ADVENTSGESCHICHTE 2017

Es war einmal …
vor gar nicht allzu langer Zeit eine Prinzessin. Die wollte all die schönen Dinge des Lebens genießen, so, wie sie des Wegs kamen. Doch die schönen Dinge kosteten leider viel Geld. So gab sie nach und nach ihr ganzes Vermögen hin, für ein prunkvolles Schloss, Samt und Seide, teure Perlen und Geschmeide – ja, sogar zwei bengalische Tiger ließ sie sich aus Indien einschiffen. Die Zeiten ihres großen Reichtums waren bald dahin, besonders die Tiger fraßen wortwörtlich das Geld auf.
So saß sie eines Tages in ihrem Schloss und die Weihnachtszeit nahte heran. Die Prinzessin hockte gelangweilt auf einem mit Smaragden verzierten Sessel und pulte sich etwas Goldstaub aus dem Ohr. Von draußen strömte der Duft von frisch gebackenen Lebkuchen herein. Und als sie so schnupperte, fiel ihr mit Schrecken ein, dass sie ihrer Familie einen Adventskalender versprochen hatte. Man muss nämlich wissen, in dieser Königsfamilie wurde Tradition noch großgeschrieben, und so war es in jedem Jahr eine Pflicht, dem anderen einen persönlichen Adventskalender zu basteln. Selbstgemacht musste er sein, mit kleinen Kostbarkeiten gefüllt, aber vor allem kreativ und unter keinem Umständen einer, den man im Laden erwerben konnte. Aber wie sollte sie in der Kürze der Zeit so einen Adventskalender heranschaffen, ohne auch nur einen Schilling in der Tasche? Die arme Prinzessin warf sich auf die vergoldete Lehne ihres Sessels und weinte lange und bitterlich. Ihre Familie würde sie verstoßen, dessen war sie sich ganz sicher, erhielten sie in diesem Jahr keinen Adventskalender. Was für ein unverzeihliches Vergehen in den Augen ihrer blaublütigen Verwandtschaft!
Da fiel ihr Blick auf die beiden bengalischen Tiger, die fettgefressen und zufrieden schnurrend auf dem Marmorboden zu ihren Füßen ruhten. Diese beiden hatten seit ihrem Einzug in das Schloss für einigen Trubel im Leben der Prinzessin gesorgt. Einer der beiden war deutlich dicker und liebte Hummerpastetchen, und während sie noch daran dachte, wie viel sie in den letzten Monaten für den exquisiten Geschmack dieser Raubtiere ausgegeben hatte, erhob sich der füllige Tiger und schlenderte in Richtung Küche, wohl um in einen der Küchenschränke einzubrechen und sich ein weiteres Nachtmahl zu genehmigen. Und plötzlich kam der Prinzessin eine Idee. Wenn man in eine strikte Familie geboren wird, dann ist das per se nichts schlechtes, denn man lernt mit dem umzugehen, was man hat. Und wenn diese Tiere auch ihr ganzes Vermögen aufgefressen hatten, dann sollten sie zumindest für irgendetwas gut sein!
Sie raffte ihre Samtröcke zusammen und stürmte ins Arbeitszimmer, zum Schreibtisch. Ein Stück Papier war schnell gefunden und bald flog die Spitze ihres Federhalters über das Blatt. Zeile um Zeile, Seite um Seite wuchs das Schriftstück, und als sie endlich zur Ruhe kam und vom Schreiben abließ, war es bereits tiefste Nacht.
Die Prinzessin suchte die Seiten zusammen, die über den Boden des Zimmers verstreut lagen, nahm sich das erste Blatt und las, was sie geschrieben hatte.
1. Dezember
Eines Morgens hatte es geschneit.
Der Schnee lag wattig weiß auf den Dächern der Stadt und dämpfte den Lärm der Autos und Straßenbahnen. Menschen stapften eilig durch die dämmrigen Straßen, rafften ihre Wollschals enger um die Hälse und versuchten, auf dem glatten Boden nicht auszurutschen.
Nuka hatte einen sehr angenehmen Morgen gehabt. Der dicke Kater war auf seinem Kissen auf dem Kühlschrank erwacht, sein orange-getigertes Fell war warm und die rosafarbene Nase erschnupperte einen angenehmen Geruch. Was konnte das nur sein? Bevor er sich aufmachte, das herauszufinden, musste er sich erstmal ausstrecken. Er machte sich lang, ganz lang und senkte seine Krallen in das Kissen. Ah, tat das gut! Er schüttelte die Hinterbeine aus und entknotete sein Schwänzchen, welches sich über ihm wie ein Fragezeichen ringelte, während er majestätisch durch die Küche trottete.
Also, jetzt hieß es herauszufinden, woher der köstliche Geruch stammte. Dieser war stärker geworden, es war auf jeden Fall etwas Essbares. Und an Essbarem war er generell interessiert. Besonders am Morgen, wenn er nach der langen Nacht seinen leeren Magen deutlicher denn je spüren konnte. Er horchte in sich hinein und sein Bauch antwortete mit einem Knurren. Keine Frage – er hatte Hunger! Kümmerte sich in diesem Saftladen denn niemand um seine Haustiere?
Nun musste er sich machen. „Hallo?“ Keine Antwort. „Haaaallooo!“ Lauter und langgezogener hallte sein Miauen durch die Küche. Langsam wurde er ungeduldig. Jeden Morgen die gleiche Nummer. „HALLO?!“ Plötzlich bemerkte einen Luftzug an seiner Seite – da lag er schon auf dem Boden und etwas Graues biss ihn schmerzhaft ins Ohr.
„Halt endlich die Klappe, du nervst!“, schrie Mika, als sie von ihm abließ. Seine Schwester, die schüchterne, aber etwas aufbrausende Katze, hatte sich von hinten an ihn herangeschlichen und ihn überwältigt. „Lass mich in Ruhe“, gab Nuka zurück und schnappte nach ihrem Hinterteil. Sie wich ihm geschickt aus und galoppierte vor ihm her durch den Flur. Eine wilde Verfolgungsjagd entspann sich, bei welcher Mika letztlich den Kürzeren zog, denn der Kater machte zwar einen behäbigen Eindruck, konnte sich aber, wenn es darauf ankam, sehr schnell bewegen. Fauchend und quiekend wälzten sich die beiden schließlich auf dem Bettvorleger, als sie eine laute Stimme zur Räson brachte. „Hey, sagt mal, geht’s noch? Schluss damit!“ Es war Lotta. Mit einem merkwürdigen Turban auf dem Kopf und in ein Handtuch gewickelt, stand sie im Türrahmen und machte einen ungehaltenen Eindruck. Nuka ließ von Mika ab und hoppelte miauend auf sie zu. „Da bist du ja endlich“, quasselte er drauflos, „ich hab schon gedacht, du würdest nie kommen, denn ich hab, ehrlich gesagt, einen Riesenhunger, du müsstest mir nur den Gefallen tun und die Dose für mich aufmachen, also so eine Dose mit meinem Futter drin, nicht so eine mit den komischen Bohnen, die du immer isst, und dann das Ganze in meinen Futternapf tun, außerdem riecht es in der Küche sooo lecker und ich habe mich gefragt, ob das was du da kochst, auch für Katzen geeignet ist, denn ich würde mich zur Verkostung bereit erklären—“ Lotta unterbrach ihn: „Ach Nuka, schrei mich doch am frühen Morgen nicht so an. Ich bin gerade mal aus der Dusche raus, darf ich mich eben noch anziehen?“ „Nein, nein, nein!“, schrie Nuka, „Ich kann überhaupt nicht, wirklich nicht und unter gar keinen Umständen noch länger warten! Ich bin schon völlig abgemagert und ganz spitz im Gesicht geworden, sofort muss etwas Essbares her!“ — und biss Lotta in die Wade.
„Aua! Also jetzt wartest du erst recht! Bei dir piept’s wohl!“
Eine Viertelstunde später saß Nuka schmatzend über seiner Schüssel und versuchte, sein Essen so schnell es ging herunter zu schlingen. Lotta war wieder ins Bad gegangen und wenn er sich beeilte, konnte er sich an Mikas Schüssel bedienen. Wie ein Hamster stopfte er sich alles in die Backen, aber als er zu seiner Schwester hinüberrannte, tauchte Lotta aus dem Nichts auf, packte ihn am Kragen und verfrachtete ihn ins Bad, wo er schmollend auf der Waschmaschine hockte. Da klingelte es an der Tür. Das musste Georg sein! Endlich war er nach Hause gekommen! Mit einem riesigen Satz sprang Nuka von der Waschmaschine herab und stürmte in den Flur. Auch Mika war von ihrem Essplatz zur Tür gerannt, so sehr freuten sich die beiden seit Wochen auf die Rückkehr von Georg. Vor der Haustür blieben sie stehen und miauten steinerweichend. „Na los, macht mal ein bisschen Platz“, kommandierte Lotta und schob die beiden zur Seite, um an die Sprechanlage treten zu können. „Ja, hallo?“, sagte sie in den Hörer und ein paar Minuten später stand ein Postbote vor der Tür, um ein Paket abzugeben. Lotta nahm es entgegen, schloss die Wohnungstür und ging zurück ins Bad, um sich die Haare zu föhnen.
Unterdessen standen Nuka und Mika unten auf der kalten Straße im Schnee und die schwere Eingangstür fiel hinter ihnen ins Schloss.
2. Dezember
Wie war das passiert?
Seit Tagen hatten die beiden Katzen an der Tür Patrouillendienst geschoben. Georg musste ja irgendwann wieder nach Hause kommen, das stand außer Frage. Aber dieser Tag war nun schon so lange nicht gekommen und langsam wurden Nuka und Mika ungeduldig. Sie vermissten Georg, den Freund von Lotta, diesen merkwürdigen Vogel, der kam und ging, wann er wollte, und der so verführerisch nach Bratwürstchen und Pommes roch. Obwohl er meist gestresst war, gab er ihnen heimlich Snacks, wenn Lotta nicht hinschaute und Mika kuschelte sich abends gern auf seinen Schoß, wenn er noch lange am Computer arbeiten musste.
Als Lotta nun die Tür geöffnet hatte, waren die beiden durch die Beine des Postboten gehuscht, die Treppe herunter und durch den offenen Spalt der großen Haustür auf die Straße gelangt. Es war eine blöde Idee gewesen, soviel stand fest. Draußen war es nass, kalt und laut – drei Dinge, die Katzen alles andere als lieben. „Was war das denn?“, fauchte Nuka seine Schwester an, denn sie war vorangestürmt. „Ich wollte Georg suchen“, maunzte sie und blickte sich verzweifelt um, „immer wenn er geht, geht er durch diese Tür. Deshalb muss er doch hier irgendwo sein!“ Große Beide in dicken Winterstiefeln hasteten an ihnen vorbei und die beiden Katzen mussten sich an die Hauswand drücken, sonst wäre ihnen wohl noch jemand auf das Schwänzchen getreten. „Komm, wir gehen einfach wieder nach rein, wenn der andere Mann rauskommt. Lotta wird uns oben schon reinlassen, wenn ich nur laut genug rufe“, entschied Nuka. „Aber was ist, wenn der Mann jetzt bei uns wohnt und nicht mehr rauskommt?“ „Ach Quatsch, außerdem wird uns Lotta ja auch irgendwann vermissen. Lass mich mal machen.“ Er postierte sich vor der Tür und Mika versteckte sich in seinem Schatten.
Auf einmal durchschnitt ein ohrenbetäubendes Geräusch die kalte Winterluft. Ein Auto war auf ein anderes aufgefahren und der Fahrer drückte mit der Hand auf die Hupe. Mika sprang vor Schreck einen halben Meter in die Luft und sauste um eine Häuserecke davon. „Hey, du dumme Nuss, bleib doch stehen!“, rief Nuka und rannte hinter ihr her. Zwei Blöcke weiter, in einem Park, konnte er sie schließlich einholen, sie hatte sich in einem Gebüsch versteckt und zitterte am ganzen Leib. „Was sollte denn das?“, rief Nuka, „Das war doch bloß ein Auto!“ Die kleine Katze brachte gar kein Wort heraus, so sehr saß ihr der Schreck noch in den Knochen. „Ich … ich …“ stammelte sie. „Ja, ich weiß, du hast dich erschrocken. Aber jetzt krieg dich mal wieder ein, du kennst das Geräusch doch. Es war nur ein Auto, damit sind wir auch schon gefahren.“ Bei Mika sträubten sich bei der Erinnerung alle Haare. „Autofahren … ich hasse Autofahren…“, knurrte sie.
„Ja, ist ja gut“, gab Nuka beschwichtigend zurück, „aber jetzt machen wir besser, dass wir nach Hause kommen, sonst erfrieren wir hier noch. Falls es dir nicht aufgefallen ist, es ist ein bisschen frisch heute.“
Nach ein paar Minuten war Mika soweit, das Gebüsch zu verlassen und die beiden Katzen stapften mit klammen Beinen durch den Schnee, der bei jedem Schritt ungewohnt schmerzhaft in ihre Füße zu beißen schien. Die beiden hatten ihr Leben lang in der Wohnung verbracht, außer einige Male, die sie den Garten von Lottas Mutter erkunden durften – aber da hatte kein Schnee gelegen.
„Nur noch um diese Ecke“, sagte Nuka über die Schulter, „dann sind wir gleich wieder zu Hause.“ Er wandte seinen Kopf wieder nach vorn, gerade noch rechtzeitig, denn ein riesiger Lastwagen rollte direkt an ihm vorbei. Nuka riss überrascht die Augen auf, denn die beiden Katzen standen nicht, wie erwartet, vor ihrer Haustür, sondern am Rand einer dreispurigen Autobahn – und ihr Zuhause war weit und breit nicht in Sicht.
3. Dezember
Völlig durchgefroren wanderten die beiden Katzen durch die Straßen, auf der Suche nach der Tür, die ihnen den Weg in ihr warmes Zuhause eröffnen sollte. Doch sie fanden sie einfach nicht wieder. Mika stapfte hinter Nuka her und schniefte leise vor sich hin. Sie war bei weitem nicht so beleibt wie Nuka, fror deshalb schneller und außerdem lief ihr die Nase – halb vor Kälte, halb vor unterdrückten Tränen. Auch der Kater begann langsam, die Hoffnung aufzugeben.
Als sie an einer Kreuzung ankamen, die sie noch nie zuvor gesehen hatten, wandte sich Nuka resigniert zu seiner Schwester um. „Ich geb’s auf! Ich habe keine Ahnung, wo wir hier eigentlich sind. Das ist doch zum Verrücktwerden! Und du – hör endlich auf zu Heulen! Das bringt uns nicht weiter!“ „Aber … unser Zuhause …“, schluchzte Mika und nun rannen ihr die Tränen über die Wangen, „Unser Zuhause finden wir bestimmt nie wieder! Und das ist alles meine Schuld!“ „Naja, du hast zumindest einen großen Anteil dran, dass wir jetzt in diesem Schlamassel stecken“, gab Nuka muffig zurück, „aber das können wir jetzt nicht rückgängig machen.“ Nach einer kurzen Pause richtete er sich auf und reckte stolz die Brust: „Sei bloß froh, dass ich bei dir bin. Ich kriege das schon hin. Und jetzt straff’ dich mal ein bisschen. Das kann man sich ja nicht mit ansehen, so ein Häufchen Elend.“ Er schmiegte seinen Kopf an ihre Stirn und ihr Schluchzen wurde leiser.
Die beiden Katzen beschlossen, noch einmal frisch und mit neuem Mut auf die Suche zu gehen. Sie kamen an vielen verschiedenen Häusern, Garageneinfahrten und Gartenzäunen vorbei, wärmten sich im Eingang von Geschäften auf, doch auch nach mehreren Stunden blieb die eine Tür erfolgreich vor ihnen verborgen. Langsam wurde es dunkel und das Licht der Straßenlaternen tauchte den Schnee auf dem Bürgersteig in einen orangefarbenen Schein. Nicht nur war der kalte Wind, der durch die Häuserschluchten zog, stärker geworden, auch war ein weiteres Problem dazugekommen: Nukas Magen machte sich bemerkbar. „Ich glaube, wir sollten mal nach etwas Essbarem suchen“, schlug er vor, während sie im warmen Dunst eines Entlüftungsschachts standen und ihre eisigen Füße auftauten. Mika überlegte. „Ich habe dort hinten ein paar Mülltonnen gesehen. Häufig werfen die Menschen ja etwas weg, was eigentlich noch essbar ist – als wir noch den alten Mülleimer hatten, hast du den doch auch regelmäßig geplündert!“ „Gute Idee!“, antwortete Nuka begeistert. Von der Aussicht auf Nahrung gestärkt, lief er zügig zu den großen, schwarzen Mülltonnen, die neben einem der Häuser standen. Er sammelte seine Kräfte, sprang dann am Rand der Tonne hoch, stellte in der Luft fest, dass deren Deckel offen gewesen war und flog mit hohem Bogen in den Container. Dort war es dunkel, roch muffig und seine Vorderpfoten standen auf unangenehm feuchtem Grund. Als er eine Tatze zur Nase führte, verzog er das Schnäuzchen. Pfui, was war denn das?
„Und, gibt’s da was?“, hörte er Mika von draußen rufen. „Ich weiß noch nicht, aber ich bin in irgendwas Ekliges getreten!“, antwortete er. „Na, dann komm wieder raus, es gibt ja noch andere Tonnen.“ Doch Nuka hatte nicht vor, so schnell aufzugeben. Mit einer Kralle schlitzte er den schwarzen Sack auf, auf dem er stand. Plastikverpackungen, Zeitungspapier, Orangenschalen und anderer Müll quollen ihm aus dem Spalt entgegen. Nuka versuchte, etwas Essbares über dem fauligen Gestank, der alles übertünchte, zu wittern. Hier musste es doch etwas geben und er hatte sich vorgenommen, das auch zu finden. Hungern war keine Option.
Mika stand derweil draußen und fror sich den pelzigen Hintern ab. Wie lange brauchte dieser Kater? Am Ende hockte er in der Tonne und fraß alles alleine auf. Zuzutrauen wäre es ihm. Zuhause bediente er sich auch mit einer Selbstverständlichkeit an ihrem Napf, wieso sollte es hier anders sein. Schon bei dem Gedanken daran sträubten sich ihr die Nackenhaare vor Wut – so ein Vielfraß! „Hey, sag’ mal, kommst du da wieder raus, oder was?“, schrie sie aufgebracht, nachdem sich minutenlang kein Lebenszeichen aus der Tonne gezeigt hatte.
Da vernahm sie eine raue Stimme hinter sich, die wie ein Reibeisen klang, über das man eine Messerklinge zieht.
„Wat wird’n dit, wenn’s fertig is’?“
4. Dezember
Mika fuhr herum.
