„Eva!“ Die Erleichterung im Gesicht ihrer Freunde tat ihr gut, obwohl die Luftpiratin sie ziemlich unsanft aus ihrem Versteck zerrte. Sie hielt ihr ein Entermesser an die Kehle und knurrte: „Ich habe keine Geduld mehr für euer Geschwätz.“ „In der Tat, das sollte das Ganze beschleunigen“, gab Leander zurück und riss Finn das Orbis aus der Hand. „Nun denn, werdet Zeugen, wie ich die Welt verändere!“
„Leander, halt!“, rief Eva, während die Schwarze Mara sie mit festem Griff fixierte. „Du weißt nicht, was du da tust!“ Leander schmunzelte selbstgefällig und hob das Orbis Arcanum, das in seiner Hand schimmerte, vor die Augen. „Oh, aber das weiß ich sehr wohl, meine Liebe. Ich werde der erste Herrscher der Wolkeninseln sein, der das Herz unterwirft, anstatt ihm zu dienen.“ „Unterwirft?“, rief Nora. „Du wirst es sprengen, wenn du es manipulierst! Die Magnetosphäre wird kollabieren und alle Inseln werden abstürzen!“ „Was für ein Quatsch“, konterte Leander. „Das Gerät wird den Kern nicht zerstören – es wird ihn bändigen und auf mich ausrichten. Ihr werdet sehen!“
Ohne Vorwarnung stürzte sich Finn plötzlich nach vorn und rammte dem Adligen mit einem wuchtigen Schlag gegen den Oberkörper. Leander taumelte und das Orbis fiel ihm aus der Hand. Es schlitterte über den Boden und blieb direkt am Rand des Kraters liegen. Ein Moment der Stille folgte, in dem sich alle Augen auf das schimmernde Artefakt richteten. „Du Narr!“, zischte Leander. Er sprang in Richtung des Orbis und hob es auf. „Nun denn, dann verändern wir die Welt eben ohne Vorrede!“, schrie er, holte aus und schleuderte das Gerät in den Krater.
Es war, als ob die Welt für einen Moment stillstand. Das Herz des Himmels pulsierte mächtig, sein Summen erfüllte die Luft. Als das Orbis seine Oberfläche berührte, brach ein greller Blitz aus dem Kern hervor, der alle Anwesenden zurücktaumeln ließ. Das Herz des Himmels begann unregelmäßig zu flackern, als würde es mit der neuen Energie kämpfen. Die pulsierenden Farben wechselten abrupt von leuchtendem Gold zu einem schmerzhaft grellen Weiß, dann zu einem unheilvollen Dunkelrot. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen erfüllte den Krater. Leander lachte triumphierend, doch sein Grinsen wich schnell einem Ausdruck von Verwirrung. Das Orbis Arcanum hatte sich nicht wie erwartet mit dem Herz synchronisiert. Stattdessen spie der Kern nun unkontrollierte Energie aus – blaue Blitze zuckten durch den Kessel und hinterließen tiefe Spuren im Gestein. „Nein!“, schrie Leander. „Das sollte nicht passieren!“ Ein Impuls traf ihn und schleuderte ihn zu Boden, während Mara plötzlich wie von einer unsichtbaren Macht nach vorn in Richtung des Kraters gerissen wurde. Erschrocken beobachtete Eva, wie ihre metallene Prothese von der schlagartig entfesselten magnetischen Kraft des Herzens angezogen wurde. Nur in letzter Sekunde packte sie einer ihrer Matrosen am Bein und verhinderte das Schlimmste, jedoch brauchte es mehrere starke Männer, um sie davor zu bewahren, weiter angezogen zu werden. Die anderen Piraten waren bereits längst von ihrer Seite gewichen und hatten sich hinter den Felsen in Sicherheit gebracht.
