Ewan
Am folgenden Tag war er immer noch wütend. Die Piraten von Penzance hatten nur wenig an seiner miserablen Laune ändern können. Seine Gedanken kreisten um die Begegnung mit Josephine Fairchild. „Dass man sich von solchen Individuen abhängig machen muss, ist doch der eigentliche Skandal“, murmelte Ewan Cunningham und kickte einen verfaulten Apfel quer über den Bürgersteig, der ihm im Weg gelegen hatte. Um von der Redaktion zur Blackfriars Street zu gelangen, musste er die Altstadt durchqueren. Auld Reekie, ‚die alte Stinkende‘, war heute wieder in Höchstform – „wo auch immer Walter Scott unterwegs war, als er Canongate als Pfad zu den Sternen bezeichnet hat, hier kann es nicht gewesen sein“, dachte Ewan grimmig. Glücklicherweise war er bereits an einem Großteil der Brauereien vorbei, deren säuerlicher Dunst sich zwischen den hohen Häusern festgesetzt hatte. Immerhin konnte man sich gegen den Gestank schützen, indem man sich die Nase zuhielt – das Elend ansehen, das war eine andere Sache. Mit geschlossenen Augen lief es sich schlecht. Ewan gab sich alle Mühe, seine Aufmerksamkeit den wenigen Metern vor seinen Füßen zu widmen, doch sein Blick wanderte immer wieder zu den Menschen, die die Straße bevölkerten oder hinter den Fenstern der Häuser auftauchten.
Vor allem Frauen sah er, in mehr oder weniger zerschlissener Kleidung. Männer, die sich zu dieser Tageszeit hier aufhielten, waren meist ohne geregelte Arbeit und daher aller Wahrscheinlichkeit nach Invalide, Trinker oder Stadtstreicher. An einer Wasserentnahmestelle drängte sich ein Pulk Menschen und als er vorüberging, entbrannte ein lautstarker Streit über die Frage, wer zuerst Wasser schöpfen dürfe. Zwischen den Beinen der Erwachsenen stolperten kleine Kinder mit schmutzigen Gesichtern umher. Einige waren, wie Ewan erschrocken feststellte, barfuß. Je weiter er sich der Innenstadt näherte, desto schlimmer wurde es. In einer Seitenstraße bot sich ihm ein besonders trauriges Bild. Auf halb geschmolzenem Schneematsch saßen zahlreiche Frauen mit ihren Familien herum und baten die Vorbeieilenden um einen Pence für den Kohlenmann.
Die meisten Häuser waren bis unter das Dach belegt, selbst aus den Kellergewölben, die teilweise offene Löcher statt Fenster besaßen, drangen Stimmen zu ihm herauf. An einer Hauswand erleichterte sich gerade ein Mann, ohne sich dabei um eine mögliche Zuschauerschaft zu scheren. Ewan verzog das Gesicht und beschleunigte seine Schritte. In der Ferne sah er bereits die Krone der St. Giles-Kathedrale, doch zum Glück blieb ihm der weitere Abschnitt der High Street erspart und er konnte vorher in die Blackfriars Street einbiegen. Die Straße war leicht abschüssig und geschmolzener Schnee floss in Rinnsalen durch das Kopfsteinpflaster, vermischt mit Unaussprechlichem. Ewan fand das Kontor im Hochparterre eines verwinkelten Hauses. Über dem Eingang hing das Schild mit der Aufschrift Murray and Co. Accountancy leicht schief. Er stieg die Stufen zur Tür hinauf, die von zwei großen holzgerahmten Fenstern flankiert wurde. Auf sein Klopfen öffnete ihm ein junger Mann, der in einen braunen Wollpullover und schwarz karierte Webhosen gekleidet war. Seine Haare waren zerzaust, allem Anschein nach hatte er sich heute bereits mehrfach gerauft.