Zuerst erkannte sie nicht, wer da im Schein der Straßenlaterne vor ihr stand. Dann gewöhnten sich ihre Augen an das Gegenlicht. Der Besitzer dieser merkwürdigen Stimme war eine dicke, graue Ratte, die einen weißen Fleck auf dem Rücken hatte, der sich um ihre Seite bis auf ihren Bauch erstreckte und sie wie eine Kuh im Miniaturformat aussehen ließ. Mika war zwar ängstlich, aber sie wusste, dass sie jetzt stark sein musste. Üblicherweise gab es nur zwei Optionen: Angriff oder Flucht. Ein Angriff konnte sich durchaus lohnen, ihr Gegenüber war deutlich kleiner als sie, und sein runder Bauch und seine behäbige Art sprachen nicht für einen Gegner auf Augenhöhe. Eine Flucht hätte sie vielleicht noch weiter von Nuka weggeführt, der immer noch nichtsahnend in der Tonne hockte und außerdem, bei ihrem Glück, wäre sie erneut zwischen den fremden Häusern verloren gegangen. Sie entschied sich also für einen Angriff, doch zuvor wollte sie die Ratte erstmal ein bisschen einschüchtern – vielleicht reichte das ja schon. Sie streckte sich nach oben, so sehr sie konnte, türmte ihren Rücken in einen hohen Buckel, stellte alle Haare auf und legte die Ohren seitlich an. Ihr Maul öffnete sich breit zu einem durchdringenden Fauchen und offenbarte eine Reihe weißer, spitzer Zähne. „Hau bloß ab“, knurrte sie, „wenn du nicht willst, dass ich dir wehtue.“ Die Ratte wich jedoch keinen Schritt zurück und fixierte die Katze weiterhin mit festem Blick und verschränkten Ärmchen.
Mitten in diese angespannte Szenerie hinein reckte Nuka seinen Kopf aus der Tonne. „Hey!“, schrie er, „Ich hab’ was gefunden!“ Die beiden Kontrahenten blickten sich erschrocken zu ihm um. Er gab ein lächerliches Bild ab, wie er da über dem Rand des Containers hing, seine Schnurrhaare standen in alle Himmelsrichtungen ab und auf seinem Kopf klebte ein alter Kaugummi samt Papier. Eine lange Nudel hing ihm aus dem Maul. Mika und die Ratte starrten fassungslos den Anblick an, der sich ihnen bot. Dann löste sich der Fremde aus seiner Starre und stemmte die Pfoten aufgebracht in die Hüften.
„So, sacht ma’, geht’s noch bei euch? Ihr denkt ooch, dat is’ hier ’n Selbstbedienungsladen, oder wat? Echt ’ne Unverschämtheit, und dann werd ick ooch noch anjefaucht. Es jibt Regeln, an die man sich ma‘ halten könnte. Terroterium un’ so.“ „Terro – was?“ Nuka war mit einem Satz aus der Tonne gesprungen und kam zu den beiden gelaufen. „Terroterium – hast wohl auch wat von dem Kaujummi ins Ohr jekriegt. Wat bist’n du überhaupt für’n Vogel? Noch nie „Träsch-Känn-Deiving“ gemacht, oder wat? Ja, ja, sieht ma’, sieht ma’, typisch Anfängerfehler, ham eb’n keene Rounitine.“
Die beiden Katzen waren perplex und wussten nicht, was sie erwidern sollten. Zum einen sprach die Ratte in einem ihnen völlig unbekannten Dialekt, dann benutzte er so merkwürdige Fremdwörter.
„Wisst’er, wenn icke neu wär’, in’nem Viertel, da würd’ ick erstma’ fragen, wer hier der Häuptling is’. Wer die Superoritität-, die Autotirität – äh, na guckt mir nich’ an wie ’n alter Opel vor der Autopresse, na wer eb’n dit Saachen hat! Ne, Groschen immer noch nich’ jefallen? Ihr seit mir ja zwee. Ick versteh’ immer nich’, wieso ma’ erst klaut, un’ dann dit Maul nich’ uffkriegt. Letzte Woche die gleiche Diskussion mit so ’nem Marder ohne Manieren jeführt. Aber mir könnt’er mit dieser Masche nich‘ rumkriegen.“ Und zu Mika gewandt fügte er hinzu: „Und dit Fauchen kannste dir sparen. Ick bin ’ne Intustion im Miljö. Micke kennt hier jeder. Der Name Nante is‘ hier Jesetz. Ick hab’ vor zwee Wochen mit einem —“
Doch Nuka unterbrach ihn. „Lass uns doch auch mal zu Wort kommen! Dante oder wie du heißt. Wir haben heute echt schon genug durchgemacht, als dass uns jetzt hier so ein fetter Kerl eine Frikadelle ans Ohr quatscht, vor allem in so einem komischen Dialekt. Und apropos Frikadelle: ich plane in dieser Tonne eine zu finden, also werde ich das jetzt tun, ob dir das passt oder nicht.“
Nante schüttelte verständnislos den Kopf. „Ts, ts, ts … Da wees ick jarnich’, wo ick da anfangen soll. Erstens mein Kleener, ick heiß Nante. Zweetens: wenn dann quatsch’ ick euch ’ne Bulette ans Ohr, denn ick bin’n waschechter Berliner und dit is‘ meene Kodderschnauze, die ick nich’ so einfach abstell’n kann, wie mir dit manchetma’ lieb wär. Drittens: dit Wort „fett“ in Bezug auf meenen Adoniskörper verbitt’ ick mir. Gerade von so ee’m wie dir. Heute schon ‚ma in’n Spiegel jekiekt?“ „Was“, schrie Nuka empört, „das nimmst du sofort zurück!“ Der Fremde hatte ihn an einem sehr empfindlichen Punkt getroffen – seinem Bauch. „Nö, dit mach‘ ich nich’“, gab die Ratte zurück, „dit is’ eindeutig ’ne Fettschwarte, wat da unter dir rumschlackert. Ick geb‘ dir ma’ ’nen kostenlosen Tipp: weniger in fremden Mülltonnen rumfressen und mehr —“ Doch weiter kam er nicht. Nuka hatte sich wütend auf ihn gestürzt und die beiden rauften sich quiekend auf dem kalten Asphalt.
Mika stand daneben und überlegte. Sollte sie dazwischen gehen? Die Ratte sah schmutzig aus und auch Nukas Fell hatte schon reinere Tage gesehen. Sie dachte an ihren blütenweißen Fellkragen und sauberen Pfötchen, die sie gerade eben noch geputzt hatte, bevor der Fremde erschienen war. Auf gar keinen Fall würde sie sich die in so einem lächerlichen Kampf erneut schmutzig machen.
5. Dezember
Es gab keinen Gewinner.
Nach einigen Minuten der Rauferei hockten sich die beiden Streithähne schnaufend gegenüber. Nuka war sich sicher gewesen, der Stärkere von beiden zu sein, musste jedoch im Kampf feststellen, dass die Ratte ein paar fiese Kicks austeilte.
„Habt ihr es dann?“, fragte Mika teilnahmslos. Sie hatte sich im Schatten der Mülltonne der Maniküre ihrer Krallen gewidmet und betrachtete nun die erschöpften Kontrahenten.
„Wo … wo hast du denn diese Tritte gelernt?“, fragte Nuka die Ratte, immer noch völlig außer Atem. „Von so ’nem verrückten Karnickel“, antwortete die, ebenso um Luft ringend. Aber sie hatte sich schnell wieder im Griff und begann sofort wieder loszuplappern. „Hab ick in Berlin jetroffen, also als ick da noch jewohnt hab. Dat is‘ ma’ in Indien jewesen, und hat die Technik da her. Pass’ ma’ auf, bei Indien fällt mir ’n klasse Witz ein. Wat saacht’ma zu ’nem Inder, der stolpert? — Fall nich‘ hindu.“ Er brach in ein heiseres Lachen aus und schlug sich immer wieder mit der Pfote auf den Bauch, während er sich auf dem Rücken rollte. „Versteh’ ich nicht“, grummelte Nuka, „und von diesem Indien habe ich auch noch nie was gehört.“
Die Ratte richtete sich auf und schaute Nuka mit großen Augen an. „Sach ma’, noch nie draußen jewesen, oder wat? Du weeßt ja jarnischt.“ „Hey, also ich weiß schon was!“, begehrte der Kater auf und wollte der Ratte gerade einen wütenden Pfotenschlag verpassen, als Mika eingriff. Ihr wurde es langsam zu blöd. „Ja, wir waren noch nie draußen. Wir wohnen in einem Haus bei unseren Menschen und kennen uns hier nicht aus. Deshalb suchen wir nach Essen und frieren uns den Hintern ab, während ihr unsere Zeit mit dämlichem Rumgekämpfe verschwendet!“
Nante wurde mit einem Mal ganz ruhig. „Ach, ihr wollt euch hier jar nich’ niederlassen? Un’ ick denk’, ihr wollt mir mein Terrerium streitig machen.“ „Nein, wir sind heute früh aus unserem Zuhause ausgesperrt worden. Das war ein Versehen. Und jetzt finden wir den Weg nicht mehr zurück.“, antwortete Nuka, der sich aufgerichtet hatte und sich den Staub aus dem Fell klopfte. Mikas Worte hatten ihn zur Vernunft gebracht, ihm war nun nicht mehr nach Kämpfen zumute. Mit dem Gedanken an Zuhause war ihm mit einem Mal der Ernst der Lage klargeworden. Er war müde, ihm war kalt und von den alten Spaghetti begann es in seinem Magen unangenehm zu grummeln und zu stechen. Er fühlte sich elend, so, wie als er einmal ein Blatt von dieser Pflanze genascht hatte, auf dem Fensterbrett stand, an der diese sichelförmigen, roten Schoten hingen. Das hatte er gar nicht vertragen und ihm war tagelang schlecht gewesen. Ach, das Fensterbrett! Was gäbe er nur dafür, jetzt dort zu sitzen, an diesem kuscheligen Ort über der Heizung, an dem er einen hervorragenden Ausblick auf die darunterliegende Straße hatte. Was würde er alles tun, jetzt dort zu sein!
„Ach, so is’ dat … verlaufen … ja, ja …“, murmelte Nante. Er überlegte kurz. „Passt ma’ uff“, hob er dann an, „ick kenn euch nich’. Und am Ende des Tages seid ihr ooch immer noch zwee Katzen, die mir kaltmachen könnten, wenn’se wollten. Aber ick denk, wenn ihr keen Fünkchen Anstand im Leib hättet, dann hätteter mir jleich um’me Ecke jebracht.“
„Zugegeben, daran hab’ ich noch gar nicht gedacht“, wisperte Nuka Mika ins Ohr, „er sieht ganz appetitlich aus.“ Seine Schwester stieß ihn für diese Bemerkung in die Seite. Was wollte Nante ihnen mit dieser Einleitung mitteilen?
„Also, ick will euch ma’ vertrauen. Zujejeben, es is’ arschkalt hier. Und ick hab’ nich’ vor, hier noch länger in der Kälte rumzusteh’n und zuzuschaun, wie ihr euch zum Affen macht, an einer Tonne, in der eh nie dit jute Zeuch drin is’. Ick lad’ euch ein. Ihr könnt heut’ Abend bei mir penn’, da jibt’s auch wat ordentliches zu Essen – aber wehe, ick seh’ jeman’ an meiner Familje rumknabbern. So lecker sin’ die nich’ und wo die Kicks von eben herkomm’n, da jibt’s noch ’n paar andere „dirty sekretts“. Also los jetz’, oda wollter festfrier’n?“
Nuka und Mika sahen sich an. Sie konnten hier draußen bleiben, aber das Festfrieren, von dem die Ratte gesprochen hatte, schien mit der zunehmenden Kälte immer wahrscheinlicher. Wenn sie zumindest einen warmen Platz zum Schlafen hätten, nur für diese eine Nacht, wäre das schon genug.
Sie nickten. „Wir kommen mit.“
6. Dezember
Nuka und Mika trotteten hinter Nante her.
Sie hatten bereits vor drei Abflussgittern gestanden und festgestellt, dass Nuka trotz aller Mühe nicht durch die engen Stäbe passen wollte. Die Ratte trippelte vornweg und unterhielt die beiden mit Wortwitzen, die sie selbst mehr amüsierten als seine Zuhörerschaft.
„Wat sucht’n Einarmiger inner Stadt? — ‚N Second-Händ-Shop.“
„Wat macht’ma mit’m Hund ohne Beene? — Umme Häuser zieh’n.“
„Wat steht uff’m Grabstein von ’nem Mathematiker? — Damit hatter nich‘ jerechnet.“
„Wie nennt’ma ’n helles Mammut? — Hellmut.“
„Wat saacht’n Gen, wenn es ’n anderes trifft? — Halogen.“
… und so weiter, und so weiter …
Nuka und Mika verstanden nur die Hälfte von dem, was die Ratte vor sich hin schwadronierte, was auch nicht dadurch gebessert wurde, dass sie nach jedem Witz in ihr heiseres Gelächter ausbrach. Doch um ihren neugefundenen Freund nicht zu verärgern, lachten sie von Zeit zu Zeit mit.
Schließlich kamen sie an einem kleinen Kieshügel an, aus dem ein schwarzes Abflussrohr ragte. „So, hereinspaziert, die Herrschaft’n!“, rief Nante, während er ihnen ins Dunkel voraustrippelte.
Mika schniefte unwillig durch die Nase und rührte sich nicht vom Fleck. Ein Abflussrohr. Das war sowas von widerlich. Ihr ganzer Pelz würde klebrig werden und dass ihre weißen Pfötchen in Kontakt mit altem Brackwasser kommen sollten, daran wollte sie gar nicht denken. „Willst du lieber hier draußen festsitzen? Jetzt komm schon!“, fauchte Nuka sie verhalten an und schubste sie voran in die schwarze Öffnung.
Eine lange Zeit ging es nur geradeaus, für die beiden Katzen leicht geduckt, immer auf den Sing-Sang der Ratte horchend, die ihnen den Weg wies. Es gab praktisch auch nur einen: voran. Die Luft in der engen Röhre war muffig, es roch faulig, wie nach alter Wäsche, die zu lange feucht gewesen war. Zumindest waren die Temperaturen angenehm, fast ein wenig zu warm. Am Boden des Rohrs lief ein dünnes Rinnsal entlang, an dessen Rändern Algen gewachsen waren und die beiden Katzen mussten aufpassen, dass sie nicht ausrutschten. Ein Sturz wäre fatal gewesen, da ein Aufstehen in dieser Enge beinahe unmöglich war.
Mit einem Mal spürte Nuka, dass sich die Röhre verbreitert hatte, denn sein Schwänzchen, das bisher an der Decke geschliffen hatte, kringelte sich nun wieder wie gewohnt wie ein Fragezeichen in der Luft. Sehen konnte er allerdings bis auf ein paar grobe Umrisse nichts, nur ein leises Glucksen signalisierte, dass hier irgendwo Wasser in Bewegung war. „Äh — Nante, sind wir denn bald da?“, rief der Kater zögerlich ins Dunkel, denn die Ratte hatte sich schon seit einiger Zeit nicht mehr zu Wort gemeldet. Keine Antwort. Auch konnte er ihren Geruch, der an Heu und Moschus erinnerte, nicht wittern. „Mika?“, fragte Nuka. Er spürte etwas an seiner Seite. „Nuka?“, kam es ängstlich zurück, „Wo sind wir? Wo ist denn die Ratte hin?“ „Ich weiß es nicht, antwortete der Kater, „aber wenigstens sind wir zusammen. Wir finden ihn bestimmt.“ „Ich habe richtig Angst“, jammerte Mika, „ich glaub’, ich halt das nicht aus.“ „Klar hältst du das aus“, gab Nuka zurück und drückte sich leicht gegen seine Schwester, „wir müssen nur —“
Ein Geräusch unterbrach ihn. Es war ein leises Geräusch gewesen, so unbedeutend, dass man es über dem Rauschen des Wassers und dem leisen Dröhnen des entfernten Straßenlärms hätte überhören können. Doch wenn man in völliger Dunkelheit steht und zudem noch eine Katze ist, dann hört man es.
Es war ein Zischen.
7. Dezember
In der Ferne tauchte plötzlich ein grünliches Licht auf. Kein schönes Grün, wie das von Frühlingsblumen oder satten Wiesen, sondern ein gemeines Giftgrün, das flackernd näher kam.
Das Licht war so stark, dass es die Umgebung erleuchtete und so sahen die Katzen zum ersten Mal, wo sie sich befanden. Sie waren aus dem schwarzen Abflussrohr mitten in die Kanalisation gekommen. Die Wände des kreisrunden Tunnels waren aus roten Ziegeln gemauert und von der Decke hingen schleimige Algen in breiten Bahnen herunter. Nuka und Mika standen auf einem schmalen Steig am Rand einer Rinne, die das Schmelzwasser der Straße führte – zumindest erklärte das jenes Glucksen, was sie zuvor gehört hatten.
Das grüne Licht kam zügig auf sie zu. Bald konnte Nuka einen Kopf erkennen, von dem, wie er mit Erstaunen feststellte, das Leuchten ausging. Und als die Kreatur ganz nah heran war, stellten sich bei ihm vor Schreck alle Haare auf.
Es war eine riesige Kobra. Ihr Körper, welcher sich in Schlängelbewegungen auf dem glitschigen Boden voranschob, war tiefschwarz. Dennoch fluoreszierte er auf unheimliche Weise in einem neongrünen Licht und erleuchtete den Tunnel in seinem zuckendem Schein. Die Schlange war mindestens zwei Meter lang und machte einen äußerst zielstrebigen Eindruck, wie sie da auf die beiden Katzen zusteuerte.
Mit einem Schrei machte Mika auf dem Absatz kehrt und verschwand. Nuka war zwar ein mutiger Kater, aber das war eindeutig zu viel für ihn. Man musste ja auch einmal die Umstände bedenken, denen er bisher ausgesetzt war – eine Zumutung. Fast einen ganzen Tag von Zuhause weg hatte er Schnee und Eis getrotzt, war durch enge Rohre gewandert, alles mit leerem Magen und nun hatte seine Schwester ihn in einer ekligen Kanalisation allein zurückgelassen, damit er einer riesigen Giftschlange als Abendbrot dienen konnte. Das war eindeutig die Definition von einem richtig miesen Tag. Zur Wehr setzen mochte sich Nuka nicht mehr. Er tat das, was alle Katzen instinktiv tun, wenn sie sich bedroht fühlen und vor Angst nicht weiter wissen: er duckte sich, legte die Ohren an und brach in ein dämonisches Jaulen aus, das von den steinernen Wänden widerhallte.
Die Schlange richtet sich auf. Wer schon einmal gesehen hat, wie eine ausgewachsene Kobra sich langsam aufrichtet, ihr Nackenschild mit der auffälligen Zeichnung spreizt und ihr Opfer mit den stechenden, schwarzen Augen fixiert, der hat auch das Grauen gefühlt, was dieser Anblick auslöst. Hoch stand ihr Haupt über dem kauernden Kater, es schwankte hin und her, wie als würde es abwägen, nach welcher Seite es zuerst zustoßen sollte. Nuka konnte nicht mehr aufsehen, er wagte es nicht. Er duckte sich noch weiter herab, bereit, die Augen ein letztes Mal zu schließen.
Laut gellte da ein Kampfschrei durch die Luft. Aus dem Dunkel schoß ein grauer Blitz an ihm vorbei, flog durch die Luft, mit ausgestreckten Krallen.
