „Baba, Baba, was bringd uns der Weihnachdsmann“ und i werd nemme ferdich mid däm ganze Gesamml! Geschweig noh, was des koschded! Jedes Jahr der gleiche Mischd! Und da denk i mir, isch denn der Kerl noch ganz rächd? Deshalb will i, dess du offiziell nur allr vier Jahre kommschd.“

Der Weihnachtsmann hörte ihn bis zum Ende an, dann nickte er. „Ich verstehe, warum du aufgebracht bist. Aber leider kann ich dir nicht das erfüllen, was du dir wünscht. Weihnachten ist seit Jahrhunderten ein Fest, was jedes Jahr auf’s Neue gefeiert wird und ich glaube nicht, dass die Leute sich daran halten würden. Deshalb befürchte ich, musst du dich wohl oder übel damit abfinden. Aber du musst ja kein Weihnachten feiern, das kannst du deiner Familie sagen.“

Ludwig holte tief Luft: „Bei Dir isch wohl a Rädle loggr?“, platzte er heraus. „Was isch denn des für ei bleede Idee? Des glaubsch jo sälbr nedd, dess des fonkzionierd!“ Er begann, in Kreisen durch das Wohnzimmer zu trippeln, währenddessen er wütend vor sich hin murmelte. „I kennd glei uff dr Sau nausfahra! Des isch doch allerhand, wie der Daggl einen hier bhandeld. Kommd man den ganze Weg vo Schduddgard an diese goddverlassenen Flegg, nur um gsagt zu kriege, dess der ned zuschdändich isch. Servicewüschde Deudschländle – isch wohl au hier so, ja ja!“ „Es tut mir leid, dass du dich jetzt so sehr aufregst“, wollte der Weihnachtsmann beschwichtigend einwerfen, doch das Eichhörnchen, einmal in Rage gebracht, war nicht mehr zu bremsen. „Dir wärd i glei s’Gweih vrbiege, Donnderlabbich noch amol! So a Granadesauerei isch des, i kennt mi uffrege! Abr weisch was, do hadd dr Zimmrmann s’Loch gmachd, dord gang i jedzd naus! Mir langd’s!“ Und damit stürmte es aus dem Wohnzimmer hinaus und sein Gezeter wurde immer leiser.

„Ich weiß wirklich nicht, wie ich ihn so aufgebracht habe“, sagte der Weihnachtsmann achselzuckend. „Ich hoffe nur, du hast jetzt kein schlechtes Bild von mir. Leider bin ich nicht allmächtig, ich kann auch nicht alles tun, was ich gern möchte. Obwohl ich zugeben muss, dass Weihnachten aller vier Jahre auch nicht in meinem Interesse liegt.“ Die kleine Katze nickte. „Ludwig war schon auf der Reise meistens schlecht gelaunt“, sagte sie zurückhaltend, „ich glaube, er ist einfach sehr … temperamentvoll?“ Der Weihnachtsmann lachte schallend. „Das trifft es gut! Aber keine Sorge, er wird schon wiederkommen, wenn er sich beruhigt hat. Dann kann ich ihn vielleicht noch einmal umstimmen. Aber nun sage mir doch, was kann ich denn für euch tun?“

Mika stellte sich und ihren Bruder vor und begann dann, dem Weihnachtsmann von ihrem Staubsauger-Problem zu berichten. „Wie ich schon sagte“, schloss sie ihren Bericht, „es ist fürchterlich und wir können nicht damit leben. Dieser Staubsauger ist ein schreckliches Gerät und soll weg.“ Auch Nuka, der inzwischen wieder bei vollem Bewusstsein war, krähte herüber: „Das stimmt, das ist ein Teufelsteil und ein Zusammenleben ist absolut ausgeschlossen.“

Erwartungsvoll blickten sie den Weihnachtsmann an, der sie nur schweigend ansah. Was würde er wohl sagen? Würde er ihnen helfen können, würde er mitkommen und Lotta und Georg persönlich erklären, dass der Staubsauger kein geeigneter Mitbewohner war? Oder würde es ihnen wie Ludwig ergehen und gleich vom Weihnachtsmann hören, dass er darauf keinen Einfluss hatte? Überhaupt, konnte dieser Mann all das, was man von ihm sagte? Eigentlich, überlegte Nuka, war das doch nur ein älterer Herr in einem roten Bademantel, der schon lange nicht aus dem Haus gekommen war, um sich einen neuen Rasierer zu besorgen. Gut, er war zufällig mit einem Rentier bekannt und konnte, anders als andere Menschen, mit ihnen sprechen – das sprach für ihn. Aber ob er gleich Zauberkräfte hatte, war damit noch lange nicht bewiesen.