Eva, Nora und Finn fanden sich hinter dem gleichen Gesteinsbrocken wieder. „Dieser Idiot!“, brüllte Finn gegen den Sturm an. „Was hat er getan?“ „Ich schätze, er hat das Herz destabilisiert“, schrie Eva zurück. „Wir müssen das irgendwie rückgängig machen!“ Der Kern begann, schneller zu rotieren, und das Dröhnen wurde lauter. „Oh nein, was passiert denn jetzt?“, rief Nora. „Wir haben keine Zeit mehr!“
Dann fiel Evas Blick auf ihre Hände und eine Erinnerung schoss durch ihren Kopf. „Ihr seid vermutlich nicht in einem Sturmboot hergekommen?“, hatte Tharion Falstaff, der dicke Kastellan von Sturmwacht, gesagt. „Wenn die Oberfläche eures Schiffes frei liegt und die Elektrizität nicht abschirmt, könntet ihr nach der Überfahrt noch tagelang eine Batterie mit euren bloßen Händen laden.“ „Ein Stück des Sturms bleibt bei dir“, flüsterte Eva. Finn und Nora blickten sie an. „Was ist los?“, fragte Nora und bemühte sich, das Getöse zu übertönen. „Das Herz braucht einen starken Energieimpuls“, rief Eva. „Die Sturmzonen, ihr erinnert euch? Ich trage noch ihre Energie in mir. Wenn ich in den Krater springe…“ Doch weiter kam sie nicht. Nora hatte ihr einen Klaps auf den Hinterkopf verpasst. „Los, gib mir deine Socke!“
„Was?“ Eva schaute sie entgeistert an. „Wenn wir etwas brauchen, was in den Sturmzonen war, kann das genauso gut deine Socke sein, Dummkopf!“ Sie zog den zweiten Strumpf, den sie nie am Fuß trug, aus der Jackentasche. Nora riss ihn ihr aus der Hand, sprang auf und kämpfte sich gegen den Sturm, der vom Kern ausging, näher heran. Eva sah, wie sie weit ausholte und den Wollstrumpf mit Schwung in den Kessel warf. Dann hechtete sie mit einem verzweifelten Sprung zurück in Deckung.
Das Herz reagierte sofort. Ein riesiger, gleißend heller Blitz durchzuckte den Raum und das donnernden Dröhnen nahm noch zu. Die Energie der Sturmzonen verband sich mit der des Kerns und ein neues Schutzfeld entstand in einer Explosion aus Licht und Farben. Eva und Finn duckten sich, nur um im nächsten Moment Leander zu sehen, geblendet und außer sich vor Wut, der sich aufgerappelt hatte. „Das war nicht der Plan!“, schrie er. „Das Herz, ich muss …“ Er taumelte zum Rand des Kraters, doch ein weiterer mächtiger Blitz brachte ihn aus dem Gleichgewicht und er stürzte hinein.
„Los, bewegt euch!“, schrie Eva. Um sie herum tobte das Chaos: Piraten flohen in alle Richtungen, Funkenregen prasselte vom Himmel und eine wogende Energiewelle ließ die Wände bedrohlich vibrieren. Der Boden unter ihren Füßen bebte, als hätte der Vulkan beschlossen, in dieser Sekunde wieder aktiv zu werden. Das Piratenschiff der Schwarzen Mara schwankte leicht, aber seine schiefen Segel ragten wie ein letzter Hoffnungsschimmer aus dem wabernden Dunst hervor.
„Rauf aufs Schiff, schnell!“ Evas Stimme schnitt durch das aufgeladene Summen in der Luft. Finn und Nora zögerten keine Sekunde. Sie stolperten los, rangen um Halt auf dem unebenen Gestein, während die Strahlung des Kerns zunehmend intensiver wurde. Blitze aus reiner Energie zuckten durch die Luft und nahmen ihnen immer wieder kurzzeitig die Sicht. Finn griff nach einem der herabgelassenen Taue und zog sich mit letzter Kraft hinauf, während Nora ihm mit fliegenden Haaren folgte. „Los, Eva!“ rief sie, kaum dass ihre Freundin an Deck gerollt war. „Bring uns hier raus, bevor wir geröstet werden!“
Gerade als sie Flughöhe erreicht hatten, geschah es: Das Herz des Himmels entlud sich in einer glühenden Explosion aus goldenem Licht. Die neu aktivierte Barriere durchzog die Luft wie ein halbtransparenter Schleier, der sich langsam festigte und sie sahen, wie unter ihnen wieder die thermischen Stürme tobten, die sie bereits beim Landeanflug auf die Insel gesehen hatten. Nun, außer Reichweite, hielten sie einen Moment inne und starrten zurück auf den Kern, der in einem neuen, stabilen Rhythmus zu pulsieren begann. Die Barriere hatte sich geschlossen – und das Herz des Himmels war nun wieder geschützt. „Das war ganz große Klasse, Nora!“, rief Eva und ihre Freundin strahlte. „Eine Selbstopferung pro Tag reicht doch“, kicherte sie. „Genau“, stimmte Finn zu und stieß Nora an. „Ihr müsst springen, jetzt!“, äffte er Eva nach und die Erfinderin kicherte: „Ich muss mich opfern, denn ich bin Eva Mathilda Ohnestrumpf, die Auserwählte!“ „Haltet ja die Klappe“, lachte Eva und drückte ihre Freunde an sich.