Mika hatte auf den richtigen Moment gewartet. Zugegeben, zuerst konnte die Angst sie überwältigen. Doch dann, als sie zurückgesehen hatte und Nuka dort sitzen sah, ergriff ein Gefühl von ihr Besitz, dass nur selten zum Vorschein kam, sie aber sehr gut kannte – Kampfeslust. Die kleine Katze war zwar schreckhaft, aber gab es die Option der Flucht nicht, konnte sie sich mit Zähnen und Krallen verteidigen. Und sie konnte nicht verhehlen, das Kämpfen bereitete ihr sogar Freude. Oft hatte sie mit Lottas Hand – die in einem Handschuh steckte, Mika wusste manchmal nicht, wann sie zu stark zupackte – das Ringen geübt oder Nuka aus dem Hinterhalt aufgelauert, um ihn zu überwältigen. Nun war es Zeit, diese Kenntnisse in die Praxis umzusetzen.
Sie flog auf die Schlange zu, auf deren Gesicht sich ein Ausdruck ehrlichen Erstaunens zeigte, als sie die Angreiferin bemerkte – doch zu spät. Mikas Krallen bohrten sich in die schuppige Haut und sie verbiss sich schmerzhaft in den Hals des Reptils. Die Kobra fauchte wütend und versuchte, ihre Angreiferin loszuwerden, doch Mika klammerte sich noch fester und begann nun, mit den scharfen Krallen ihrer Hinterbeine gegen den weichen, ungeschützten Bauch ihrer Gegnerin vorzugehen. Bald lagen beide am Boden, die Katze bemüht, nicht in die Nähe der Fangzähne zu kommen und die Schlange wild mit dem Schwanz peitschend. Mit einem bäumte sich die Kobra weit auf und schleuderte ihre Gegnerin mit Schwung von sich. Diese prallte von der Wand ab und fiel zu Boden, während die Schlange rasend schnell in die Richtung verschwand, aus der sie gekommen war.
Dunkelheit brach über die Geschwister herein. Nuka lief in Mikas Richtung, fand sie und stupste sie mit der Nase an. „Hey, alles in Ordnung?“ Seine Schwester rührte sich, Gottseidank, und richtete sich auf. „Alles gut“, antwortete sie, leicht außer Atem und er hörte, wie sie begann ihre Pfoten zu säubern.
Dann konnte Nuka nichts mehr halten. „Wahnsinn, war das eine krasse Nummer!“, schnatterte er los, „Wie du dieses Monster in die Flucht geschlagen hast, einfach irre!“ „Das war doch gar nichts“, gab sie zurück, und er konnte ihr verschämtes Grinsen in der Finsternis förmlich hören. „Aber was machen wir jetzt? Wir sind wieder allein.“
8. Dezember
Mika und Nuka standen immer noch in der Dunkelheit des unterirdischen Kanalisationssystems, als plötzlich eine vertraute Stimme an ihr Ohr drang. „Na, seita inzwischen festjewachsen?“
Nante war zurückgekommen! Ein ratschendes Geräusch ertönte und im aufsteigenden Schwefelqualm erleuchtete nun die Flamme eines Streichholzes das runde Gesicht der Ratte, auf dem ein selbstgefälliges Grinsen lag. Die beiden Katzen wichen instinktiv vom Feuer zurück, aber Nuka hatte sich schnell wieder gefangen. „Wie bitte?“, knurrte er, „Das soll wohl ein Scherz sein. Hast du eine Ahnung, was hier los war, nachdem du uns einfach im Stich gelassen hast?“ Die Ratte schaute empört. „Ick, euch im Stich jelassen? Wat sülzt’n du rum, nur weil ick euch ma’ fünf Minütchen alleen stehen lass’, bin ick jleich der Blödmann vom Dienst, oder wat?“ „Du machst dir gar keine Vorstellung, hier war eine riesige Schlange, die uns angegriffen hat! Hätte Mika uns nicht verteidigt, wären wir jetzt Schlangenfutter!“, erwiderte Nuka entrüstet.
„Wat, wer hat euch anjejriffen? Hier in der Kalanisation? Kohl mir doch nich’ an, dit wüsst ick aba, dat hier wer rumstreift und rumstänkert. Und wenn die Kleene hier die Verteidijung übernomm’ hat, da habt’er ja Schwein jehabt. Also wees ick nich’, was de hier meckerst. Ich gloob eher, ihr habt Angst im Dunkeln, verwöhnte Sesselpupser!“ „Ich verstehe überhaupt kein Wort, und außerdem sind wir keine —“, begann Nuka entrüstet, aber die Ratte unterbrach ihn. „Jetzt kommt ma’, ick hab’ hinten für dit richt’che Licht jesorgt, ick vabrenn mir jleich de Pfoten mit dit Zündholz hier.“ Nante pustete die Flamme aus und trippelte vornweg, zwei zerzauste Katzen trotteten murrend hinterdrein.
Nur um eine Biegung ging’s, da teilte sich vor ihnen ein Vorhang aus schwerem Segeltuch und warmes Licht brandete in den Tunnel. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die neuen Verhältnisse und als sie richtig sehen konnten, erkannten sie, was da vor ihnen lag.
Hinter dem Vorhang befand sich eine Wohnküche im Miniaturformat. Ein kleines rotes Sofa stand an der Wand, daneben ein zerknautschter Sessel, auf dem eine dicke Ratte lümmelte und in einer Zeitung blätterte – eigentlich war es die Ecke einer Zeitung, so klein war das Blatt. Neben dem Sessel brummte ein Ofen und strahlte seine wohlige Wärme in den Raum. Auf der anderen Seite, zwischen Sessel und Sofa schimmerte ein kleiner Weihnachtsbaum, der mit Lichtern und funkelnden Anhängern niedlich geschmückt war. An der gegenüberliegenden Wand stand eine Küchenzeile aus vielen zusammengesetzten Holzschachteln, an der eine Ratte mit Kochschürze am Herd stand und in einem dampfenden Topf rührte. Im Hintergrund strampelte eine hagere Ratte keuchend auf einem Ergometer. Als Nante nun mit seiner Gesellschaft hereintrat, kippte sie vor Schreck von ihrem Fahrrad, die Beleuchtung flackerte und erlosch.
„Eieiei Folke, wat soll denn dit! Nimm’ dir zusammen, du radelst doch sonst ooch so viel, ick kann nix lesen hier!“, schimpfte die fette Ratte auf dem Sessel, die nun im Dunkeln saß. Der Angesprochene tastete sich murrend zu seinem Drahtesel, kletterte wieder hinauf und begann zu treten – augenblicklich war alles wieder in hellen Lichterglanz getaucht. Das Strampeln hielt ihn aber nicht davon ab, wütend in Richtung Sofa zu meckern: „Aber Mutti! Kiek doch ma’, wen Nante mitjebracht hat! Katzen!“ Mit ausgestreckter Pfote wies er anklagend auf den Eingang. Die Ratte auf dem Sofa sah nicht einmal von ihrer Zeitung hoch. „Spar dir deene dämlichen „Kiek ma’ da – haha, du hast reenjeschaut“-Witzchen für’n Stammtisch mit deenen Saufkumpanen auf, mir legste mit die ollen Kamellen nich’ mehr rein. So blöd wär nich’ ma’ dein beschränkter Bruder. Er hat — “ „Mutti!“, schrie Nante bestürzt, „Wat, ick bin beschränkt? Sowat Jemeines!“
Alle Augen wandten sich zur Tür und unter lautstarkem Quietschen verwandelte sich die bisher so friedliche Szene in ein heilloses Durcheinandergestürze und die Gesellschaft verschwand blitzschnell in Kisten, Löchern und Ritzen. Das Zeitungsblatt schwebte langsam zu Boden und auf dem Herd blubberte ein Topf, ansonsten war alles still – und natürlich wieder dunkel.
Es dauerte eine Weile, bis Nante seiner Familie beigebracht hatte, dass Nuka und Mika keine Bedrohung darstellten und für den heutigen Abend ihre Gäste sein würden. Die beiden Katzen beteuerten eindringlich ihre Freundschaft und guten Absichten und achteten im Folgenden darauf, ihre Krallen eingezogen zu lassen.
„Na denn“, sprach die dicke Ratte, nachdem sie sich umständlich aus einer der Küchenkisten herausgeschält hatte: „Wer seid’er und woher kommta?“
9. Dezember
„Najut“, sagte die dicke Ratte schließlich, als sie alles gehört hatte, und ließ sich wieder in ihren Sessel plumpsen. „Denn machtet euch ma’ jemütlich. Unsere „Insistution im Miljö“ hat euch bestimmt wieda ’n Ohr abjekaut mit sein’ blöden Wortwitzen.“ „In Zentralamerika jibtet zwar schlechte Lackierer, aba dafür Guatemala!“, krakeelte Folke hämisch aus dem Hintergrund von seinem Fahrrad herunter. „Halt die Klappe“, plärrte Nante zurück und warf ein Papierkügelchen nach seinem Bruder. „Schluss jetzt“, fuhr ihre Mutter dazwischen. „Nante kennta ja“, fuhr sie fort, „un’ ditte auf’m Drahtesel is’ meen Jüngster, Folke. Muss ma’ ordentlich hinhören, nich’ Volker, nich’ Falk, einfach nur Folke. Den Namen hat mein Schatz ausjesucht, der lange Kerl, der da am Herd steht – macht ’n teuflischen Labskaus, dit kann ich euch sach’n.“ „Mein Vadder“, warf Nante stolz ein, „is’ aus’m hohen Norden. Redet nich’ so viel wie wir Quasselstrippen aus’er Hauptstadt. Aber kann kochen wie ’ne Eins.“
Die Ratte mit der Kochschürze drehte sich um. Sie hatte einen weißen Schnauzbart und dicke, buschige Augenbrauen. „Leude“, sagte sie mit einer tiefen Bassstimme im besten Norddeutsch, „nu’ begöschert die Jungens nich’ ohne S-trich un’ Foden, sonst komm’ die noch ganz durch’n Tüdel. Setz’euch hin, ich mach’ euch ers’ma’ ’n s-teifen Groch, nech?“
Nuka bekam langsam Kopfschmerzen. Konnte hier auch noch irgendjemand normal reden? Währenddessen machte es sich Mika auf der Couch bequem und der dicke Kater musste sich mit dem Platz neben Folke und dem Fahrrad begnügen. Er war einfach zu groß für die kleine Wohnung. „Wieso lebt ihr hier?“, fragte Mika, nachdem ihnen der Vater zwei dampfende Becher in die Pfoten gedrückt hatte. Sie waren zwar nur so wie Fingerhüte, aber das darin enthaltene Getränk schmeckte merkwürdig. Man durfte nicht so schnell trinken, sonst wurde der Kopf ganz leicht davon, dass man Angst bekam, er würde gleich wegfliegen.
„Warum wir hier leben?“, erwiderte die Mutter Ratte, „Dit hier is’ unser Zuhause. Wir sin’ vor’n paar Jahr’n aus Berlin herjekommen, mit’m Zug. Hätt’ nie jedacht, dat ick mir ma’ woanders wohlfühl’n würd als in’ner Megastadt. Aber es is’ uns irjendwann einfach zu voll jewor’n. Genfitrizierung. Dit hält ja keene Ratte aus, dauernd Angst um’me Exstisenz zu ham.“ „Mutti, dit heeßt „Getrifizierung“ un’ „Existenz“!“, warf Folke von hinten ein. „Ja, ja, dit saach’ ich doch. Naja, und denn ham’wer uns in ’nen Jüterzug einquartiert und sin‘ so herjekommen.“ „Aber hattet ihr nie ein Zuhause? Also mit jemandem, der sich um euch kümmert, euch füttert, euch streichelt?“, hakte Mika bestürzt nach. Die Ratten sahen sie erstaunt an: „Nö, wieso auch?“ „Also wir haben zum Beispiel Lotta“, mischte sich Nuka von seinem Platz im Abseits ein, „und Georg, der gibt uns heimlich leckere Sachen. Und dann sind da noch alle anderen, die sich um uns kümmern, wenn die beiden mal nicht da sind.“
Neugierig ließen sich die Ratten alles erzählen: wer denn alle waren, wie sie aussahen, wie die Katzen an sie geraten waren, wie es war, in einer warmen Wohnung zu leben – sie wollten einfach alles wissen. Nuka und Mika berichteten begeistert von ihrem Zuhause. Nuka schwärmte von seinem Lieblingsfutter – Thunfisch im eigenen Saft, direkt aus der Dose – während Mika ihren Lieblingsplatz – die Lücke zwischen Fensterbrett und Heizung – beschrieb.
Während sie so von ihrem Heim sprachen, wurde es den beiden Katzen ein wenig traurig zumute. Sie fühlten sich wirklich willkommen und waren glücklich, bei dieser netten Familie eine Zuflucht gefunden zu haben. Wie sie die Nacht draußen in der Kälte hätten zubringen sollen, das wollten sie sich gar nicht ausmalen. Aber ihr Zuhause fehlte ihnen schon sehr. Nuka dachte wehmütig an seinen Platz auf dem Schreibtischstuhl und Mika sehnte sich insgeheim nach ihrer kleinen Plüscheule, die sie von Herzen liebte, was aber keiner wissen durfte.
Wie sie noch quatschten, wurde das Abendbrot fertig. Folke stieg von seinem Rad ab und schloss einen Akku an den Weihnachtsbaum, sodass dieser im nun schummrigen Wohnzimmer ein warm-orangenes Licht verströmte. Er half seinem Vater, den Tisch zu decken und alle begaben sich auf dessen Kommando auf ihre Plätze. Bevor sie anfingen zu essen, nahmen sich alle an den Pfoten, Nuka und Mika taten es ihnen gleich.
Der Vater räusperte sich. „Wecker daat, watte kann, un ett, datte steehnt, dann ißße wert, datte leewt“, brummte er auf Plattdeutsch und nun konnte das Essen beginnen.
10. Dezember
War das ein Festmahl!
Nante und seine Mutter hatten nicht übertrieben, mit Vater Ratte stand ihnen wirklich ein ausgezeichneter Koch zur Verfügung.
Die kleine Tafel bog sich unter den Schüsseln und Schalen voller Leckereien. Da gab es gedünstete Möhren, in Butter geschmorten Rosenkohl, mit Zwiebeln angebratetene Kartoffeln, Hühnerbeine in einer verführerisch duftenden Sauce, grünen Salat, geräucherte Forelle auf einem Bett aus Rote-Bete-Scheiben, Nudelsalat mit Erbsen und Mayonnaise abgeschmeckt, Zwieback mit Knoblauchbutter – kurzum, eine Fülle an Speisen, bei der man sich fragte, wie diese in der winzigen Küche zubereitet worden waren.
Nuka langte bei allem kräftig zu und musste sich, entgegen seiner Art, bremsen, sich nicht vollends von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen, auf die Tafel zu springen und zur Verteidigung knurrend alles in sich hineinzuschlingen. Doch selbst der disziplinierteste Kater kann manchmal nicht aus seinem Pelz heraus und so ertappten ihn seine Tischnachbarn einige Male beim Diebstahl von fremden Tellern. Mika dagegen war eine wählerische Esserin, sie ließ sich Hühnchen und Forelle schmecken, pickte aber bei den Nudeln die Erbsen aus dem Salat. Glücklicherweise sahen die Gastgeber großzügig über die Macken ihrer Tischgenossen hinweg.
Als alle Schüsseln leer waren und nur noch Nuka geräuschvoll die Teller aller Anwesenden abschleckte – Mika wandte peinlich berührt den Blick ab – kam Vater Ratte mit einem riesigen Blech voll selbstgemachtem Apfelkuchen. Dazu gab es, oh Himmel – Sahne! Mit einem Mal befanden sich die beiden Katzen auf dem Gipfel der Entrückung. Sie schnurrten, sodass die Wände des kleinen Wohnzimmers wackelten. Die Ratten lachten sich scheckig, wie die „oh-so-gefährlichen“ Tiger mit einem Mal ganz zahm waren.
Nachdem der Kuchen verputzt war, half Nuka, den Tisch wieder aufrecht gegen die Wand zu stellen, während Mika dem Vater beim Abwasch assistierte. Mutter Ratte hatte es sich längs ausgestreckt auf der Couch gemütlich gemacht und ließ sich von Folke den Nacken massieren. „Wat’ für’n Leben, wat für’n Leben“, murmelte sie.
Mit einer Flasche Wein, die aus den Tiefen irgendeiner Kiste gekramt wurde, gesellte sich das Abwaschteam nach getaner Arbeit zu den anderen. Die beiden Katzen lehnten den Wein höflich ab, die Ratten schenkten sich gegenseitig großzügig ein. Im Kreis setzte man sich um den kleinen Ofen herum und Erzählungen wurden ausgetausch, wobei auch Nuka und Mika einiges zu erzählen hatten. Man sprach von fernen Orten, verwunschenen Gärten, Reisen über das weite Meer, wildem Großstadtleben und der Gemütlichkeit im Schoß eines Menschen. „Schon komisch“, sagte Folke nachdenklich, „dat die Menschen euch einfach so durchfüttern. Wat macht’er denn den janzen Tach, außer penn’n und fressen?“ „Nix“, sagten die Katzen, und zugegebenermaßen fühlten sie sich ein bisschen beschämt. „Menschen sin’ schon komisch“, brummte Mutter Ratte, die mit geschlossenen Augen auf dem Sofa fläzte, und alle nickten zustimmend. „Menschen sind schon komisch.“
Etwas später holte Folke eine kleine Gitarre hinter seinem Fahrrad hervor. „Na pass’ma auf, jetz’ wird’s musikalisch“, spöttelte Nante, „jebt dem Fatzke nich’ zuviel Lob, sons’ müss’ma dit Jeplärre noch länger ertrajen als eh schon nötich is’.“ Folke bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick, dann begann er mit hoher Fistelstimme „Wenn ich ein Vöglein wär“ zu singen. Nach verhaltenem Applaus ließ sich Vater Ratte von ihm in seiner nordischen Bassstimme zu „Dat du min Leevsten büst“ und „Herrn Pastor sien Kauh“ begleiten, und alle stimmten begeistert mit ein. Die Katzen kannten den Text nicht, und so begnügten sie sich damit, sich unterzuhaken, mitzuschunkeln und rhythmisch im Takt zu schnurren.
