Sechster Dezember

Ewan

Er hatte es nicht über sich bringen können, den Artikel zu veröffentlichen. Damit war ein ganzer Tag Recherchearbeit dahin. Das wusste Ewan auch ohne dass sein Vorgesetzter ihn zehn Minuten lang anbrüllte, man müsse sich moralische Prinzipien leisten können und wenn ihm so viel an der Würde des Einzelnen liege, dann solle er doch zum New Worker gehen. Er ließ die Tirade über sich ergehen, bis sie an den Punkt kamen, wo der Chefredakteur erschöpft die Arme sinken ließ und ihn wütend fragte, ob er eine Idee hätte, wie sie die Lücke im morgigen Blatt füllen sollten. Als Ewan ihm ein zweiseitiges Manuskript über einen Ladendiebstahl in West End präsentierte, schien er besänftigt und rauschte in sein Büro, die Glastür hinter sich zuknallend.

Ewan ging an seinen Schreibtisch und sortierte die zerstreuten Unterlagen, um sein Gedankenkarussell zu beruhigen. Er war mit der festen Absicht ins Bett gegangen, den Artikel zu veröffentlichen und Josephine Fairchilds Namen dabei ins Spiel zu bringen. Doch dann hatte ihn sein Bauchgefühl die ganze Nacht davon abgehalten. Nicht um ihretwillen – sie war in seinen Augen ein herzloser Mensch, der zur eigenen Bereicherung über Leichen ging – sondern für den Buchhalter. Etwas an dessen hastig dahingekritzelten Abschiedszeilen hatte ihn so betroffen gemacht, dass er Murrays Schicksal nicht vor der ganzen Stadt ausbreiten konnte. Sei’s drum, dass der Kerl Bilanzen gefälscht hatte und dabei selbst das ein oder andere Pfund aus den Büchern seiner Kunden in seine Tasche gewandert war. Aber war es schnödes Geld und ein guter Ruf wirklich wert, dass man sein ganzes Leben dafür hinwarf? Und wäre sein Artikel nicht unmittelbar dafür verantwortlich, dass Malcolm Murray der Nachwelt trotz seines verzweifelten Selbstmordes als Betrüger in Erinnerung blieb? Ewan ließ sich in seinen Stuhl fallen und stopfte sich eine Pfeife. Als der blaue Rauch durch den Raum schwebte, beruhigte er sich vollends.

Hinter ihm ertönte ein lautes Klopfen. Als er sich zu den hohen Fenstern umwandte, durch die man von der Straße aus einen Blick in die Redaktion werfen konnte, drückte sich dort ein ihm wohlbekanntes Kind mit dem Gesicht an die Scheibe. Er gab ihm ein Zeichen, stand auf und warf den Mantel über. Dann trat er auf die Straße, wo ihn der andere sofort ansprach. „Guten Tag, Mr. Cunningham, Sir“, begann der rothaarige Junge. „Grüß dich William – hatten wir einen Termin, den ich verpasst habe?“, fragte Ewan zerstreut. „Nein, nein, Mister, wir hatten keinen Termin.“ Plötzlich wurde er still. Ihn schien ein Gedanke gepackt zu haben, deshalb wartete Ewan geduldig, bis er fortfuhr. „Ich … ich habe mir das wohl nicht recht überlegt …“ „Was meinst du denn?“ Nun war die Neugier des Journalisten geweckt. „Du wirst doch aus einem Grund hergekommen sein. Nur zu, ich fresse dich schon nicht auf.“ William schien immer noch unsicher zu sein, ob der Erwachsene die Wahrheit sagte und presste die Lippen aufeinander. Nun gut, dann würde er das tun, was er immer tat, wenn er unwillige Gesprächspartner zum Reden bringen musste. Er griff den Jungen sanft beim Arm und geleitete ihn zum World’s End.