„Guten Tag Sir“, begrüßte er ihn fahrig, „kann ich Ihnen helfen?“ „In der Tat, das können Sie“, gab Ewan zurück und stellte sich und sein Anliegen vor. Der Angestellte hörte zu, dann nickte er und stieß die Tür auf, damit er eintreten konnte. Drinnen erwartete ihn ein geschäftiges Treiben. Der Raum hatte eine niedrige Holzdecke, alle Wände waren mit Aktenschränken vollgestellt. An den Seiten waren mehrere Schreibtisch, um die sich jeweils eine Gruppe von Männern versammelt hatten und besorgt in aufgeschlagene Bücher blickten. Hier wurde laut diskutiert, dort konzentriert gerechnet und etwas aufgeschrieben. Der Buchhalter, der Ewan hereingelassen hatte, führte ihn zu einem der Schreibtische, den unaufgeräumtesten von allen. „Wir sind die jüngsten Unterlagen bereits durchgegangen“, sagte er und deutete erklärend auf die zerstreuten Papiere. „Sind Sie fündig geworden?“ Der Mann zuckte mit den Schultern. „Finden Sie mal die Nadel im Heuhaufen, wenn Sie nicht mal wissen, wo sich der verdammte Heuhaufen überhaupt befindet“, gab er zurück. „Die Polizei hat uns nur sein Abschiedsschreiben übergeben, wahrscheinlich in dem Glauben, dass etwas Aufschlussreiches für uns darin steht. Im Gegenteil, wir haben dadurch nun erst richtig Ärger. Jetzt durchsuchen wir alle Bücher nach dem Grund, weshalb jemand Mister Murray erpressen …“
In diesem Moment flog die Tür auf und ein elegant gekleideter Herr von kräftiger Statur wuchtete sich über die Schwelle. Begleitet wurde er von einem anderen Mann, der zwei Schritte hinter ihm ging – sofort erkannte Ewan Herrn und Diener. Archibald MacGregor entstammte einer Dynastie von Austernfischern und hatte es als Erster von ihnen vollbracht, zum Geldverdienen nicht mehr selbst in den Firth of Forth hinaus segeln zu müssen. Er ließ wohl auch seine Bücher von Murray and Co. halten – ein Umstand, über den er derzeit nicht sonderlich erfreut zu sein schien. „Wo ist Sinclair?“, brüllte er und knallte mit seinem Gehstock gehen einen der Schreibtische, als die Antwort nicht schnell genug kam. Einer der Buchhalter löste sich aus der Menge und ging beschwichtigend auf ihn zu. „Guten Tag Sir, bitte nehmen Sie doch erst einmal Platz…“, begann er, doch er wurde unterbrochen. „Ich will sofort wissen, ob meine Bücher sauber sind!“ „Bitte, Sir“, hob der Angestellte wieder an und wies auf den Tisch, an dem er gerade gestanden hatte, „wir sind in diesem Augenblick dabei, Ihre Bücher zu prüfen. Bislang haben wir keinerlei Auffälligkeiten feststellen können. Aber schauen Sie bitte selbst.“ MacGregor fauchte seinen Sekretär an, er solle sich gefälligst darum kümmern und ließ sich dann schnaufend in einen Sessel fallen, wo er wütend an die Decke starrte.
Ewan wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu. „Dürfte ich mir den Abschiedsbrief einmal ansehen?“, fragte er. Der andere zuckte mit den Schultern. „Tja, mehr Schaden dürfte das ohnehin nicht ausrichten“, sagte er und ging zu einem Beistelltisch. Als er zurückkehrte, hielt er das Stück Papier in der Hand, aus dem MacKay ihm bereits einige Passagen verraten hatte. „Legen Sie es einfach an die Seite, wenn Sie fertig sind“, sagte der Mann und entschuldigte sich dann, er müsse dringend weiterarbeiten. Mit dem geübten Blick des Journalisten überflog Ewan das Papier. Tatsächlich, der Brief enthielt wenig Hilfreiches, jedoch erhärtete er seinen Verdacht, dass Murray erpresst worden war. Die Handschrift war fahrig und ein Blick auf die sauber verfassten Einträge in den aufgeschlagenen Bücher auf seinem Schreibtisch genügte, um zu sehen, dass das Gekritzel von jemandem in aufgewühltem Gemütszustand stammte. Plötzlich richtete sich Ewan kerzengerade auf – „Das ist es!“, hätte er fast gerufen, konnte sich aber gerade so noch zurückhalten. Da stand es, schwarz auf weiß: „Es gibt für mich keinen Grund weiterzuleben, wenn sie es weiß.“ Vermutlich hatten alle anderen dabei an Murrays Frau gedacht. Aber „weiß“ – warum hatte er nicht „wüsste“ geschrieben? Natürlich – er hatte nicht seine Frau gemeint, sondern Josephine.
Auf dem Weg zurück zur Hauptstraße war Ewan Cunningham tief in Gedanken versunken. Als Journalist, der etwas auf sich hielt, müsste er ihr das Handwerk legen. Er beobachtete Miss Fairchilds Aktivitäten schon lange und hatte das ein oder andere Mal davon profitiert, doch nun war er erschüttert. Es gab Grenzen und diese waren für ihn mit dem Selbstmord Murrays eindeutig erreicht.