Später löschte Mutter Ratte das Licht und als sie gerade zu Bett gehen wollte, hörte sie ein leises, beinahe lautloses Schluchzen aus einem der Matratzenlager. Sie tippelte hin und strich Mika sanft über das Köpfchen. „Ich…mir fehlt nur…“, schniefte die kleine Katze. „Ick weeß“, beruhigte sie die Ratte, „aber Schätzchen, kiek ma’, morjen is’n janz neuer Tag.“ Und ihre kleinen Pfötchen kraulten Mika bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
11. Dezember
Der nächste Morgen brachte ein hervorragendes Frühstück mit Spiegeleiern, Toast, gebackenen Bohnen und einer Erkundungstour durch die besten Mülltonnen der Stadt. Folke wollte unbedingt mitkommen, wurde aber wieder zum Fahrraddienst verpflichtet. „Ick kann zum Jlück nich’ radeln“, raunte Nante den Katzen verschwörerisch zu, als sie vom Frühstückstisch aufstanden, „hab „anjeblich“ ’ne fiese Zerrung am Mesiknus.“ „Dat heißt Meniskus“, plärrte Folke frustriert aus seiner Ecke hervor, „un‘ ditte is’n Knorpel! Ick gloob’ manchetma’ echt nich’, das ihr meene Familije seid!“ „Kommt Leute“, warf Nante schnell ein und schubste Nuka und Mika Richtung Ausgang. „Tschüß Mutti, tschüß Vaddern, tschüß Spinner, wir seh’n uns heut’ Abend!“
Als sie draußen waren, zündete Nante ein weiteres Streichholz an. „So, na denn woll’mer ma’.“ „Bist du sicher, dass uns die Schlange nicht wieder begegnet?“, fragte Nuka, den die Dunkelheit und die muffige Luft der Kanalisation mit einem Schlag wieder an das grauenvolle Erlebnis des gestrigen Tages erinnert hatte. Nante verzog das Schnäuzchen zu einem spöttischen Grinsen. „So, jetz’ musste mir aber ma’ erzähl’n, wat dit für ’ne Fantasie war mit der Schlange, die euch anjejriffen haben soll?“ „Sie war echt!“, verteidigte sich Nuka, „groß und schwarz, aber sie hat auch merkwürdig grün geleuchtet.“
„Wat? Ihr habt Kali getroffen? Die würd’ keiner Flieje wat zuleide tun!“ „Wie bitte? Du kennst diese Bestie?“, schrien die beiden Katzen wie aus einem Mund. „Naja, Bestie würd’ ich nich’ sagen, dit hört ’se gloob‘ ick nich’ so jern. Aber die hat sowieso nich’ mehr alle Ziegel uff’er Scheune. Die is’ halb blind und hat letzte Woche so nen „glow-stick“ mit’m Rejenwurm verwechselt. Seitdem leuchtet ’se wie der helle Tag persönlich.“ Nuka und Mika waren fassungslos. „Sie hat uns auf jeden Fall gestern angegriffen“, stellte Mika trotzig fest, „und sie hat mit dem Kopf geschaukelt, wie als würde sie jeden Moment zubeißen wollen.“ Nante lachte. „Ja, dit macht die immer, ich sach‘ doch, die kann nicht mehr richtig kieken. Aber die würde nie so wat Pelziges wie euch essen, dit is’ der viel zu viel Aufwand. Deshalb komm’ wa auch so gut mit’nander klar. Ihr habt’se bestimmt überrumpelt, die wollte nur ma’ kieken, wer da im Tunnel rumschreit. Aber nu’ kommt, ick steh mir hier die Pfoten platt.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, trippelte Nante in die schwarze Röhre hinein. Die beiden Katzen wollten diese Erklärung nicht wirklich glauben, folgten aber der Ratte bereitwillig nach.
Als sie wieder an die Oberfläche kamen, genossen die Katzen die frische Brise um die Nase. Gleichzeitig war aber auch die Kälte wieder da. Es war noch sehr früh am Morgen, es hatte gerade zu dämmern begonnen und ein blauer Schein lag über der Stadt. Die Scheiben der Autos waren mit Raureif bedeckt und aus den Schornsteinen quoll weißer Dampf in dicken Schwaden.
„Los, mir nach!“, befahl die Ratte und das kleine Grüppchen lief unter einer großen Autobahnbrücke entlang auf vier mächtige schwarze Container zu. „Die hier sin’ die Besten. Hier schmeißt immer irjend ein reicher Schnösel sein’ halben Einkauf rein. Wie jesacht, beste Fressalien der janzen Stadt. Dit sach ich euch aber nur“ – er blickte die beiden bedeutungsschwer an – „weil ick weeß, dat ihr wieder nach Hause wollt. Sonst wärt ihr ja Korrukenz. Und überhaupt, über dit Versteck hier: psst!“ Mit hochgezogenen Augenbrauen hielt er Nuka einen kleinen Zeigefinger für das Mäulchen. Die beiden Katzen nickten.
„So, un’ ihr könnt auch jleich ma’ den Anfang mach’n“, fügte die Ratte hinzu und deutete nach oben. „Wir sollen da rein?“, fragte Mika angeekelt. „Na klar! Wat denkst’n du, wozu wir hier sind, Prinzessin?“ Die kleine Katze dachte noch kurz an ihre weißen Pfötchen, dann nahm sie allen Mut zusammen. Sie wandte sich zu Nuka: „Wollen wir?“ Dem musste man das nicht zwei Mal sagen. Er nahm Anlauf und sprang an der Außenwand des Containers hoch. Leider unterschätzte er, wie so oft, sein eigenes Gewicht, konnte sich noch mit den Pfoten am Rand festklammern, hing so eine halbe Minute verzweifelt strampelnd in der Luft herum, riß letztlich ab und stürzte zu Boden. Nante hatte sich vor Lachen hingeworfen und trommelte mit den kleinen Fäustchen auf den Boden. „Ja, lach du nur“, äffte Nuka ihn nach und rappelte sich auf. Der zweite Versuch glückte und Sekunden später flog Mika ihm in einem eleganten Bogen hinterher und landete zielgenau auf dem Rand der Tonne. Im Inneren lagen bunte Plastiktüten kreuz und quer, aber zumindest waren alle verschlossen und auch der üble Geruch hielt sich in Grenzen. „Welche Tüte ist es denn?“, rief Mika fragend nach unten. „Dit is’ —“, doch Nante sprach nicht zu Ende. Stattdessen weiteten sich seine Augen vor Angst und er deutete mit ausgestrecktem Arm auf etwas, dass sich hoch hinter Mikas Kopf befinden musste. „Freund Hein! Freund Hein! Lauft so schnell ihr könnt!“
Mit einer jähen Bewegung flog plötzlich eine riesige Schneeeule hinter Mika auf. Sie hatte die ganze Zeit auf einem Pfeiler gehockt und stieß nun herunter, die Krallen ausgestreckt, bereit, ihre Beute zu packen und mit ihrem unbarmherzigen Schnabel zu zerreißen.
12. Dezember
Doch Mika reagierte schneller. Mit einem mächtigen Tatzenhieb schleuderte sie die Eule aus ihrer Flugbahn, sodass diese in einem Wust von Federn hinter den Container wirbelte. Nante, gepackt von einem instinktiven Fluchtreflex, verschwand in einem Abflussgitter. Mika war zwar eine Wohnungskatze, aber sie wusste, dass sie durch ihrer geringe Größe perfekt ins Beuteschema dieses mächtigen Raubvogels passte. „Nuka!“, schrie sie warnend.
Der dicke Kater blickte auf. Er war gerade dabei, genüsslich eine Schale Himbeeren zu verspeisen und seine Maul und Kinn waren rot verschmiert. „Nuka!“, kreischte Mika erneut, „wir müssen weg!“ „Warum“, fragte der kleine Kater verdutzt. Nie gönnte ihm jemand etwas. Immer wurde er hochgejagt. „Kann ich nicht einmal -“ Weiter kam er nicht. Mit einem markerschütternden Kreischen stob die Eule auf und breitete ihre Schwingen weit aus. Ihre pelzigen Füße hätten flauschig ausgesehen, wären sie an der Spitze nicht mit tödlichen Krallen bewehrt gewesen, die sich drohend nach der kleinen Katze ausstreckten. Nuka begriff. Mit einem Seufzer ließ er die Himbeeren liegen, machte einen Satz über die Säcke hinweg und – verfehlte sein Ziel und riss stattdessen Mika mit sich in die Tiefe. Dieses Missgeschick konnte jedoch ihre Rettung gewesen sein, denn in diesem Moment zischte die Eule über ihre Köpfe hinweg, einen enttäuschten Schrei ausstoßend. Sie schien einen weiteren Angriff gründlich abwägen zu wollen, denn sie ließ sich vorerst auf dem Rand der Tonne nieder.
„Was willst du von uns“, fauchte Nuka nach oben, „wir sind Katzen, keine Mäuse. Lass uns in Ruhe!“ Die Eule musterte ihn schweigend, mit ihren großen, unergründlichen Augen, so lange, dass man fast glauben konnte, sie könne nicht sprechen. Schließlich drang aus ihrer Kehle eine dunkle, melodiöse Stimme, wie die eines Soulsängers aus den 70er Jahren.
„Ihnen mag das Gefühl des Hungers durchaus bekannt sein, dies schließe ich aus dem Eindruck, den Ihre Körperfülle auf mich hinterlässt, mein Herr. Bitte verstehen sie mein Verhalten nicht als Beleidigung Ihrer Person als Katze. Aber auch Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass ein strenger Winter in unseren Breiten Einzug gehalten hat. Diese Jahreszeit geht häufig mit einem verminderten Angebot, ja, wenn Sie so wollen, einem steten Mangel an Nahrung einher. Leider kann ich nicht wählerisch sein, oder mich moralischen Schranken unterwerfen: ich bin auf jede Kalorie angewiesen – stamme sie, von wem sie wolle.“
Dass sich dieser Vogel so gewählt ausdrückte, irritierte die beiden Katzen, „Aber du, äh, Sie könnten ja auch mit uns gemeinsam hier essen. Es ist sicherlich genug für alle da!“, schlug Nuka mit einer Geste in Richtung Container vor. Vielleicht konnte man ja mit dieser Eule ganz vernünftig reden.
„Diesen Gedanken habe ich mir auch schon durch den Kopf gehen lassen. Aber wer isst gern bei Tisch ohne Tischgesellschaft? Wollen Sie mir nicht die Ehre erweisen? Ich entschuldige mich auch vielmals für mein Verhalten. Warum kommt eigentlich nicht die kleine graue Dame hinauf? Ach, wo sind meine Manieren? Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Man nennt mich Hein, Freund Hein.“ „Ihm ist nicht zu trauen“, wisperte Mika ihrem Bruder zu. „Das habe ich mir auch schon gedacht“, pflichtete Nuka ihr bei, „er wird „Freund“ genannt, hat aber überhaupt keine Freunde, die mit ihm essen wollen – das ergibt gar keinen Sinn.“ Mika hätte sich an die Stirn gefasst, wäre die Situation nicht so ernst gewesen.
„Was gibt es denn da noch zu tuscheln?“, rief die Eule von oben herunter. „Junge Lady im grauen Pelzdress, darf ich Sie bitten, zu mir herauf zu kommen. Ihr zarter Körper wird mir bestimmt gut – äh – beim Essen Gesellschaft leisten!“ Der schnelle Verbesserungsversuch konnte nichts mehr retten. Das also waren die Absichten dieses heimtückischen Vogels! Die beiden Katzen begannen, sehr langsam rückwärts zu schleichen.
„Na, was wird denn das!“, kreischte die Eule mit einem Mal. Der Fluchtversuch war aufgeflogen. Nuka und Mika drehten sich um und rannten, so schnell sie konnten, unter der Brücke entlang. Die Eule folgte ihnen auf dem Fuße. Die beiden Katzen schlugen Haken um die Säulen und konnten so dem, im Flug deutlich schnelleren, Verfolger eine Weile entkommen. Doch nur noch ein paar Meter, dann endete die Brücke und auf der freien Fläche würden sie schnell die Unterlegenen sein.
Auf einmal hörten sie ein Rattern neben sich. Das Geräusch wurde schnell lauter, bis es zu einem ohrenbetäubenden Lärm anschwoll. Mit einem Ruck erschien ein langer Güterzug neben ihnen, er sauste mit unglaublicher Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Aus dem Augenwinkel sah Mika, dass die Wagen an den Seiten geöffnet waren. Wenn sie es nur schaffte, dort hinein zu springen! „Da rüber!“, schrie sie Nuka zu und wies mit dem Kopf in Richtung Zug — da wurde sie schon fest im Nacken gepackt.
13. Dezember
Nun war es aus, dachte Mika.
Die Eule hatte sie im Genick gepackt, trug sie durch die Luft und gleich würde sie ihren tödlichen Biss im Nacken spüren. Dessen war sich die kleine Katze sicher. Sie schloss ihre Augen und wollte auf ihr kurzes Leben zurückschauen, da —
Mit einem dumpfen Aufprall schlug sie unsanft auf einer harten Oberfläche auf, rollte ein Stück und blinzelte verdutzt. Da hörte sie Nukas Stimme. „Hey, geht’s dir gut?“ Mika drehte sich um und sah den Kater im hellen Umriss einer Ladeluke stehen. Draußen rauschte die Landschaft vorbei. „Ja“, erwiderte sie und erhob sich, „wo sind wir denn?“
Doch Nuka antwortete nicht. Er stand im Türrahmen und blickte nach draußen. Weit in der Ferne hing ein weißer Punkt in der Luft, der immer kleiner und kleiner wurde und schließlich nicht mehr zu erkennen war. Dann erst wandte Nuka sich um. „Das hat doch super geklappt, oder? Ich hab den Zug auch gesehen und wusste sofort, was zu tun ist. Ich hab dich am Kragen gepackt und einen Riesensprung gemacht! Kannst mich ruhig mal ein bisschen loben.“ Mit einem selbstgefälligen Grinsen ließ er sich auf seinen Hintern plumpsen und die nächste Viertelstunde verbrachten beide Katzen mit ausgiebiger Fellpflege. Die beste Maßnahme nach stressigen Situationen, und außerdem hatte ihr Pelz es nach den Abenteuern in Mülltonnen, Abflussrohren und verschneiten Straßen bitter nötig.
Erst als die Härchen eines orange-getigerten und blaugrauen Fells wieder flauschig und weich im Fahrtwind wehten, begann die Unterhaltung von neuem. Mika witzelte, dass sie Glück gehabt hatte, Nuka an einem guten Tag erwischt zu ahben, wenn man seine bisherige Sprung-Bilanz bedachte, bedankte sich aber herzlich für die Rettung in letzter Minute. Nuka bedauerte daraufhin, so eine undankbare Person nicht dem Raubvogel überlassen zu haben, und so flogen die übermütigen Worte hin und her.
Für eine kleine Weile vergaßen sie, dass sie sich auf einer langen Fahrt mit ungewissem Ziel befanden. Auch dachte keiner ans Aussteigen – zu sehr saß ihnen immer noch der Schreck über die Begegnung mit der Eule in den Knochen. Vor dem Waggon lichtete sich die Bebauung, dünnte aus, verkleckerte sich in kleinen Bauernhöfen und wich letztlich weiten, schneebedeckten Feldern. Der blassgraue Himmel überspannte die Landschaft und eine kalte Wintersonne strahlte vergeblich gegen die dichte Wolkendecke an.
Gegen Nachmittag wechselte die Aussicht. Mit einmal war da ein Wald. Dicht, dunkel und gesäumt von Schneebänken lag der da, tief und friedlich. Der Zug nahm seinen Weg mitten hindurch und die Katzen konnten nun aus der Ecke des Wagens kriechen und Ausschau halten, denn der Fahrtwind hatte nachgelassen. Es begann langsam zu dämmern.
„Hey“, sagte Nuka mit einem Mal unvermittelt, nachdem sie eine ganze Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten, „vermisst du Zuhause genauso wie ich?“ „Hm…“, murmelte Mika und senkte den Blick. Das war ein empfindliches Thema für sie und sie versuchte, allen Gedanken daran nach Möglichkeit zu verdrängen. Ja, sie vermisste ihr Zuhause, weil es der einzige Ort war, an dem sie sich wirklich sicher fühlte. Es hatte seine Zeit gedauert, bis sie sich an das Zusammenleben mit Menschen gewöhnt hatte. Früher, da wäre sie liebend gern nach draußen gerannt, von allem davon, was ihr Angst machte. Aber nun wünschte sie sich nichts mehr, als die Augen zu schließen und wie nach einem bösen Traum zusammengerollt in der Sofaecke aufzuwachen, mit Georg an ihrer Seite.
„Also mir fehlt ja am meisten —“, begann Nuka, doch Mika unterbrach ihn. „Psst! Ich glaube, ich habe ein Geräusch gehört!“ „Wie willst du das denn gehört haben, über den ganzen Lärm?“, gab Nuka zurück, doch seine Schwester war schon an den Rand des Wagens getreten und streckte horchend ihr Köpfchen hinaus. Da war es wieder! Huftrappeln. Und nein, das war nicht das Trappeln eines einzigen Tieres, das waren mehrere. Eine Herde. Die Geräusche kamen näher, wurden lauter und schon brach eine Herde Rehe aus dem Unterholz. Sie rannten seitlich am Zug vorbei, bis sie außer Sicht waren. „Was war denn das?“, fragte Nuka erstaunt. „Ich weiß nicht genau“, antwortete Mika und kniff die Augen zusammen, um in der Ferne etwas zu erkennen.
Plötzlich durchschnitt ein ohrenbetäubendes Kreischen die Luft — der Zug bremste unvermittelt ab. Ein Ruck ging durch das metallene Gefährt und Mika, die zu nah am Rand gestanden hatte, kippte vorwärts aus dem Wagen und kopfüber in den Schnee.
„Mika!“, schrie Nuka noch, aber wie der Zug noch über die vereisten Schienen rutschte, war seine Schwester aus seinem Blickfeld verschwunden.
14. Dezember
Nuka zögerte nicht lange.
Mit einem beherzten Sprung setzte er Mika nach – jedoch kann selbst der aerodynamischste Kater nicht zwei erstklassige Sprünge an einem Tag hinlegen. Sein Hinterbein blieb an der Schwelle hängen und mit einem Salto Mortale segelte er in einen riesigen Schneehaufen hinein. Ah, war das fürchterlich! Der Schnee hatte zwar seinen Sturzflug gebremst, aber er war auch kalt, nass und drang in Nukas Ohren, Maul und Nase. Prustend und schnaubend strampelte sich der Kater hinaus. Sein Kopf ragte wie das Periskop eines kleinen, orangefarbenen U-Boots aus der eisigen Düne und er schrie mehrere Male laut den Namen seiner Schwester in die Nacht.
Und wie er mit Schrecken bemerkte, hatte der Zug mittlerweile wieder an Fahrt aufgenommen. Scheinbar hatte der Zugfahrer die Rehen gesehen und war vorsichtshalber auf die Bremse getreten. Nun sausten die Räder immer schneller an Nuka vorbei, die eiserne Karawane beschleunigte und plötzlich, mit einem „Wusch“, war der Zug zu Ende und nur die Rücklichter schienen noch wie zwei blutrote Augen aus der Dämmerung hervor. Sein Rattern wurde immer leiser, er zog um eine Biegung und war verschwunden.
Laut dröhnte die eintretende Stille in Nukas Ohren. Er musste seine Schwester finden, allein hatten sie keine Chance, hier draußen zu überleben. Besonders, da ihr einziges Transportmittel nun ohne sie weiterfuhr. Panisch strampelte er sich ganz aus der Wehe und stapfte mühsam durch den tiefen Schnee, immer wieder nach Mika rufend. Keine Antwort. Wo konnte sie nur stecken? Nicht, dass sie sich beim Sturz aus dem Zug ernsthaft verletzt hatte und nun irgendwo ohnmächtig im Schnee lag? Immer weiter kämpfte sich Nuka voran, bis er seine Pfoten nicht mehr spürte. Er war ja immer noch ein Hauskater, konditioniert für warmen Holzboden und ausgiebige Schläfchen an gemütlichen Plätzen.
Da bemerkte er eine Spur im Schnee. Er schnupperte: ja, das war Mika! Sie musste hier gewesen sein. Allerdings waren da noch andere Pfotenabdrücke, sehr große, mit einem fremdartigen Geruch. Die Spur führte gerade auf den Wald zu, aus dem die Dunkelheit gekrochen kam. Nuka biss die Zähne zusammen. Jetzt hieß es, mutig sein. Hinterher hatte er alle Zeit der Welt zum Fürchten. Mika folgen, das war die einzige Option!