Der Pub war nur wenige Schritte von der Redaktion entfernt. Die kobaltblau gestrichene Fassade des Wirtshauses hob sich deutlich von den Backsteinen des Gebäudes ab und über dem Eingang prangte der Name in vergoldeten Lettern. „Das Ende der Welt“ erinnerte an die Zeiten, in denen die Stadt der Stelle, an der die High Street in Canongate floss, mit einer mächtigen Mauer geendet hatte. Doch diese Tage waren vorbei. Lumpige Vororte schmiegten sich an die ehemaligen Stadttore und krallten sich an der Altstadt fest, die selbst bereits aus allen Nähten platzte. Ewan hielt die Tür für den Jungen auf und ein Schwall warme Luft überrollte sie. Im Inneren war die Luft stickig, aber nicht unangenehm. Es roch nach Bier und aufgebackenem Brot, im offenen Kamin prasselte ein großes Feuer. Nur wenige Gäste waren außer ihnen in der Gaststube, darunter vor allem Gentleman, die ihr Mittagsmahl einnahmen. Ewan kam gern hierher, weil der Wirt niemanden duldete, der seine Polster verdreckte oder so viel trank, dass er die Beherrschung verlor. Das World’s End war trotz seines Namens, der andere Assoziationen wecken mochte, ein Pub, der eine Kundschaft mit einer gewissen Selbstachtung anzog.

Er wies den Jungen zu einer Nische neben dem Kamin, die außer Hörweite der anderen Gäste war. Dann ging er zum Tresen und bestellte zwei Limonaden, dazu Brot mit Butter und ein paar Scheiben Roastbeef. Kaum hatte er sie auf dem Tisch abgestellt, zuckte William, konnte sich aber gerade noch beherrschen. „Greif zu“, forderte er ihn auf, „dafür habe ich es doch bestellt.“ Nun gab es kein Halten mehr. Nach zehn Minuten lagen die Teller sauber geleckt vor ihm und der Junge wischte sich zufrieden den Mund ab. „Danke, Mr. Cunningham“, schnaufte er, während Ewan ihn erwartungsvoll betrachtete. „Also, wirst du mir nun glauben, dass du mir einfach sagen kannst, weshalb du zu mir gekommen bist?“ William nickte heftig und stürzte die Limonade mit einer Geste hinunter, wie es Männer tun, die sich Mut antrinken müssen. Ewan konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, der Junge mochte vom Alter her noch kein Erwachsener sein, innerlich war er aber schon lange kein Kind mehr. William arbeitete seit über einem Jahr für ihn und hatte sich nie unangebracht verhalten. Was auch immer ihn hergeführt hatte, es musste ernst sein.

„Es ist so“, begann der Junge dann, „ich bin gekommen, um Sie um einen Gefallen zu bitten.“ Sofort blickte er Ewan prüfend ins Gesicht und setzte nach: „Aber Sie müssen ablehnen, wenn ich damit zu weit gehe! Versprechen Sie mir, dass Sie es mir nicht übel nehmen, ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Ewan lächelte. „Als Journalist kann ich dir sagen: Fragen kostet nichts. Fahr schon fort.“ „Na gut … also ich brauche Ihre Hilfe, weil ich nicht weiß, wen ich sonst fragen soll. Bei der Polizei war ich schon, die hat mich fortgeschickt – meinten, Kinder laufen heutzutage ständig davon. Unser Aufseher will nichts davon wissen. Der ist nur froh, dass es weniger Mäuler zu stopfen gibt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Boyd, Fife-Fergus und Big Yin abgehauen sind. Ich meine, sie sind Waisen, wohin sollte sie gehen? Sie haben nichts außer das Armenhaus. Ich kenne sie, da gibt es keine Verwandten, keine Familie, zu der sie gehen könnten. Sie …“ Nun unterbrach Ewan behutsam den Redefluss des Jungen. „Habe ich das richtig verstanden? Bei euch verschwinden Kinder?“

William nickte heftig. „Es ist immer dasselbe, hab es schon ein paar Mal beobachtet. Sie reden nicht mehr mit uns, fangen an, sich komisch zu benehmen und wollen immer allein losziehen, wenn wir einen freien Nachmittag haben. Bei Fergus habe ich es versucht, habe ihn zur Rede gestellt. Er hat mich beschimpft und abgehauen. Dann bin ihm heimlich gefolgt, doch in einer der Gassen habe ich ihn verloren. Das war der Tag, an dem er nicht mehr zurückgekommen ist.“ Unbewusst hatte Ewan seinen Block herausgeholt und mit der Selbstverständlichkeit des Reporters begonnen, sich Notizen zu machen. William sah ihn erwartungsvoll an. „Ich habe wohl nicht viel mehr, was ich Ihnen sagen kann“, sagte er dann verzweifelt, „aber bitte, helfen Sie mir trotzdem?“ Ewan griff in die Manteltasche und schob sich den Kneifer auf die Nase. „Du brauchst mich nicht weiter zu überzeugen. Fangen wir beim ersten Kind an, das verschwunden ist.“

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