Der Weihnachtsmann räusperte sich. „Meine Lieben“, begann er, „ich habe euch angehört und verstehe das Problem. Bevor ich jedoch etwas dazu sage, möchte ich …“ „Du kannst uns also nicht helfen!“, platzte Nuka heraus. „Das habe ich nicht gesagt“, erwiderte der Weihnachtsmann, „ich kann und werde euch helfen, so, wie ich Ludwig helfen werde.“ „Aber du hast ihm doch schon gesagt, dass du keinen Einfluss darauf hast, wie oft Weihnachten gefeiert wird, oder nicht?“, gab Mika zurück, „jetzt bin ich verwirrt. Wie willst du sein Problem denn dann lösen?“

„Wisst ihr“, sagte der Andere, „was meine Aufgabe ist?“ „Du bist der Weihnachtsmann“, antworteten die beiden Katzen wie aus einem Mund. „Ja, aber was tue ich? Wozu bin ich da?“

„Du bringst die Geschenke“, sagte Nuka, „das habe ich im Radio gehört. Die Menschen schreiben dir Wunschzettel, die du liest und dann erfüllst du die Wünsche.“ Der Weihnachtsmann lächelte, dann senkte er die Stimme. „Ich verrate euch jetzt mal ein Geheimnis.“


24. Dezember

Nuka war aufgestanden und saß neben seiner Schwester zu Füßen des Weihnachtsmannes. Sie waren gespannt: was würde er ihnen jetzt bloß sagen? Doch er wandte sich zunächst an das Rentier: „Donner, würdest du bitte einmal nach unserem aufgebrachten Gast sehen? Vielleicht könntest du ihm ja eine Tasse Tee anbieten.“

Donner nickte und verschwand in Richtung Flur um zu tun, worum er gebeten wurde. Dann beugte sich der Weihnachtsmann zu den beiden Katzen hinunter und blickte sie verschwörerisch an. „Ich muss euch beide aber darum bitten, das für euch zu behalten, was ihr gleich hören werdet.“ Die beiden Katzen versprachen es. „Ihr seid hierhergekommen“, hob er dann an, „um mich um die Erfüllung eines Wunsches zu bitten. Und ja, ich bin der Weihnachtsmann, das ist das, wofür ich bekannt bin. Aber die Verteilung von Geschenken liegt schon lange nicht mehr in meiner Hand. Das erledigen große Verteilerzentren auf der ganzen Welt inzwischen für mich, denn niemand braucht mehr einen dicken alten Mann, der am Weihnachtsabend im Kamin stecken bleibt und dessen Geschenke man nicht mehr umtauschen kann, wenn sie einem nicht gefallen.“ Er hielt kurz inne und blickte in die Ferne. „Deshalb habe ich umschulen müssen. Ich habe mich gefragt, wofür ich überhaupt noch gebraucht werde, was ich weitergeben kann, wenn ich keine materiellen Dinge mehr verteile. Dann fiel es mir ein: ich bin uralt! Und was zeichnet alte Menschen besonders aus? Jetzt kommt mir nicht mit dummen Sprüchen von wegen Blasenschwäche und Krückstöcke. Erfahrung natürlich, das zeichnet mich aus und das kann ich auch weitergeben. Ich habe mich also darauf konzentriert, Wünsche nicht mit materiellen Dingen, sondern durch Gedanken, Ideen und hilfreichen Tipps zu erfüllen. Und das werde ich auch für euch tun.“

Nuka runzelte die Stirn. „Und wie willst du damit den Staubsauger loswerden?“, fragte er verständnislos. Ja, in der Tat war er ein bisschen enttäuscht. Ziemlich enttäuscht sogar, denn das hätte er nicht erwartet. Da wäre es sogar besser gewesen, sie hätten den Weihnachtsmann gar nicht angetroffen! Aber so eine Enttäuschung, das war wirklich nicht zu fassen. Wie wollte dieser alte Herr ihnen bitte mit seiner Erfahrung das Zusammenleben mit diesem schrecklichen Teufelsteil erleichtern?