Im Wald war es windstill und beinahe völlig finster. Zum Glück lag auch hier Schnee, der sich hell gegen die Baumstämme absetzte und so Orientierung bot. Nuka tappte zögerlich unter den herabhängenden Zweigen entlang, immer schnuppernd, damit er Mikas Fährte nicht verlor. Da raschelte es im Unterholz. Nuka fuhr herum, stand zitternd da – und diesmal war es nicht die Kälte, die seine Beine schlottern ließ.
Mit einem Mal stoben zwei schwarze, borstige Wildschweine aus dem Wald hervor. Eins verfolgte das andere und stieß es immer wieder mit Schnauze von hinten in die Seite. Beinahe hätten sie Nuka über den Haufen gerannt, hätte sich dieser nicht schnell einen Fichtenstamm hinauf gerettet. So hing er nun in der Höhe, die Krallen ins Holz gebohrt und traute sich nicht zu atmen, während unter ihm die Schweine sich in Kampfposition gegenübertraten.
„Na, komm schon!“, schrie das eine dem anderen zu und scharrte provozierend mit der linken Klaue im Schnee. „Komm du doch!“, schrie das andere zurück. „Das hättest du wohl gerne!“ „Ja, und ob ich das gern hätte!“ „Greif doch an!“ „Greif du doch an!“ Und so ging es hin und her, ohne das einer den ersten Schritt tat.
Nukas Kraft würde bald nachlassen, das spürte er, und so löste er langsam seine Krallen aus dem Stamm, denn über ihm konnte er einen Ast erahnen, auf den er sich schwingen wollte. Wie in Zeitlupe bewegte er sich, hangelte aufwärts und saß endlich auf dem sicheren Zweig. Unten ging der Streit unbekümmert weiter. „Du traust dich doch eh nicht!“, brüllte das eine Schwein. „Du bist hier der, der sich nicht traut!“, röhrte es zurück. „Feigling!“ „Selber Feigling!“
Langsam wich Nukas Starre aus seinen Gliedern und er wagte sich ein kleines Stück auf seinem Ast nach vorn. Er wollte einen richtigen Blick auf die Fremden werfen. Unter ihm knackte es bedrohlich, doch er schenkte dem keine Beachtung – wieder einmal sein eigenes Gewicht unterschätzend. Mit einem hässlichen Knacken gab das Zweiglein unter dem dicken Kater nach und der stürzte mit einem kläglichen Miauen, sich noch verzweifelt an das Stück Holz klammernd, in die Tiefe.
Er fiel genau in die Mitte – zwischen die beiden Schweine.
15. Dezember
Die beiden Wildschweine hätten verdutzter nicht sein können. Sie beäugten den merkwürdigen Fremden, der da auf dem Rücken lag und ängstlich zu ihnen hochsah.
„Ey, Hödur, sag mal, was ist denn das für ein komischer Vogel?“, fragte endlich das Schwein, dessen Fell etwas heller war als das des anderen. „Ich hab keine Ahnung, Balder“, antwortete das andere mit bestürzter Miene, „könnte eine komisch gefärbte Eule sein.“ Es hatte ein tiefschwarzes Fell, nur ein ungewöhnlich heller Streifen lag über seinen Augen wie eine Binde. Das erste Schwein schnaubte empört. „Eule! Du bist auch so eine Eule!“ Hödur erwiderte nichts, sondern näherte dem Kater seinen großen Rüssel, um dessen Bauch zu beschnuppern.
Instinktiv packte Nuka zu. Sein Bauch war absolute Sperrzone und niemand hatte das Recht, mit einem komischen Rüssel daran herumzuschnuppern. Hödur grunzte erschrocken und machte einen Satz zurück. „Aua!“, jaulte er auf. Balder lachte dreckig und rempelte ihn an. „Ja, so läuft das unter euch Eulen. Sieht man doch, dass das eine Katze ist. Manchmal bist du echt so ein Blindfisch.“ Hödur schnuffelte mit seinem empfindlichen Rüssel eingeschüchtert im Schnee herum. „Hm … hab ich nicht gesehen …“, murmelte er.
Die beiden Wildschweine sahen nicht angriffslustig aus, und Nuka fühlte sich mutig genug, aufzustehen. Wenn sie ihn fressen oder aufspießen wollten, hätten sie das bereits tun können. „Wer … oder was seid ihr?“, fragte er endlich. „Wer wir sind?“, lachte Balder, „Wir sind Wildschweine! Die Fürsten des Waldes, wenn du so willst. Zumindest Nachwuchsfürsten. Das ist mein Bruder Hödur und ich heiße Balder. Und wer bist du?“
„Ich bin Nuka“, antwortete der Kater, „und ich suche meine Schwester Mika. Eine kleine graue Katze mit weißem Kragen und weißen Pfoten, habt ihr sie vielleicht gesehen?“ Die Wildschweine überlegten. „Graue Katze … mit weißen Pfoten …“, murmelte Hödur. „Na du brauchst gar nicht erst zu überlegen, du kriegst doch nie irgendwas mit!“, blaffte ihn Balder von der Seite an. „Eine graue Katze, sagst du?“, fuhr er zu Nuka gewandt in freundlicherem Ton fort. „Nein, sie ist uns leider nicht begegnet.“ Nuka ließ die Schultern hängen. Wie sollte er Mika nur in diesem undurchdringlichen Forst finden?
„Aber ich habe sie gesehen“, tönte da eine leise Stimme an ihre Ohren. Die drei blickten sich um und aus dem dunklen Dickicht trat ein schlanker Rotfuchs auf die Lichtung. „Wer ist es? Ich kann ihn nicht so genau erkennen!“, quiekte Hödur und riss die Augen auf, um in dem Dämmerlicht besser sehen zu können. „Krieg dich ein, es ist Janus“, antwortete Balder. „Was willst du hier“, fügte er grimmig hinzu, als der Fuchs immer näher auf sie zukam, „Du hast in diesem Teil des Waldes nichts verloren.“ Der Fuchs blickte ihn lange an, mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck. „Ich bin auch nur, sagen wir, auf der Durchreise“, sagte er schließlich mit einer weichen Stimme, in der ein lauernder Unterton mitschwang. „Wollt ihr nicht ein paar Manieren zeigen und mich eurem neuen Freund vorstellen?“
„Nein, danke, das wollen wir nicht!“, grunzte Hödur. „Mach, dass du wegkommst!“, setzte sein Bruder nach und die beiden Schweine begannen, drohend mit den Hufen im Schnee zu scharren. Doch Nuka war aufmerksam geworden. „Du hast gesagt, du hättest meine Schwester gesehen?“
Der Fuchs wandte sein spitzes Gesicht dem Kater zu. „Ja, das habe ich“, antwortete er mit betont sanftem Ausdruck, „Willst du sie wiedersehen?“ „Ja, unbedingt!“, rief Nuka, „Wo ist sie? Geht es ihr gut?“
Balder stupste ihn mit dem Rüssel an. „Kleiner, überleg dir das gut. Ich würde mich nicht mit diesem Wendehals abgeben, wenn ich du wäre. Glaub mir, wir finden deine Schwester auch ohne seine Hilfe.“
„Danke, aber ich muss unbedingt wissen, ob er die Wahrheit sagt“, gab Nuka mit gesenkter Stimme zurück. „Und wenn sie in Gefahr ist, dann muss ich ihm erst recht folgen und sie befreien. Da hilft alles nichts.“ Balder senkte den Kopf und Nuka wandte sich wieder dem Fuchs zu. „Bring mich zu ihr“, sagte er entschlossen.
Janus führte den kleinen Kater immer tiefer in den Wald hinein. Immer wieder hatte der sich nach den beiden Wildschweinen umgesehen, die auf der Lichtung standen und ihm besorgt nachsahen. Doch irgendwann waren sie in der Ferne verschwunden und mit einem Schrecken stellte Nuka fest, dass er weder den Weg zu ihnen, noch zu den Gleisen zurück fände, wenn er es versuchen würde. Der Fuchs lief zügig voran und seine Pfoten machten kaum einen Laut – Nukas Beine hingegen wurden immer schwerer. Es war ein langer Tag gewesen, mit so vielen Aufregungen und Gefahren, heimtückischen Angriffen und schier endlosen Zugfahrten. Er spürte, wie er immer müder und müder wurde. Außerdem schien es ihm, als würde ihm die Kälte nun nichts mehr ausmachen. Ihm war eher warm, so warm, er hätte am liebsten seinen Pelz ausgezogen, wenn er gekonnt hätte.
Nuka war schon einige Meter abgeschlagen, als sich der Fuchs zu ihm umwandte und seinen Rückstand bemerkte. „Was ist denn mit dir? Kommst du?“ „Ich … komme …“, murmelte der Kater wie betäubt, dann kippte er seitlich um und fiel in den Schnee.
16. Dezember
Als Nuka erwachte, fand er sich in einer finsteren Höhle wieder. Der vordere Teil wurde durch das einfallende Licht eines fahlen Mondes erleuchtet. Düster standen die Tannen vor dem Eingang und beschirmten diesen mit ihren Ästen wie stumme Wächter. Nuka drehte den Kopf, um in den hinteren Teil der Höhle zu blicken. Dort knäulte sich die Dunkelheit zusammen und machte es unmöglich, etwas zu erkennen. Wenn seine Augen ihn verließen, musste er sich wohl oder übel auf seine anderen Sinne konzentrieren. Er schnupperte in der Luft und auf dem kalten Steinboden herum. Dabei geriet ihm eine Staubfussel in die Nase und er musste niesen.
Mit einem Mal hörte er hinter sich eine vertraute Stimme, die leise und fragend seinen Namen rief. Das war seine Schwester! Nuka sprang auf und wollte in die Richtung stürmen, aus der er sie gehört hatte. Weit kam er nicht. Ein dünnes Seil war um seine Beine geschlungen, das ein Fortkommen unmöglich machte. Durch das überraschende Hindernis stürzte der Kater unangenehm zu Boden. Sofort rappelte er sich aber wieder auf, schüttelte sich und rief ins Dunkel. „Mika! Wo bist du?“
„Ich bin hier“, kam es aus einer Ecke, doch so sehr sich Nuka auch bemühte, er konnte sie in der Finsternis, die sie umgab, nicht sehen. „Ich komme nicht von der Stelle!“ „Ich auch nicht“, antwortete er, „irgendjemand hat mich festgebunden.“ „Warum sind wir hier?“, jammerte die kleine Katze, „Ich kann mich an gar nichts erinnern. Ich bin in den Schnee gestürzt und muss vor Schreck ohnmächtig geworden sein. Das nächste was ich weiß, ist dass ich hier aufgewacht bin.“ „Mich hat jemand hier her geführt, der dich gesehen hat“, gab Nuka nachdenklich zurück. „Was? Wer war das?“ „Ein Fuchs namens Janus. Aber wenn er uns fressen wollte, warum hat er das nichts längst getan? Warum bringt er uns hier her und fesselt uns?“ „Wir werden es herausfinden, er kommt bestimmt gleich zurück.“, stellte Mika finster fest.
Doch Nuka dachte nicht daran, ruhig auf die Dinge zu harren, die da kommen würden. Das werden wir ja sehen, dachte er, von so einem dämlichen Fuchs lässt sich ein Kater von meinem Format nicht einfach reinlegen, fesseln und in irgendwelche Höhlen werfen. Er versuchte, das Seil mit den Zähnen anzunagen, doch es hielt stand. Was war das überhaupt für eine feige Art, einen Fremden so reinzulegen und dessen Angst auszunutzen! Da waren ihm fünfzig Schneeeulen lieber, die direkt angriffen, da wusste man zumindest, woran man war! Nuka redete sich immer mehr in Rage, bis er schließlich voller Zorn seinen Frust in den Wald hineinschrie, fauchte, buckelte, grollte und immer wieder mit aller Kraft an dem Seil riss. Mikas Rufe, die ihn beruhigen sollten, konnten ihn nicht aufhalten. Dieser blöde Fuchs! Der konnte etwas erleben, wenn er hier loskam! Das rote Fell würde er ihm eigenhändig über die Ohren ziehen!
Mit einem Mal war es vorbei. Die Wut war verraucht, alle Energie war aus dem kleinen Kater gewichen und er ließ sich keuchend auf die Seite fallen. Das Seil tat was es sollte – es hielt. „Nuka —“, begann Mika kläglich, doch plötzlich hielt sie inne.
Der Schnee vor der Höhle knirschte und zwei dunkle Gestalten traten aus dem dichten Wald hervor. Eine davon war ein Fuchs und die andere ein riesiger, grauer Wolf.
„Bist du dir sicher?“, raunte der Wolf mit einer Stimme, die den Katzen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sein zottiges Fell war struppig und insgesamt machte er neben dem Fuchs mit seinem gepflegten Pelz keine sonderlich gute Figur. „Klar“, sagte Janus lässig und schlenderte in die Höhle. „Meister Petz wollte bis Sonnenaufgang auf die Jagd, heute gibt’s Kaninchen. Und du weißt ja, er ist mindestens so langsam, wie er einfältig ist. Nicht so wie du.“ „Das stimmt“, lachte der Wolf heiser, „bei Kaninchen bin ich unübertroffen.“ „So ist es“, lächelte der Fuchs.
„Nun musst du mir aber sagen, was das hier ist“, wandte der Wolf ein und ein misstrauischer Zug legte sich in seine Miene. „Es gibt wirklich keinen Grund zur Sorge“, beschwichtigte ihn der andere, „das sind Beutetiere, die der Bär für schlechte Zeiten hier gelassen hat. Wenn du sie ihm in seinem eigenen Unterschlupf vor der Nase wegschnappst, wird ein für alle Mal klar sein, wer der Herr im Wald ist. Dann wird er uns nicht mehr rumkommandieren! Endlich Freiheit – Freiheit – Freiheit!“ „Freiheit – Freiheit“, stimmte der Wolf ein, „Das wird aber auch endlich mal Zeit. Was bildet der sich eigentlich ein, sich als Chef aufzuspielen! Jeder weiß, dass ich der einzige bin, der für diese Aufgabe in Frage kommt.“ „So ist es“, lächelte der Fuchs.
„Na dann kommen wir mal zum angenehmen Teil des Abends, würde ich sagen“, grinste der Wolf, trat auf Nuka zu und hob die Lefzen, um eine Reihe von ungepflegten, gelben Zähnen zu offenbaren.
17. Dezember
Der Wolf kam immer näher, seine Krallen klickten bedrohlich bei jedem Schritt auf dem steinernen Höhlenboden. Nuka konnte nun jedes Detail seiner mächtigen Gestalt sehen. Das verfilzte Fell, die spitz in die Höhe stehenden Ohren und die blassgelben Augen, die in der Dunkelheit leuchteten. Er fixierte den kleinen Kater mit starrem Blick. Aus seinem Mundwinkel tropfte ein langer Faden grünlichen Speichels.
Nuka hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht. Wenn er zuvor gedacht hatte, dass die bisherigen brenzligen Situationen ausweglos gewesen waren, so hatte er sich stets geirrt. Doch dieses Mal war keine Rettung in Sicht. Panisch sah er sich nach einem Loch in der Wand, einer winzigen Höhle um, in die er sich drängen könnte, doch die Felswand stand da, in ihrer unbarmherzigen Glätte.
Da stürmte auf einmal mit Karacho ein schwarzes Wildschwein herein und schrie:„Hier kommt die Kavallerie!“ Es verfehlte den Wolf um mehrere Meter, prallte stattdessen mit dem Kopf an die Höhlenwand und blieb ohnmächtig liegen. Verdutzt blieb der Wolf stehen und sah den Fuchs fragend an. Dieser zuckte mit den Schultern und wies mit dem Kopf auf das ohnmächtige Schwein. „Das auch für mich?“, fragte der Wolf dämlich. „So ist es“, lächelte der Fuchs. Der Wolf grinste und wandte sich dann wieder seinem Appetithäppchen, dem kleinen Kater zu.
Plötzlich kam ein zweites Wildschwein aus dem Nichts angerannt und rammte den Wolf mit voller Wucht. Dieser flog seitwärts zu Boden, richtete sich aber gleich wieder auf und ging in Angriffsstellung. Er fletschte die Zähne und gab ein aggressives Knurren von sich. Das Wildschwein ließ sich davon nicht einschüchtern, schüttelte den mächtigen, hauerbewehrten Kopf und wollte gerade auf den Wolf losstürmen, als hinter ihm ein noch viel größeres Tier auftauchte.
Es war ein riesiger Bär und sein Brüllen ließ die ganze Höhle erzittern. Nuka konnte seinen Augen nicht trauen. Nie zuvor hatte er ein so großes Wesen gesehen, und Georg war der größte Mensch, den er kannte. Selbst den würde dieses Monstrum noch um einige Köpfe überragen. Er kam sich vor wie in einem Alptraum. Zusammengeduckt hockte er in seiner Ecke und konnte nur erahnen, wie es Mika gerade ging – vermutlich starb sie vor Angst.
Der Bär hatte sich nun zu voller Größe aufgebaut und berührte fast die Decke der Höhle. Mit seinen riesigen Tatzen schlug er nach dem Wolf, der ihm behende auswich. Dann erhob das mächtige Tier seine Stimme und ihr Hall wurde von den Wänden hin und her geworfen.
„Dürfte ich fragen, was du in meiner Höhle zu suchen hast?“, brüllte er. Der Wolf wollte etwas erwidern, da traf ihn ein mächtiger Prankenhieb und beförderte ihn durch die Luft, zum Eingang der Höhle hinaus. Er rutschte einige Meter über den Schnee, dann trollte er sich jaulend ins Dunkel.
Der Bär wandte sich um, zum Fuchs, der immer noch unbewegt an der Seite stand. „Und du, Janus, glaub’ ja nicht, ich hätte dich nicht bemerkt. Was tust du hier?“ Der Fuchs trat mit einer weichen Bewegung aus dem Schatten. „Das Richtige“, antwortete er mit sanfter Stimme. Seine Gesichtsausdruck war unergründlich. „Sicher“, gab der Bär zurück und sah ihn lange an, „so oder so, troll dich. Wer mit dir zu tun hat, der ist verloren.“ „So ist es“, lächelte der Fuchs und verschwand mit einer raschen Bewegung zwischen den Bäumen.
Langsam ließ sich der Bär zurück auf seine Vorderbeine sinken, dann pfiff er beinahe lässig über die Schulter. Auf sein Kommando kam ein kleinerer Bär, ein Jungtier, herein. Es hoppelte auf Nuka zu und begann mit geschickten Pfoten, den Knoten um dessen Bein zu lösen. „Meine Schwester ist dort hinten“, beeilte sich Nuka zu sagen, und als das Seil locker war, hoppelte sein Befreier in Mikas Richtung davon. Sekunden später kamen sie gemeinsam aus dem hinteren Teil der Höhle. Mika war zerzaust und sah völlig verängstigt aus. Sobald sie Nuka sah, rannte sie zu ihm und schmiegte sich an ihn.
„Es tut mir sehr leid, dass ihr Opfer dieser hässlichen Scharade geworden seid“, hob der Bär an, „aber vielleicht tut es gut, ein paar bekannte Gesichter zu sehen.“ Und mit diesen Worten trat Balder, das Wildschwein, zu ihnen heran. „Wir sind euch gefolgt, und als es zur Bärenhöhle ging, konnten wir schon ahnen, worauf alles hinauslaufen würde. Janus ist bekannt für solche Spielchen.“ Mit einem Blick auf seinen Bruder, der immer noch betäubt am Boden lag, fügte er grinsend hinzu: „Hödur geht’s gut. Ist nur ohnmächtig, aber das ist auch nichts Neues.“
„Nun habt ihr euch ja wieder“, sagte der große Bär zu den Katzen, „was ist euer weiterer Plan?“ „Wir wollen gern nach Hause“, antwortete Nuka, „aber wir wissen nicht, wie wir uns heimfinden sollen.“ „Macht euch keine Sorgen“, gab der Bär zurück, „ich denke, ich weiß, wie wir euch helfen können.“
Einige Minuten später, als Hödur wieder bei Bewusstsein war, machten die beiden Wildschweine sich auf den Weg, um die Katzen in ein nahegelegenes Dorf zu bringen. „Die Menschen dort werden schon wissen, wie ihr wieder nach Hause kommt“, hatte der Bär gesagt, bevor er sich von ihnen verabschiedete, „und bleibt nach Möglichkeit dem Wald fern!“ „Vor allem dem Fuchs“, murmelte Nuka bei sich. Die beiden Katzen bedankten sich herzlich für die Rettung und der kleine Bär winkte ihnen noch lange nach, bis sie um eine Biegung gingen und das Dorf vor ihnen lag.
18. Dezember
Am Rand des Dorfes blieben sie stehen.
„Hier müsst ihr allein weiter“, sagte Hödur, „wir können euch leider nicht begleiten. Die Menschen mögen uns nicht allzu gern.“ „Könnte daran liegen, dass ein gewisser Jemand ständig in ihren Gärten geräubert hat“, fügte Balder mit einem giftigen Seitenblick auf seinen Bruder hinzu. Dieser überhörte die Stichelei. „Die gute Nachricht ist, euch dafür umso mehr. Im Dorf gibt es noch viel mehr von euch. Deshalb wird euch wahrscheinlich jeder helfen, bei dem ihr euch vor die Haustür setzt und mitleiderregend jammert. Das könnt ihr doch, oder?“ Mika zeigte spöttisch auf Nuka: „Da kenn’ ich jemanden!“ Nuka senkte beschämt den Kopf. Es stimmte, er war bereits in der ganzen Familie als Schreihals bekannt, der zuverlässiger als jeder Hahn beim ersten Sonnenstrahl den Weckschrei ausstieß. „Das ist nur, weil ich morgens immer so hungrig bin!“, versuchte er sich zu rechtfertigen, während Mika seinen Hunger-Gesang imitierte und die Wildschweine dreckig lachten.
Immer noch kichernd mussten sie sich nun verabschieden, denn wie Balder bemerkte, war Eile geboten, denn sonst waren alle Menschen schon im Bett. Die Katzen drückten ihre Köpfchen gegen die warmen Schweinerüssel, eine Geste, die in Katzenkreisen tiefe Zuneigung bedeutet. Dann trabten die Schweine zurück zwischen die Fichten und Hödur wäre fast gegen einen Baumstamm gelaufen, hätte ihn Balder nicht im letzten Moment zur Seite geschubst. Nuka und Mika sahen sich an. „Na los“, sagte Nuka, „auf geht’s.“
Seite an Seite betraten sie das Dorf. Die engen, verschneiten Straßen waren von kleinen Bauernhöfen gesäumt und wurden durch das orangefarbene Licht einzelner Straßenlaternen spärlich beleuchtet. Die beiden Katzen hatten vor, direkt an der ersten Tür ihren Gesang anzustimmen, aber alle Fenster in der Straße waren bereits dunkel.
„Wir dürfen uns davon nicht abhalten lassen!“, beschloss Nuka und postierte sich aufrecht vor der ersten Tür. Dann begann er, seine erste Arie zu schmettern. Zuerst war sein Jaulen noch mitleiderregend – traurig wimmernd tönte es zu den dunklen Scheiben hinauf. Dann, als sich keine Regung zeigte, wurde sein Vortrag intensiver. Er schmetterte sein Klagegeheul nach oben, schrie verzweifelt, kreischte wie ein Besinnungsloser gegen die verschlossene Tür. Mika hielt sich im Hintergrund die Ohren zu und fragte sich insgeheim, ob dieser Auftritt ihre Sympathie bei den fremden Menschen steigern würde. Und was würden Lotta und Georg sagen? Mika wusste es, wahrscheinlich so etwas wie: „Seid ihr bei den Wölfen aufgewachsen, oder wer hat euch zu so einem Benehmen erzogen?“
Ein ähnliches Urteil fällten wohl auch die Bewohner des Hauses. Nach einigen Minuten des unerträglichen Katzenjammers kam eine Ladung Wasser aus einem der oberen Fenster auf sie herabgesaust. Mika konnte Nuka gerade noch beiseite reißen, sonst wäre er klitschnass geworden.
„War das … schlecht?“, fragte der bestürzt. Mika verdrehte die Augen. „Naja …“, antwortet sie, „vielleicht gehst du das nächste Mal nicht gleich mit dem Brecheisen ran. Ich würde uns bei so einem Lärm auch nicht aufmachen.“ Nuka nickte resigniert und gemeinsam trotteten sie zum nächsten Hause.
Doch auch dort hatten sie kein Glück, und auch bei den anderen nicht. Nach und nach machten sie die Bekanntschaft mit Besen, weiteren Wasserwürfen, wütenden Wachhunden und noch wütenderen Hausherren.
Gerade war Nuka von einem Schneeball getroffen worden, da beschlossen sie, diese Nachbarschaft aufzugeben. „Ich glaube, hier schlafen wirklich alle schon“, urteilte Mika, „lass uns weitergehen. Vielleicht gibt es im Dorfinneren Menschen, die noch wach sind.“ Sie schlichen weiter.
Als sie auf einem kleinen Anger angelangt waren, wies Mika mit der Pfote auf ein Haus an der Stirnseite des Platzes. Es war festlich geschmückt, in den Fenstern standen Schwibbbögen und fröhliche Stimmen klangen durch die Scheiben – menschliche Stimmen! Und dann stand da eine kleine Statue auf der Vortreppe, die ihre Aufmerksamkeit erregte. Ein wenig eingeschneit, aber trotzdem unverkennbar stand da eine Katze mit Weihnachtsmütze! Die beiden Katzen hatten keinen Zweifel mehr: das musste es sein, endlich ein Haus, in dem sie Aufnahme finden würden, ein Haus voller Katzenfreunde!
Mika malte es sich bereits aus: auf einem warmen Sofa oder kuscheligen Sessel zu sitzen, ein Schälchen mit Tunfisch vor der Nase, während eine freundliche Familie im Hintergrund Himmel und Erde in Bewegung setzte, um Lotta und Georg zu finden.
Während sie noch so träumte, hatte sie nicht bemerkt, dass ihr Bruder von ihrer Seite gewichen war. Irritiert drehte sie sich nach ihm um, aber sie sah nur noch eine orangefarbene Schwanzspitze um eine Hausecke streichen. „Nuka!“, rief sie ihm mit verhaltener Stimme nach, „Was machst du denn für einen Blödsinn?“ Aber er kam nicht zurück.
Mika seufzte und setzte ihm mit schnellen Sprüngen nach. Als sie um die Ecke bog, konnte sie ganz am Ende der Straße einen dicken Kater sehen, der mit erhobenem Kopf aufgeregt in der Luft schnupperte. Und auch Mika roch den dünnen Faden, der durch die Luft schwebte: ein Duft, so verheißungsvoll wie die Weihnachtszeit selbst. Glühwein mischte sich mit der Zimtnote frisch gebackener Plätzchen, Weihrauch und Fichtennadeln, über offenem Feuer gebratenes Fleisch und gebrannte Mandeln lockten mit himmlischen Gerüchen. Mika konnte es ihrem Bruder gar nicht verdenken, dass er diesem Duft gefolgt war und beeilte sich, ihn einzuholen. Gemeinsam schlichen sie dem Faden nach, der vor ihrem inneren Auge immer deutlicher und breiter wurde.
Da standen sie auch schon vor den tannenzweigbekränzten Eingangstoren eines kleinen Weihnachtsmarkt, der sich auf einem offenem Platz befand. Fröhliche Menschen strömten hinaus und hinein, hielten Tütchen mit Nüssen und Schokoladenfrüchten in der Hand, hatten Lebkuchenherzen um den Hals gehängt und schlürften Punsch aus dampfenden Tassen.
Die beiden Katzen hielt nun nichts mehr. Darauf acht gebend, nicht zwischen die Beine der anderen Besucher zu geraten, schlichen sie durch die Tore hinein ins bunte Treiben.
19. Dezember
Die Marktstände boten Dinge feil, die sie noch nie zuvor gesehen hatten. Laternen mit bunten Gläsern, prachtvolle Herrenhuter Sterne, Kerzen in vielen verschiedenen Formen und Farben und kunstvolle Holzspielzeuge prangten in den Auslagen. An einem Stand war das Fenster gefüllt mit einem Berg von kuscheligen Lammfellen und die Verkäuferin zeigte einem älteren Herrn gerade eine Auswahl von dunkelgrauen Schlappen. Und erst das Essen! Alle paar Meter gab es eine andere Köstlichkeit zu entdecken: gebrannte Mandeln, Bratwürste, glasiertes Obst, gebackene Champignons in Knoblauchsauce, Waffeln mit Puderzucker und himmlisch duftender Eintopf.
Nuka und Mika konnten ihren Augen nicht trauen. Sie kamen sich vor wie in einem Schlaraffenland, das an jeder Ecke mit neuen Wundern lockte. Besonders der kleine Kater war im siebten Himmel. Er stolzierte mit hoch erhobenem Kopf voraus und konnte sich an all den verheißungsvollen Leckereien nicht satt sehen – und riechen. Mika hatte Mühe, im Gedränge mit ihm Schritt zu halten und musste immer wieder schweren Winterstiefeln ausweichen, die Nuka mit traumwandlerischer Sicherheit umging. Als jemand sie unsanft in die Seite stieß, um an einen Glühweinausschank heranzutreten, reichte es ihr. Verflogen war der erste Zauber des Weihnachtsmarktes und sie wurde langsam sauer. Die Menschenmenge wuchs und zeitweise gab es überhaupt kein Vorankommen mehr, so dicht war der Wald aus Beinen, der ihr den Weg versperrte. Und Nuka rannte voran wie ein Verrückter! Mika verlor ihn irgendwann ganz aus den Augen und konnte sich nur auf ihre feine Nase verlassen, ein Vorsatz, der gar nicht so leicht war, inmitten einer Kakophonie von verschiedensten Gerüchen.
An einem Spanferkelgrill konnte sie ihren Bruder schließlich einholen. Der saß ordentlich mit nebeneinander gestellten Pfoten vor dem offenen Stand und sah mit verklärtem Blick hinauf zu dem rotierenden Borstenvieh. Mika stieß ihn an. „Hey, das dürfen wir doch gar nicht essen!“ „Wer sagt das?!“, empörte sich Nuka, „Was soll das heißen? Ich gucke doch nur! Darf man nicht einfach mal gucken? Ich mache ja gar nichts!“ „Lotta sagt das“, antworte Mika, „Sie hat gesagt, Katzen dürfen kein Schweinefleisch essen. Hörst du eigentlich nie zu?“ „Ich höre zu“, murmelte Nuka abwesend, die Augen immer noch wie festgeklebt am Spanferkel. „Und von wegen, du machst nichts. Was ist dann das da in deiner Pfote?“ „Nichts.“ „Zeig her!“ „Nein, lass mich!“
Doch Mika war geschickter und riss Nuka die Serviette aus der Hand, die er auffällig unauffällig mit der Pfote bedeckt gehalten hatte. „Was ist denn das … ihhh! Nuka! Das ist ein alter Kaugummi!“ „Na und …“, murrte der Kater missmutig, „ist auch nicht zu verachten.“ Mika schüttelte wütend ihr kleines Köpfchen. „Genau das ist der Grund für dein Übergewicht, du bist so unglaublich verfressen!“
„Wie kannst du das sagen?“, begehrte Nuka auf und löste sich vom Anblick des Schweins, „Du weißt doch, wie sensibel ich bin, wenn es um meine Figur geht! Außerdem habe ich schon so viel abgenommen!“ „Aber irgendjemand muss es dir einmal sagen“, fauchte Mika zurück, „deine Gier ist auch der einzige Grund, weshalb wir überhaupt hier sind! Wir könnten schon lange gemütlich auf einem weichen Sofa bei der Katzenfamilie sitzen, aber du musstest ja wegrennen. Toll gemacht, du Vielfraß!“ „Das nimmst du sofort zurück!“, schrie der Kater entrüstet. „Nein, das tu ich nicht! Ein blöder Fresssack bist du!“ „Aha, weißt du was, das nächste Mal kannst du dich selbst vor irgendwelchen Eulen und Wölfen retten, wenn der Fresssack so blöd ist! Mir reicht’s!“ Mit diesen Worten stapfte Nuka wütend davon. „Hey!“, rief Mika, „Bleib stehen! Wir dürfen uns nicht wieder trennen!“
Doch der eingeschnappte Kater drehte sich nicht um. Jetzt reichte es. Mit einem wütenden Knurren setzte Mika ihm nach, doch der Vorausgehende reagierte schnell und legte gleichsam an Geschwindigkeit zu. Als Mika meinte, ihn eingeholt zu haben, begann er zu rennen. Im Slalom jagten sich die beiden Katzen durch die Beine der Besucher. Nuka schlug Haken, um den Krallen seiner Schwester zu entkommen, die ihn erbarmungslos verfolgte und immer wieder nach ihm ausschlug.
Auf einer kleinen Bühne machte sich, vollkommen ahnungslos von der dramatischen Verfolgungsjagd, welche direkt auf ihn zusteuerte, der örtliche Gemeindechor daran, das nächste Lied anzustimmen. Es sollte das Highlight des Abends werden, mit einem vierstimmigen Arrangement des Klassikers bei jedem Weihnachtskonzert. Bisher war der Auftritt ganz nach Plan abgelaufen, der Chorleiter war zufrieden. Der Sopran strahlte, was nichts Neues war, denn der durfte ja immer die schöne Führungsstimme singen – nur der Bass machte ihm Sorgen. Diese Lage bereitete ihm bei jedem Auftritt Bauchschmerzen, denn sie bestand nur aus einer Stimme, um genau zu sein, einer Sängerin. Er war von Anfang an kritisch gegenüber dem Vorschlag gewesen, Frau Osmin, die Wirtin der Dorfkneipe, diese Stimmlage singen zu lassen. Aber es gab einfach niemanden, der so ausdauernd das tiefe C halten konnte, wie sie. Man müsse sich eben mit dem impertinenten Zigarettenqualm vor dem Probenraum arrangieren, versuchte er seine Entscheidung gegenüber den aufgebrachten Chormitgliedern zu rechtfertigen, aber da alle verbliebenen Herren des Ortes sich erfolgreich vorm Singen drückten, mussten sie sich fügen.
Bevor der Chorleiter den Taktstock aufnahm und den Kopf hob, um in die erwartungsvollen Gesichter seiner Sänger zu blicken, fragte er sich, ob das schon alles war. Dafür war er also aufs Konservatorium gegangen, sieben lange Jahre? Na, zumindest war heute ein Team vom Lokalfernsehen da, welches so kurz vor dem Fest ein bisschen Weihnachtsstimmung aus den Dörfern zeigen wollte. Wenn dieses Lied glückte, konnte er nachher im Interview damit prahlen, dass es sein eigenes Arrangement gewesen war. Er erhob den Taktstock und seine Sänger holten tief Luft. „Sti-lle Naaacht, hei-lige Naaacht“, schallte es wohltönend über die Köpfe der Zuhörer hinweg. „Aaa-lles schläääft…“
In diesem Moment schoss ein getigerter Blitz in die Sängerschar, riss dabei Noten und Mappen mit sich, die Frauen schrien auf, wie ein Derwisch rauschte er in den geschmückten Weihnachtsbaum am Rand der Bühne, der kippte um und hätte fast den Chor mitsamt Chorleiter erschlagen, wären nicht Frau Osmins kräftige Oberarme gewesen. Klirrend fielen die Glaskugeln zu Boden, Kinder im Publikum begannen zu weinen, Großmütter tasteten nach ihrem Herzschrittmacher. Der Störenfried sprang jedoch gleich aus den Zweigen heraus, ihm nachsausend eine graue Katze, die geschickt den Schlägen der aufgebrachten Chorsänger auswich.
Sekunden später war der Spuk vorbei, nur ein Bild der Verwüstung blieb zurück. In dessen Mitte – ein bestürzter Chorleiter.
20. Dezember
„Gleich hab ich dich“, dachte Mika. Sie war Nuka hart auf den Fersen und würde ihn gleich eingeholt haben. Sie streckte die Pfote aus – da packte sie eine große Hand im Nacken.
„Hab dich!“, dachte der Mann. Er war Mika nachgestürzt, kurz nachdem die beiden Katzen die Bühne verwüstet hatten. Den ganzen Vorfall hatte er mit angesehen, den letzten Schluck seines siebten Glühweins geleert und war, davon gestärkt, einer plötzlichen Eingebung folgend, mit mächtigen Schritten hinter der grauen Katze her. Er griff zu. Doch Mika wand sich und biß schmerzhaft in seine Hand. Mit einem Schrei ließ er sie wieder fallen und sie stob davon. Er untersuchte die Wunde: zwei rote Einstichlöcher zweier winziger Zähnchen. Hätte er die dämliche Katze nicht versucht zu fangen … aber was tat man nicht alles, wenn man schon mächtig einen in der Krone hatte. Er wandte sich um, zu seinen johlenden Freunden am Glühweinstand — und legte sich lang hin. Ein großer schwarzer Schatten war ihm zwischen die Beine geschlüpft und hatte ihn zu Fall gebracht.
Völlig außer Atem fanden sich die beiden Katzen außerhalb des Weihnachtsmarkts in einer Seitenstraße wieder, die eine Sackgasse war. Mika postierte sich aufrecht in der Einfahrt, es hätte nur noch gefehlt, dass sie wie im Western einen Colt zog. Nuka, der vor einer unüberwindbaren Mauer stand, wandte sich resigniert zu ihr um.
„Du kannst mir nicht entkommen!“, maunzte sie triumphierend. Doch Nuka antwortete nicht. Er starrte sie nur an. Dann duckte er sich tief auf den Boden, legte die Ohren an und begann ein dämonisches Geheul anzustimmen. Mika war verwundert. Er war sauer, okay – aber das war jetzt echt übertrieben. „Komm, stell dich nicht so an“, rief sie, „ich entschuldige mich auch für den blöden Spruch vorhin.“
Langsam kam der Kater auf sie zugeschlichen. Sein Gesicht hatte sich verändert. Die sonst strahlenden Kulleraugen und die niedlichen Pausbacken waren verzerrt zu einer hässlichen Fratze und sein Rückenfell stand in einer Bürste nach oben. Mika erkannte ihn nicht mehr wieder. Wollte er ihr Angst einjagen? „N-N-Nuka?“, stotterte sie. Aber er kam immer näher und näher. Mika ging in Deckung, bereit, sich zu verteidigen.
Mit einem Fauchen sprang der Dämonenkater über sie hinweg und sie hörte ein Kläffen hinter sich. Ein Kläffen … wie von einem … Hund?