„Ich werde den Staubsauger nicht verbannen können“, erwiderte der Weihnachtsmann. Nun waren die beiden Katzen restlos entgeistert. „Was?“, rief Mika, „aber deshalb sind wir doch hier! Du bist doch der Weihnachtsmann!“ Nuka stupste sie vorsichtig an: „Hey, bleib ruhig“, sagte er beschwichtigend, „du hörst dich schon an wie dieses verrückte Eichhörnchen. Aber ehrlich –“ – er wandte sich an den Weihnachtsmann: „Was??? Wieso willst du uns nicht helfen?!“ Der alte Herr lachte jovial. „Bitte, regt euch nicht auf. Ich habe gesagt, ich werde dem Eichhörnchen helfen, auch wenn ich das jährliche Weihnachtsfest nicht abschaffen kann. Und ich habe gesagt, dass ich euch helfen werde, auch wenn ich den Staubsauger nicht entsorgen kann.“ „Aber wie willst du das denn machen?“, quiekte Mika, die sich nicht beherrschen konnte.
„Also“, hob der Weihnachtsmann an, „wie ich sagte, ich habe mich auf meine anderen Stärken besonnen und werde euch nun einen wertvollen Rat geben. Aber zuerst muss ich euch etwas zeigen.“ Er stand auf, ging hinüber zu einem halbhohen Schränkchen und kam kurz darauf mit einem kleinen Gegenstand in der Hand zurück. Dann setzte er sich wieder und streckte seinen Arm aus. In seiner Handfläche lag eine Vogelfeder, die an der Oberseite braun und zum Kiel hin weiß und flaumig wurde. „Diese Feder hat einmal einem Spatzen gehört“, erklärte er, „wisst ihr denn, was das für Vögel sind?“ Die beiden Katzen nickten, sie hatten die kleinen braunen Tiere lange durch das Küchenfenster hindurch beobachtet und auch im Garten von Lottas Mutter mehrfach erfolglos Jagd auf sie gemacht. „Seit zehntausend Jahren leben Spatzen dort, wo es Menschen gibt. Und heute sieht man sie immer noch in ihrer Nähe herumflattern. Das heißt, sie haben zehntausend Jahre Menschheitsgeschichte mitgemacht, mit allen Umbrüchen, Veränderungen, Krisen und Erfolgen. Viele Tiere sind in der Zwischenzeit ausgestorben, viele haben sich dem Menschen unterordnen müssen oder werden inzwischen von ihm genutzt. Doch der gemeine Sperling nicht, nein, er fliegt immer noch genauso wie vor zehntausend Jahren herum und das nicht nur in einem Bereich, sondern praktisch auf der ganzen Welt! Was denkt ihr, wie dieser kleine Vogel, der keine besonderen Talente oder Fähigkeiten hat, das geschafft hat?“

Die Geschwister überlegten. „Er wird sich wohl immer an die Umstände angepasst haben“, antwortete Nuka dann. „Genau!“, rief der Weihnachtsmann und seine Wangen röteten sich leicht, „er hat sich angepasst. Er hat nicht zum großen Schlag gegen die Veränderung ausgeholt, hat keine Kriege angezettelt oder ist aufmüpfig geworden – nein, er hat seine Einstellung geändert. Was machen Kohlmeisen, wenn dadurch, dass die Erde immer wärmer wird, ihre Kinder nicht genug Futter bekommen, nachdem sie geschlüpft sind? Sie legen ihre Eier einfach früher, sodass sie genau zu der Zeit mit den meisten Raupen zur Welt kommen! Sind Vögel nicht einfach fantastisch?“ Die beiden Katzen teilten zwar seine Faszination für Vögel – allerdings eher auf einer kulinarischen als auf einer wissenschaftlichen Ebene – was sie jedoch wohlweislich nicht preisgaben. Laut sagte Mika: „Ich verstehe immer noch nicht ganz, was du uns damit sagen willst.“ Der Weihnachtsmann lächelte sie an, dann steckte er ihr die Feder vorsichtig hinter’s Ohr. „Ich möchte euch nur die Möglichkeit aufzeigen, dass ihr nicht kämpfen müsst. Ihr könnt euch auch anpassen, wenn ihr es zulasst. Und wie euch der Spatz zeigt, kann daraus eine Erfolgsgeschichte werden. Wenn man die Dinge nicht ändern kann, dann muss man seine Einstellung zu ihnen ändern, sonst geht man zugrunde – obwohl ich doch bezweifle, dass ihr euch von so einem Staubsauger ins Bockshorn jagen lasst, oder?“