Mika fuhr herum. Nuka hatte sich vor einem riesigen schwarzen Hund aufgebaut, der ganz ruhig da saß und keinerlei Anstalten machte, auf das aggressive Verhalten des wütenden Katers einzugehen. Plötzlich machte der einen Satz und wollte sich auf sein Gegenüber stürzen, aber der Hund streckte lässig eine Pfote gegen die Stirn des Angreifers aus. Der lief dagegen, stieß fauchende und prustende Laute aus, hieb wild mit seinen Krallen, aber er konnte nichts ausrichten. „Was machst du hier?“, schrie Nuka außer sich, „Warum bist du uns gefolgt? Willst du jetzt dein Mann-gegen-Mann haben, bitte schön, machen wir es jetzt und hier klar, wer der Herr im Hause ist!“
„Nu, höre doch ma uff hier so rumzubläk’n“, sagte da mit einem Mal der Hund, und nun wusste Mika, dass es eine Hündin war. Sie hatte eine weiche Stimme, sprach aber in einem Dialekt, der merkwürdig bekannt schien. „Du“, wandte sie sich direkt an die kleine Katze, „gannst du dem Dödel nich’ ma saachn, das ich dem nix tu? Der hat wo een’ über’n Durscht getrunk’n, dass der hier eenen uff Axel Schulz machd.“ „Äh, wie bitte?“ „Saache ma, ihr seid ooch ega so’n illustres Pärsch’n, wenn’sch ehrlich bin! Der eene muss hier ’n Momend der Stärke ausle’m und de andere is taub uff beeden Ohren! Isch – tu – eusch – nix, meene Gutste!“
Mika verstand noch immer nur die Hälfte und wusste nicht, ob sie der Fremden trauen konnte, packte Nuka aber trotzdem am Schwanz und zerrte ihn zurück. „Jetzt reiß dich ein bisschen zusammen, du benimmst dich total daneben“, zischte sie. Der Kater hockte sich neben sie, entplusterte sich und fixierte die Hünden mit zusammengekniffenen Augen.
„So, vielleicht erklärd mir ma’ jemand, wer ihr seid“, stellte die Hündin fest, als jedoch keiner antwortet, sprach sie weiter: „Nagud, dann stell ich mich erstdma vor —“
„Wir wissen, wer du bist!“, schrie Nuka, „und du brauchst ja nicht so unschuldig zu tun!“ „Nuka!“, rief Mika ihn zur Räson, „sei still!“
„Nu, ich bin uff jeden Fall de Diana.“ Nuka schnaubte durch die Nase, doch als Mika ihn in die Seite knuffte, blieb er ruhig. „Ich hab euch vorhin uffm Markt geseh’n, wie ihr prakdisch de Menkenke des Jahrhunderts inszenierd habt. Ehrlich, das mitt’m Boom hab ich schon komm’ sehn, der war doch ega total lawede. Ich seh’ euch da durchrammeln wie Attila und Co. und denk mir: ich glaub’, da stribbt der Pabst! Vorher war da eene Stimmung wie beim Opel-Karstadt-Bedriebsausfluch, und uff eenma’ geht da de Posd ab. Und da muss’d ich euch einfach hinterher. Ist ja sonst ega nix los hier in dem Nesd.“
Nun konnte Nuka nicht mehr an sich halten. „Erzähl doch nicht solche Lügen!“, rief er, „Mika, schau genau hin! Du kennst diesen Hund! Das ist der von Lottas Mutter, der uns immer provoziert, wenn wir nach Leipzig fahren! Der spricht ja auch genauso! Siehst du das denn nicht?“
„Meinst du Della?“, gab Mika zurück, „Du hast ja wohl Tomaten auf den Augen. Die hat doch blonde Marken, der Hund hier ist ganz schwarz. Und nebenbei bemerkt, derjenige der provoziert, bist ja wohl eher du.“
„Na, halt doch de Esse fest!“, mischte sich Diana ein, „Woher kennd ihr denn bidde de Della?“
21. Dezember
Nuka und Mika waren perplex. „Die Frage ist eher, woher kennst du bitte Della?“, platzte Mika heraus. „Meene Gutste, da is’ zwar schon ein bisschen Zeit vergangen, aber an meene Schwester werd’sch mich ja wohl erinnern könn’.“ „Della ist deine Schwester? Das heißt, wir sind irgendwo ganz in der Nähe von ihr?“ „Naja, das würd’sch nu’ nich’ saachen. Ich hab’se zumindest schon seit meiner Kindheit nich’ mehr gesehen.“
Die beiden Katzen ließen die Köpfe hängen. Damit war auch die Hoffnung dahin, dass sie in die Nähe von Lottas Mutter gekommen waren. Dort kannten sie nicht nur das Haus, sondern auch den Garten und hätten es leichter wiedererkennen können.
„So, jetzt rück’ter aber mit’ter Sprache raus!“ Und das taten die beiden Katzen ausführlich. Sie erzählten von Anfang an, wie sie ausgesperrt worden waren, wie sie herumirrten und sich verteidigen mussten, aber auch von all der Freundlichkeit, die ihnen unterwegs begegnet war. Diana hörte aufmerksam zu. Als die beiden Katzen zur Gegenwart und damit zum Ende kamen, nickte sie.
„Ich hab da eene Idee, wie wir euch wieder Heeme krieg’n. Aber Leude – woll’mer das Gespräch nich’ erst’ma in een komfortables Ambiente verlegen? Ich muss ooch ma’ wieder zu meenen Pappenheimern zurück, die denken sonsd, mich hat der Waldgauz gefressen. Aber ihr könnt mir einfach folgen, dann treff’sch euch nachher in meener Butze.“ „Wo sollen wir dich treffen?“ Mika war bei sächsischen Wortschwall nicht mitgekommen. „In meener Bude – in meener Hornzsche – äh, also in meener Hüdde! Da hecken wir dann ma’ eenen Plan aus, wie’s mit euch weitergehen soll. Meine Familie ist echt Zugger, außer de Wänster, die rammeln immer rum wie de Wild’n. Da muss de Muddi manchma’ mit physischer Gewald drohen. Wenn die mich nachher wieder antatschen, da hab’sch so viel Lust druff wie eene Guh zum Glavierspielen. Aber was soll’sch machen. Außerdem finden die so Tiger wie euch echt klasse, hätten mir auch fast so ein Exemplar ins Haus gebrachd. Also, woll’n wer nicht lang sabbeln, los geht’s!“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und spurtete zurück in Richtung des Weihnachtsmarkts. Nuka und Mika sahen sich an. „Sollen wir hinterher?“, fragte Mika ihren Bruder. „So sehr ich Hunde auch hasse“, gab Nuka zurück, „ich glaube, wir müssen ihr vertrauen. Sie ist momentan unsere einzige Chance, nach Hause zu kommen.
In besagtem Zuhause war seit Tagen die Hölle los. Georg war endlich angekommen und hatte eine Lotta vorgefunden, die nicht mehr sie selbst war, vor Angst um die beiden Katzen war sie fast verrückt geworden. Die ganze Nachbarschaft wurde mehrfach abgesucht, mit „Hast du mich gesehen?“-Plakaten bepflastert und die verzweifelten Rufe nach Nuka und Mika schallten jeden Abend durch die Siedlung. Auch riefen sie täglich beim Tierheim an, um nachzufragen, ob vielleicht eine orange-getigerte und eine graue Katze aufgefunden worden waren, aber leider musste die Dame am anderen Ende der Leitung immer wieder verneinen.
Heute war der erste Tag, an dem sich Georg, bevor er sein Telefon zückte, um beim Tierheim anzurufen, aufs Sofa fallen ließ und den Fernseher anschaltete. Als Lota dazu kam, sah sie ihn bestürzt an. „Du willst also aufgeben?“ „Nein, natürlich gebe ich nicht auf!“, rief Georg entrüstet, „aber ich verliere, ehrlich gesagt, langsam die Hoffnung! Die beiden sind wie vom Erdboden verschluckt! Was sollen wir denn noch machen?“ „Ich weiß es auch nicht“, stellte Lotta resigniert fest und plumpste neben Georg auf die Couch. Schweigend ließen sie sich vom Fernseher berieseln, während sie in Gedanken ganz woanders waren. Es lief Fußball. Lotta stand nach einiger Zeit auf und kochte eine Kanne Tee. Das Spiel ging vorbei und Georg schaltete um. „Und nun, die lustigsten Fernsehmomente dieses Jahres im Rückblick“, sagte der Nachrichtensprecher gerade, als Lotta mit zwei dampfenden Tassen zurückkehrte.
Auf dem Sofa lümmelnd verfolgten die beiden alle Versprecher, Ausrutscher und peinlichen Momente, bis der Moderator einen „brandneuen Clip“ ankündigte, der es „in sich“ habe. Auf einem Weihnachtsmarkt in einer Kleinstadt hatten zwei Katzen ein Chorkonzert ruiniert. Ein Fernsehteam war vor Ort gewesen, um den Auftritt zu filmen und ahnte dabei nicht, welch großartige Bilder noch folgen würden. Lotta und Georg mussten tatsächlich grinsen, als sie sahen, wie der riesige Weihnachtsbaum umkippte und der Chorleiter danach im Interview aufgelöst von der „Katastrophe des Jahres“ sprach.
„Warte mal“, sagte da Georg plötzlich, „kommt dir die zweite Katze nicht auch bekannt vor? Vielleicht sehe ich Gespenster, aber ich könnte schwören, die sieht aus wie Mika.“
22. Dezember
Die beiden Katzen hatten Mühe, Diana zu folgen. Kurz nachdem sie das dichte Getümmel des Weihnachtsmarktes empfing, dröhnten die vielen Stimmen in ihren Ohren, blendeten tausende Gerüche ihre Näschen und versperrten riesige Stiefel ihnen die Sicht. Immer wieder tauchte die Hündin ein in die Menge, um später ein Stück weiter hinten sichtbar zu werden. Auch hatte sie das Glück, groß genug zu sein, sodass die Menschen sie bemerkten. Nuka und Mika dagegen mussten sich an den Wänden entlang drücken, um nicht niedergetrampelt zu werden.
Dann sah Mika zwischen den Wald aus Beinen, wie Diana auf ein freundlich aussehendes Paar zustürmte, übermütig bellte und sich an sie schmiegte. „Los, dranbleiben!“, rief sie Nuka zu, doch mit Schrecken bemerkte sie, dass er nicht mehr hinter ihr war. Das konnte doch nicht wahr sein! Mika hielt inne und blickte sich verzweifelt um. Von Nuka war keine Spur zu erkennen — er war schon wieder einfach abgehauen!
Die kleine Katze stand erstarrt auf der Stelle, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Alles war versteinert, ihr Körper, aber auch ihr Geist. Sollte sie hinterher – und Nuka im Stich lassen? Oder sollte sie bleiben – und Diana vielleicht nie wieder finden? Völlig überfordert musste sie zusehen, wie sich die Hündin noch einmal über ihre Schulter nach ihr umsah und dann mit ihrer Familie in der Menge verschwand.
Mit einem Mal dämmerte es Mika, was gerade passiert war. Ihre Chance, von netten Menschen Hilfe zu bekommen, endlich nach Hause gebracht zu werden, hatte sich gerade gemeinsam mit dem netten Paar in der Menschenmenge aufgelöst. Selbst wenn es ihnen gelingen würde, Diana in dem Dorf wiederzufinden – Nuka blieb immer noch verschwunden.
Die kleine Katze kroch in den Schatten einer Marktbude und hockte sich niedergeschlagen unter einen Abfalleimer. Wie sollte es nun weitergehen? Was konnte sie nur tun? Da bemerkte sie, wie es in der Tonne über ihr raschelte. Und dann hörte sie ein Geräusch, dass ihr sehr bekannt vorkam. Es war ein Knurren, unterbrochen von gierigem Schmatzen.
Mit Schwung sprang Mika auf den Rand des Eimers und sah hinein. Am Boden, zwischen Pappschalen und Glühweinbechern, hockte Nuka und fraß hastig einen Haufen alter Pommes! Eine riesige Wut stieg in Mika auf. Jetzt reichte es ihr! Dieser verfressene Kater hatte erneut alles zunichte gemacht, das Essen ging ihm wirklich über alles! Einen wütenden Schrei ausstoßend fuhr sie auf ihn nieder, kratzte und biß. Der Kater hatte mit diesem Hinterhalt nicht gerechnet, verteidigte sich aber sofort nach Kräften. Fauchend und quiekend rollten die Kämpfenden im Mülleimer herum.
„Mama“, rief da eine junge Stimme fragend, „was ist denn das hier im Müll?“ Große blaue Augen blickten unter einer roten Wollmütze hervor, über den Rand der Tonne hinein auf die kämpfenden Katzen. Dann kam ein größeres Gesicht dazu. „Was ist denn … sind das Ratten … äh, das sind doch Katzen! Was machen die denn da drin?“
„Mama, darf ich die eine nehmen?“, fragte der Junge und griff zu. Leider erwischte er Mika, und diese zudem zu einem denkbar ungünstigem Zeitpunkt. Sie packte mit ihren Krallen zu und vor Schreck aufschreiend ließ er sie fallen. Nuka sprang ihr nach.
Völlig außer Atem fanden sich die beiden Katzen auf einer ruhigen Seitenstraße wieder. Der dicke Kater lief seiner Schwester hinterher, doch sie wandte sich nicht zu ihm um. Mittlerweile hatte auch ihm gedämmert, dass das mit den Pommes nicht sein glanzvollster Moment gewesen war, aber sie würde ihm schon verzeihen, da war er sich sicher.
„Mika, jetzt warte doch!“, rief er ihr nach, „Es tut mir leid!“ Sie schien ihn gar nicht zu hören. Mit ein paar kräftigen Sprüngen hoppelte er ihr nach, bis er an ihrer Seite ging. „Hey, es tut mir wirklich leid … ich hab’s verbockt.“
„Ja, du hast es wirklich verbockt!“, schrie sie ihn plötzlich an. „Lass mich einfach in Ruhe! Ohne dich wäre ich viel besser dran!“ Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen.
„Du kannst doch nicht einfach abhauen“, maunzte er geknickt, „wir dürfen uns nicht trennen!“
Zornig wirbelte Mika zu ihm herum: „Wie bitte?! Wir dürfen uns nicht trennen? JETZT sagst du das zu mir! Du hast alles ruiniert! Wir finden Diana nie wieder und bis morgen sind wir in dieser Kälte hier erfroren! Falls es dir nicht aufgefallen ist, hat es wieder zu schneien angefangen.“ Das stimmte. Dicke Flocken rieselten auf sie herab und erst jetzt bemerkte Nuka, wie kalt ihm eigentlich war.
Mika knurrte ihn noch einmal wütend an, dann spurtete sie davon. Resigniert trotte der kleine Kater hinterher. Vielleicht würde sie ihn allein zurück lassen? Nach alldem, was er ihr heute zugemutet hatte? Er bog um eine Ecke, und sie war verschwunden. „Mika“, maunzte er kläglich, „wo bist du hin? Es tut mir leid! Aber lass mich bitte nicht allein!“
Da hörte er eine Tür klappen. Er sah sich suchend um und bemerkte, dass er vor einem Gatter stand. Er schlüpfte hindurch und stellte fest, dass er sich auf einem verschneiten Friedhof direkt vor einer Kirche befand. Das Geräusch war aus der Richtung des großen Eingangsportals gekommen. Nuka zögerte nicht lange. Er musste seine ganze Kraft aufbringen, um durch die massive Eichentür zu schlüpfen. Schwer fiel sie hinter ihm ins Schloss.
In der Kirche war es angenehm warm. Auf Pfotenspitzen tappte Nuka durch die Reihen. „Mika“, wisperte er. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, flüstern zu müssen. Dann fand er sie, zusammengerollt auf einer Kirchenbank. Er sprang hinauf und wollte sich neben sie setzen, doch sie hob den Kopf und fauchte ihn erschöpft an. In einigem Abstand hockte er sich hin.
Schweigend saßen sie nebeneinander. Mika fielen immer wieder die Augen zu, aber dennoch öffnete sie die schmalen Schlitze beständig, um sicher zu gehen, dass Nuka nicht zu nah herankam. „Mika“, hob Nuka nach einiger Zeit an. „Ich wollte nur noch mal -“ Doch Mika unterbrach ihn. „Nuka – lass es einfach. Ich will nichts hören. Ich bin es leid. Immer entschuldigst du dich, immer tut es dir leid, aber in dem Moment, da denkst du nur an dich. Du hast alles ruiniert. Und ich kann einfach nicht mehr. Verschwinde – und lass mich ein für alle Mal in Ruhe.“ Damit drehte sie sich von ihm weg. Nuka wusste, dass sie es ernst meinte. Das war kein lustiges Verfolgungsjagd-Spiel mehr, aus dem man sich herauswurschteln konnte.
Am anderen Ende der Bank rollte er sich ein und leise liefen ihm einige Tränen über die dicken Bäckchen. Er wusste nun wirklich keinen Ausweg mehr. Und Mika, soviel stand fest, würde ihm kein weiteres Mal verzeihen. Er fühlte sich so schrecklich allein. Noch einige Zeit lag er wach, dann dämmerte er ein.
Etwas später, er musste schon einige Stunden geschlafen haben, weckte ihn ein helles Licht. Es blendete nicht, es war eher eine sanfte Dämmerung, die über die Reihen der Kirchenbänke hereinbrach. Das Licht wurde immer heller. Nuka hob den Kopf und streckte ihn um die Ecke, heraus auf den Gang.
Der kleine Kater konnte seinen Augen nicht trauen. Da vor ihm, im weißen Kleid, stand ein Engel.
23. Dezember
Langsam, mit gesetztem Schritt, kam der Engel auf ihn zugeschritten. Das Licht, das von ihm ausging, strahlte immer stärker, bis Nuka eine Pfote über das Gesichtchen legte, da es ihm in den Augen schmerzte. Blinzelnd lugte er durch den schmalen Spalt zwischen seiner Tatze und Wange. Das fremdartige Wesen stand nun direkt vor ihm. Dann hob es an, mit einer sanften, tönenden Stimme zu sprechen, die klang, wie als würden tausend winzige Silberglöckchen schellen. „Fürchte dich nicht! Siehe, ich verkündige dir die Mitte der Nacht! Will heißen – es ist Mitternacht.“
Nuka war perplex. Im Laufe dieses Abenteuers hatte er ja schon einiges erlebt, aber so etwas – nein, niemals hätte er sich überhaupt vorstellen können, auf einen Engel zu treffen. „Aber – … wieso -“, hob er an, doch der Engel bedeutete ihm mit einer sachten Bewegung seiner Hand, ruhig zu sein. „Wieso, fragst du? Die Antwort ist sehr einfach. Es ist Mitternacht. Die Turmuhr schellt zur Zeit nicht, tut nicht ihre Pflicht. Jemand muss dafür sorgen, dass jeder Bescheid weiß, wie spät es ist, damit niemand die Zeit vergisst.“ „Okay … vielen Dank dafür, schätze ich…?“, antwortete der kleine Kater, beinahe mit einem fragenden Unterton, „Aber wer sind Sie? Woher wussten Sie, dass wir hier sind?“
Der Engel ließ sich neben ihm auf der Kirchenbank nieder. „Also, du bist mir ja einer. Ich bin ein Engel, gewissermaßen der wichtigste Engel, aber Namen tun hier nichts zur Sache, nicht, dass ich dich noch verlegen mache. Eigentlich überbringe ich Nachrichten von anderem Format, aber die vergangene Woche war hier die Hö- ups, jetzt hätte ich mich beinahe verplappert – da war hier Stress, das kann ich dir sagen, da brauchst du mich gar nicht erst zu fragen. Deshalb bin ich beordert worden, hier die Zeitansage zu übernehmen.“ Er hob belehrend einen dünnen, weißen Zeigefinger. „Auch als Engel darf man sich nie zu fein für etwas sein!“ „Kannst du … kannst du fliegen?“, traute sich Nuka neugierig zu fragen. Woher er Mut aufbrachte, diesen gleißenden Fremden anzusprechen, dass konnte er nicht mit Gewissheit sagen. „Ja, ich kann fliegen. Aber versuche mich nicht, du kleiner Wicht.“ Er blickte kurz nachdenklich nach oben. „Ich habe es heute aber auch mit den Reimen, ja, das möchte ich meinen. Hm … das geht aber besser.“
Er brach ab und saß für eine Weile schweigend neben dem Kater, tief in Gedanken versunken. Dann wandte er sich mit einem Mal an Nuka. „Kennst du Rilke?“ „Wen?“, gab Nuka zutiefst überrascht. „Ach, schon wieder so ein Kunstbanause“, seufzte der Engel zu sich selbst, „jetzt pass mal auf, Bürschchen. Das ist wahre Magie, nicht nur zwei Worte aneinander reihen. Harmonie in Reinform. Ein Engel von Gedicht. Und es geht sogar um Engel, ist das nicht was?
Sie haben alle müde Münde und helle Seelen ohne Saum. Und eine Sehnsucht, wie nach Sünde, geht ihnen manchmal durch den Traum. Fast gleichen sie einander alle; in Gottes Gärten schweigen sie, wie viele, viele Intervalle in seiner Macht und Melodie. Nur wenn sie ihre Flügel breiten, sind sie die Wecker eines Winds: als ginge Gott mit seinen weiten Bildhauerhänden durch die Seiten im dunklen Buch des Anbeginns.
Na, wie findest du das?“
Nuka nickte anerkennend. „Ich habe aber tatsächlich noch eine Nachricht an dich, die ist fürchterlich wichtig, reichlich notwendig, sicherlich offensichtlich, ausschließlich nützlich und freilich unentbehrlich!“ Mit einem kleinen Aufglimmen von Stolz im Auge sah er Nuka an.
„Gut, oder?“ „Ja“, antwortete Nuka, obwohl er immer noch äußerst verwirrt war, „aber was ist denn nun deine Nachricht an mich?“ „Ich habe euch eine Weile beobachtet und dabei der Vorurteile ungeachtet euer Verhalten studiert. Du bist mir ein ganz schöner Schlingel, so kommst du nie in den Himmel, vertragen würd‘ ich mich nicht mit dir, du überaus gieriges Tier! Und – wie war das so? Besser?“
„Es holpert ein bisschen hier und da“, wandte Nuka zögerlich ein, dem dämmerte, worauf der Engel hinauswollte, nachdem dieser die letzten Sätze mit betonter Rhythmik und Pathos gesprochen hatte. „Papperlapp!“, schnarrte der andere, „hier holpert gar nichts, außer deine Beziehung zu deiner Schwester, mein Bester. Ich bin hier um dir zu sagen, da brauchst du mich nicht lang fragen – ach nee, das hatte ich schon – kein Zuschauer kann es ertragen, was du wie ein Wilder vollziehst.“
„Ich habe versucht, mich zu entschuldigen!“, maunzte Nuka kläglich, getroffen durch die Worte des Engels, „Aber sie nimmt meine Entschuldigungen nicht an.“
„Die Worte allein zu sprechen, mein Bester, überzeugt nicht die zornige Schwester. Sei stetig und klug und mein‘ es dazu, und schon hat die liebe Seele Ruh‘! Dann und nur dann, wenn zusammen ihr steht, werdet ihr seh’n, wo der Weg nach Hause geht.“
„Aber wir sind nun schon so lange auf der Suche“, sagte Nuka, „wir wissen nicht mehr, wo unser Zuhause ist.“
„Dann und nur dann, wenn’r zusamm‘ steht, werdet’a seh’n, wo da Weech nach Hause jeht!“ Vor Nukas baffem Gesicht verwandelte sich der Engel mit einem Mal in Nante, die Ratte. Er flatterte mit seinen winzigen Engelsflügeln penetrant in der Luft herum und rief Dinge wie „Fürchte dir nich‘, fürchte dir nich‘, denn dir is‘ heute ’ne Currywurst mit Fritten zuteil jeworden!“ und „Jut, jut, jut machste ditte, meen Kleener!“ Dann wurde er auf einmal klein, rundlich, stand auf vier Klauen, trug eine blonde Lockenperücke und sprengte beinahe sein weißes Kleid, denn er war zu Hödur geworden. „Hey Junge, was soll denn das? In dem Kleid krieg‘ ich ja keine Luft mehr und unter diesem Wischmopp sehe ich nix! Ich krieg‘ keine Luft!“ „Einatmen!“, schrie Nuka und holte selbst instinktiv Luft. Das Kleid straffte sich noch stärker und mit einem Mal platzte es, die Knöpfe flogen ab wie Geschosse, Nuka duckte sich hastig und Hödur lachte dröhnend, dass die ganze Kirchenbank wackelte. Und da stand auf einmal Diana, die den kleinen Kater milde lächelnd betrachtete. „Du brauchst dir keenen Kopp machen, mei Gutster“, sagte sie, „was absteicht, das steicht ooch wieder uff.“ „Jeduld, Jüte und jede Menge Fudda!“, kreischte da Nantes Stimme. „Ich seh nichts, ich seh nichts“, stimmte Hödur mit ein und die Stimmen vermengten sich zu einem ohrenbetäubenden Getöse.
„Ich seh nichts, ich seh nichts“, murmelte Nuka und warf sich auf seinem Platz hin und her. „Hey!“ Mika war über ihm und rüttelte ihn. „Was schreist du denn hier so rum?“
Nuka öffnete die Augen. Dünnes Morgenlicht brach sich durch bunte Glasscheiben und warf faden Schein auf die Kirchenbänke. Im Lichtkegel tanzten die Staubfussel einen betörenden Reigen. Nuka gähnte. „Ich habe etwas Merkwürdiges geträumt“, brummelte er. „Ich auch“, gab Mika zurück. „Komm“, sagte sie dann, „ich denke, wir sollten aufbrechen. Ich glaube, ich habe draußen Stimmen gehört.“ Während sie durch die Reihen zum Ausgang schlichen, wunderte sich Nuka, dass sie wieder mit ihm sprach, war sie doch am Vorabend so unversöhnlich gewesen. „Ist wieder alles okay zwischen uns?“, fragte er zögerlich. „Schätze schon“, gab sie mit unbestimmbarem Ton zurück. Er sah sie von der Seite an, sie schien in Gedanken versunken zu sein. „Ein Schwein … in einem Kleid“, murmelte sie, „hat man so einen Quatsch schon mal gesehen?“
Sie traten durch das offene Gatter hinaus auf die Straße. Menschen spazierten von beiden Seiten auf die Kirche zu, deshalb drückten sie sich unbemerkt am Zaun entlang, bis sie außer Sichtweite waren. An einer Straßenkreuzung hockten sie sich hin, um zu beratschlagen.
„Wie geht es nun weiter?“, fragte Nuka an seine Schwester gewandt. „Ich weiß es nicht“, gab die zurück, „aber die Hauptsache ist, dass wir uns beide haben. Solange wir zusammen sind, wird schon alles gut.“ „Das glaube ich auch“, erwiderte Nuka und schmiegte sich zärtlich an sie.
Mit einem Mal hielt ein Auto mit quietschenden Reifen neben ihnen. Erschrocken blickten die beiden Katzen nach oben, denn die Tür der Beifahrerseite wurde aufgestoßen. Am Steuer saß Lottas Schwester Emma und grinste.
„Na ihr zwei“, sagte sie, „braucht ihr vielleicht ’ne Mitfahrgelegenheit?“
24. Dezember
In Emmas Auto war es kuschelig warm. Die beiden Katzen hatten nicht lang gezögert und waren sofort auf den Beifahrersitz gesprungen, wo sie sich dicht nebeneinander zusammenrollten. Sie konnten ihr Glück kaum fassen. Am liebsten hätten sie Emma gefragt, wie sie sie gefunden hatte, aber leider verstanden die Menschen ihr Miauen ja nicht.
Glücklicherweise begann Emma bald von selbst zu schnattern. „Ich wusste doch, dass ihr hier irgendwo rumgeistert. Seit heute Morgen fahre ich Schleifen durch’s Dorf. Ich habe euch im Fernsehen gesehen, richtig gute Aktion übrigens, einen ganzen Chorauftritt zu ruinieren.“ Sie lachte und die Katzen blickten halb grinsend, halb beschämt zu Boden. „Naja, aber andererseits hätte ich euch sonst vielleicht nie gefunden. Das wird eine Überraschung, wenn wir in Leipzig ankommen. Lotta und Georg müssten schon da sein, sie sind heute morgen losgefahren. Die sind vielleicht am Heulen, kann ich euch sagen, ein Geflenne, das hält ja keiner aus. An eurer Stelle würde ich mir’s überlegen, ob ich bei solchen Heulsusen nochmal einziehe!“ Ihr glockenhelles Lachen tönte durch das Auto. „Ach kommt schon, macht nicht solche Gesichter, ich habe mir ja auch Sorgen gemacht. Wo habt ihr euch nur überall rumgetrieben?“
Nuka hielt es nicht mehr aus. „Wir waren überall!“, krähte er von seinem Sitz. „Wir haben gegen Kobras und Eulen und Wölfe gekämpft, haben unter der Erde und in Höhlen gelebt und auch viele Freunde gefunden!“ „Ja, ja“, lachte Emma, „ist schon gut, schrei hier nicht so rum – du
hast doch nur schon wieder Hunger. Aber ich hab‘ da was für euch.“ Und sie holte aus dem Handschuhfach eine Tube mit Malzpaste heraus. Die Katzen waren im siebten Himmel. Die nächste halbe Stunde der Fahrt verstrich in Stille, einzig andächtiges Schmatzen war von der Beifahrerseite zu vernehmen.
Die Landschaft draußen war schneebedeckt, die Fenster beschlagen von der warmen Luft und Emma schaltete das Radio an. Knisternd tönte Chris Rea aus den Lautsprechern: „Oh, I can’t wait to see those faces, I’m driving home for Christmas …“ Emma summte leise mit, während sie den Wagen mit der linken Hand steuerte und mit der rechten die Katzen zärtlich hinter den Öhrchen kraulte. Nach und nach dämmerten die beiden in friedlichen Schlummer, sie schnurrten und schnarchten und die Landschaft sauste vor den Scheiben vorbei. Irgendwann nahm Emma ihre Hand von dem warmen Katzenfell und legte sie ans Steuer. Es war immer schwieriger geworden, den Wagen über die teilweise vereisten Straßen zu lenken und ein paar Mal hatte sie bereits unter sich gespürt, wie die Räder durchgedreht waren. Links und rechts von der Straße kroch der Wald auf die aufgetürmten Schneewehen und da es bereits dämmerte, schaltete Emma die Scheinwerfer ein. Sie wusste, bei dieser Tageszeit war das Wild besonders aktiv, und das fehlte gerade noch, dass ein Hase oder ein Wildschwein ihr vor das Auto lief.
Zuhause wirbelte Lottas Mutter herum wie ein wild gewordener Kreisel, um bis zum Fest noch alles fertig zu bekommen, während Georg und Lotta mehr schlecht als recht den Baum schmückten. Zu sehr waren sie in Gedanken woanders, und fragten sich, wo ihre Katzen gerade wohl stecken mochten. „Wo bleibt denn Emma?“, fragte Lotta ihre Mutter, als sie die Küche betrat, wo diese gerade mit einer Hand eine große Schüssel Kartoffelsalat umrührte, während sie mit der anderen den Ofen öffnete, um nach den Plätzchen zu sehen. „Weiß ich nicht“, gab sie zurück, „aber wenn sie nicht bald auftaucht und mit anpackt, kann sie was erleben.“
Doch Emma ließ sich nicht blicken. Nun kamen schon die ersten Gäste an, Großeltern, Tante, Onkel, die wie jedes Jahr für das Fest zusammenkamen. „Dann müssen wir eben ohne sie anfangen“, sagte Lottas Vater, als sie sich alle an den Tisch setzten und zuckte mit den Schultern. Doch die Mutter schaute besorgt nach draußen. „Es soll heute noch einmal schneien“, sagte sie. „Das wird aber auch höchste Zeit“, gab Georg gedankenverloren zurück, „was ist auch ein Weihnachten ohne frischen Schnee?“ Lotta bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. „Sie geht auch nicht ans Telefon“, warf sie schnell ein, „ich habe es mehrmals probiert. Weiß jemand, wo sie hinwollte?“ Doch keiner hatte eine Antwort.
Eine Stunde warteten sie noch, dann trugen sie das Essen auf. Die Laune war gedrückt, niemand kam etwas Fröhliches in den Sinn und Weihnachtsstimmung wollte sich so gar nicht einstellen. Emmas leerer Platz an der Tafel bereitete allen große Sorgen. Was war, wenn sie in einer Schneewehe rutschte? Oder von Blitzeis überrascht wurde? Oder ein Reh aus dem Wald gesprungen war?
Da plötzlich hörten sie, wie ein Wagen in die Einfahrt bog. Alle sprangen auf und liefen nach draußen. Tatsächlich, es war Emma! Sie stieg aus und sah Lotta und Georg, die nur in Hausschuhen auf dem Gartenweg standen, mit einem Lächeln an. „Kommt mal her“, sagte sie dann, „für euch ist ausnahmsweise jetzt schon Bescherung.“
Die beiden konnten ihren Augen nicht trauen. Auf dem Beifahrersitz saßen Nuka und Mika, unversehrt und offenbar gerade aus einem langen Schläfchen erwacht, wie als wären sie keinen Tag fort gewesen! Sie umarmten erst Emma, dann hoben sie die Katzen hoch, pressten sie an sich und drückten ihre Gesichter in das weiche Fell. Auch Nuka und Mika waren heilfroh, endlich zu Hause zu sein und ließen sich den überschwänglichen Empfang gern gefallen. Dann wurden sie ins Haus getragen, und endlich war der Heilige Abend gekommen.
Der Weihnachtsbaum strahlte im Lichterglanz, rote Kugeln, Strohsterne und kleine Holzfigürchen schmückten ihn. Ein Räucherhäuschen mit Tannenduft dampfte vor sich hin. Auf der langen Tafel standen große Schüsseln mit Kartoffelsalat und Wiener Würstchen. Die ganze Familie saß zusammen, lachte, schwatzte und ließ sich das hervorragende Essen schmecken. Zum Nachtisch brachte Lottas Mutter große Platten mit Weihnachtsplätzchen herein, und alle konnten sich an den verlockend duftenden Zimtsternen, Vanillekipferln, Zedernbroten und zahlreichen anderen Gebäcken satt essen.
Nur die Augen von Lotta und Georg ruhten nicht auf dem Tisch und seinen Köstlichkeiten. Sie blickten hinüber zum Weihnachtsbaum, unter dem, zwischen all den anderen Geschenken, zwei kleine Katzen lagen, eng zusammengekuschelt, in tiefe Träume versunken.
Und vor den Fenstern begann es zu schneien.
Epilog
Die Prinzessin blickte auf und legte das letzte Blatt beiseite. Nicht schlecht, dachte sie. Hier und da könnte noch das eine oder andere geändert werden, aber so im Großen und Ganzen …
Da hörte sie ein Klirren aus der Küche. Sie ließ ihre Füße in die samtenen Pantoffeln gleiten und eilte dorthin. Auf dem marmornen Fußboden hockte ein korpulenter Tiger und machte sich über den Inhalt einer ausgeschütteten Plätzchendose her.
„Also sowas“, rief sie zornig und warf ein seidenes Handtuch nach dem Übeltäter, „verschwinde sofort!“ Sie trieb ihren Tiger hinaus und ließ sich erschöpft auf einem kleinen Hocker nieder. Vielleicht sollte sie sich erstmal einen Tee machen? Das beruhigte die Nerven nach dieser langen Schreiberei. Viel Arbeit war sie ja nun nicht gewohnt.
Da störte erneut ein verdächtiges Geräusch ihre Gedanken. Fliegend erreichte sie das Arbeitszimmer, da hockte eben jener verfressner Tiger auf dem Schreibtisch und zerriss auf widerwärtige Weise ihr Manuskript! Das durfte doch nicht wahr sein!
Doch es war zu spät. Ihre Geschichte war für immer verloren. Völlig fassungslos sank die Prinzessin auf die Knie und schlug die Hände vor’s Gesicht. Diese elenden Tiere! Hätte sie sie nur nie in ihr Haus geholt! Alles wurde durch sie zerstört, die chinesischen Seidentapeten zerkratzt, das indische Chintzsofa „neu texturiert“, in den Koikarpfenteich gepinkelt! Und jetzt das! Was sollte sie nur tun?
Als sie nun am 1. Dezember vor ihr Verwandten trat, kam sie mit leeren Händen. Sie bat um Verzeihung, fiel auf den Boden vor sie hin, weinte und flehte: doch ihre Familie wandte sich ab. Welche Schande, was sie ihnen zumutete, noch nie in der Geschichte der Ahnenreihe hatte jemals jemand usw. usw. „Aber ich hatte etwas“, rief die Prinzessin verzweifelt über den Lärm hinweg, „es war rechtzeitig fertig und die Tiger haben es zerstört!“
Da kamen mit einem Mal eben jene bengalischen Tiger um die Ecke geschlendert und rollten sich schnurrend vor den Füßen der verstimmten Verwandtschaft. „Was, diese drolligen Tierchen?“, erwiderte die Königin, „das kann ich ja gar nicht glauben. Ich denke vielmehr, du willst deinen Kopf aus der Schlinge ziehen.“
„Nein, das will ich nicht!“, schrie die Prinzessin nun sehr enerviert, „aber ihr tut mir Unrecht!“
„Was soll dieser Aufstand, beherrsche dich!“, gab ihre Mutter zurück, „Wir lassen Gnade walten. Du hast bis nächstes Jahr Zeit, dich auf einen ordentlichen Adventskalender zu besinnen, der den hohen Ansprüchen unserer Familie genügen wird. Und dann wird ihn jeder, und wirklich jeder aus unserer noch so weit verzweigten Verwandtschaft erhalten, um mit gestrengem Auge darüber zu urteilen.“
Die Prinzessin ließ den Kopf sinken. „Ich … hatte … etwas“, murmelte sie. Doch niemand achtete mehr auf sie. Man war bereits dazu übergegangen, die bengalischen Tiger zu streicheln, die sich mit zufriedenem Grinsen auf dem Rücken wälzten und sich von den jüngeren Verwandten mit Wachteleiern füttern ließen.
Die Prinzessin hatte jede Lust an den Feierlichkeiten verloren. Außerdem hatte sie einen Auftrag. Also stieg sie in eine Kutsche, die sie direkt zurück in ihr Schloss trug, und setzte sich dort an den Schreibtisch.
Und wenn sie ihre bengalischen Tiger bislang nicht davon abgehalten haben, sitzt sie dort immer noch und schreibt, und schreibt, und schreibt …