Nuka und Mika blickten sich an. Sie waren ratlos – aus dieser Perspektive hatten sie das Ganze noch nicht betrachtet. Sie wollten etwas erwidern, doch auf einmal ertönte ein Rauschen in ihren Ohren, dass sie ganz schwindelig machte. „Nun, was sagt ihr?“, fragte der Weihnachtsmann, doch das Rauschen wurde lauter und lauter, die Farben verschwammen vor ihren Augen, Rot, Weiß, Grün, Gelb formten einen Strudel und sie fielen kopfüber hinein. „Nuka!“, rief Mika leise und klammerte sich mit der Pfote an ihren Bruder, während sie den Boden unter den Füßen verloren.

Und mit einem Ruck saßen die beiden Katzen wieder fest in ihren Körpern und öffneten verdutzt die Augen. Das Rauschen lag immer noch in der Luft, allerdings war es bei weitem nicht so übermächtig wie eben. Nuka und Mika mussten sich erst einmal orientieren, ihnen war immer noch ein wenig schummrig zu Mute. Sie richteten sich auf und – blickten vom Sofa herab auf einen Staubersaugerroboter, der ruhig seine Kreise auf dem Wohnzimmerteppich zog! Nuka blickte seine Schwester erschrocken an: „Wir sind … zu Hause?!“ Die kleine Katze war völlig sprachlos. Sie schüttelte den Kopf, das war doch nicht möglich! Wie konnten sie so mir nichts, dir nichts wieder hier sein, wo sie doch eben noch in irgendeiner einsamen Hütte in Lappland mit dem Weihnachtsmann gesprochen hatten? Hatten sie die ganze Reise, die Abenteuer und alle Begegnungen etwa nur geträumt? Das alles schoss Mika durch den Kopf, während sie eben jenen immer noch fassungslos hin und her schüttelte. Durch die Bewegung löste sich etwas und eine Feder schwebte sanft schaukelnd, wie in Zeitlupe zu Boden – nur um im Moment des lautlosen Auftreffens von einem röhrenden Roboter eingesaugt zu werden. Die beiden Katzen blickten sich an. „Ich kann es nicht fassen“, flüsterte Nuka. „Ich auch nicht“, gab seine Schwester zurück, „aber irgendwie bin ich auch heilfroh, wieder zu Hause zu sein.“

Einige Tage später war Heiligabend gekommen und die Weihnachtsvorbereitungen hatten das Haus fest im Griff. Lotta und Georg überschlugen sich, denn in diesem Jahr hatten sie so viel Stress, dass sie kaum schafften, alles vorzubereiten. Während die beiden von Zimmer zu Zimmer hetzten und wahllos Dinge in die Hand nahmen und sie irgendwo ablegten, nur um Sekunden später zu vergessen, wo sie besagte Dinge hingelegt hatten, glitt eine majestätische Gestalt durch den Flur. Es war ein dicker, orangefarbener Kater, die Pfoten ordentlich nebeneinander gestellt und den Kopf stolz in die Höhe gereckt. Er saß auf einem Staubsaugerroboter, der unter ihm eifrig mit der Bürste ratterte. Mika hockte auf dem Bett, als ihr Bruder auf der saugenden Untertasse ins Zimmer gefahren kam. „Stopp!“, rief sie und der Kater stellte blitzschnell seine Pfote vor den Sensor. „Sensor verdeckt“, schnarrte das Gerät und stoppte sofort. „Vielen Dank“, maunzte Mika, hüpfte vom Bett, packte ihre Eule am Kragen, die auf dem Bettvorleger gelegen hatte und sprang damit wieder in die sichere Höhe. „Kannst weiterfahren“, fügte sie noch hinzu, der Kater postierte sich wieder wie zuvor und die Fahrt konnte fortgesetzt werden. Während er elegant den Sessel umrundete, schaute Nuka hinauf zu seiner Schwester und ihre Blicke trafen sich. Die kleine Katze lächelte und nickte ihm zu.

ENDE