Draußen fiel der Schnee in dichten, glitzernden Flocken, die sich wie ein weicher Mantel über die Dächer von Nimbusheim legten. Die Stadt, sonst belebt und voller Stimmen, war an diesem Weihnachtsabend stiller als sonst – nur das Knirschen von Schritten und hier und da der gedämpfte Gesang von Weihnachtsliedern hallten über die verschneiten Straßen.
In Graubarts Küche flackerte ein behagliches Feuer im Kamin, während der alte Kapitän einen Kanne mit Windtee aufgoss. „Das ist der letzte Rest aus meiner besten Charge“, brummte er zufrieden und goss die dampfende Flüssigkeit in die Tassen auf dem Tisch. Eva stand am Fenster und sah hinaus in die kalte, klare Nacht. Die Sterne schienen heller als sonst und ein Gefühl von Frieden durchflutete sie, das sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. „Es ist so schön, Weihnachten hier zu verbringen“, sagte sie – „auch wenn es mir auf unserem Abenteuer manches Mal so vorkam, als würden wir den Weg nach Hause gar nicht mehr finden.“ „Manchmal führt der Wind uns eben dorthin zurück, wo wir hingehören“, antwortete der alte Kapitän, während er seinen Tee wie gewohnt mit einem großzügigen Schuss Gewittermet verfeinerte.
Finn war der Erste, der eintrat. Sein wetterfester Mantel glänzte von den geschmolzenen Schneeflocken und seine Stiefel hinterließen kleine Pfützen auf den Dielen. Eine Wolke aus kalter Luft begleitete ihn in die warme Küche. „Der Antrieb von unserem Sturmsegler war eingefroren“, sagte er, während er sich die Hände rieb und seinen Mantel abstreifte. „Aber ich hab’s trotzdem grad noch pünktlich geschafft.“ „Oh ja – und das will was heißen“, neckte Eva, während sie ihm einen dampfenden Becher Tee in die Hand drückte. „Pünktlichkeit ist doch so gar nicht dein Stil.“ „Genau genommen bin ich jetzt meistens viel zu früh dran“, gab Finn mit einem schiefen Grinsen zurück. „Hat wohl damit zu tun, dass ich die Strömungen so gut lesen kann wie nie zuvor.“
„Ach, komm schon“, sagte Nora, die in diesem Moment hereintrat, ihre Wangen rot vor Kälte. Mit ihr wehte ein Hauch Schnee herein, der auf dem warmen Holzfußboden schmolz. Sie zog ihre Mütze ab, wodurch ihre Haare wie eine wilde, kastanienbraune Wolke zu Berge standen. „Nicht so bescheiden, Finn. Seit deinem Kontakt zum Herz bist du quasi ein wandelnder Kompass.“
„Und was hast du diesmal mitgebracht?“, fragte Graubart mit einem Zwinkern und deutete auf die kleine Kiste, die sie unter dem Arm trug. „Eine Überraschung für dich, alter Bastler“, sagte Nora geheimnisvoll und stellte die Kiste mit einem selbstbewussten Knall auf den Tisch. „Ich arbeite am Prototyp für die zweite Rex Ventorum – und das hier ist die Energiezelle für den neuen Antrieb. Tadaaa!“ Mit einer theatralischen Geste öffnete sie den Deckel und ein sanftes, blaues Leuchten erfüllte den Raum. Die Kiste summte leicht und das Leuchten warf tanzende Schatten an die Wände. „Er basiert auf der Magnetosphäre. Wenn das funktioniert, wird das Luftschiff sauberer, schneller und effizienter fliegen als je zuvor.“ „Das muss ich mir unbedingt einmal ansehen“, brummte Graubart, schob sich die Brille auf die Nase und angelte nach der Kiste, um sie genauer in Augenschein zu nehmen. „Eine zweite Rex?“, fragte Eva und ihre Augen weiteten sich vor Staunen. „Natürlich“, sagte Nora stolz. „Die erste war ein Meisterwerk, aber die zweite wird eine Legende. Und ja – natürlich darfst du sie einfliegen. Auch wenn du Rex I ermordet hast.“
„Also“, begann Finn schließlich, nachdem sie alle Platz genommen hatten und die wohlige Wärme des Feuers ihre Gesichter rötete, „wie fühlt es sich an, das Herz des Himmels zu bewachen, Eva – oder muss ich dich jetzt mit ‚Großmeisterin‘ ansprechen?“ Er machte eine übertriebene Verbeugung, die Eva zum Lachen brachte. „Momentan bin ich eher Ausbilderin für unsere ganzen Neuzugänge“, erklärte sie. „Das Conclave braucht dringend frisches Blut – und ich sorge dafür, dass sie nicht nur Mut, sondern auch Verstand mitbringen.“ „Und gibt es was Neues von deinen Eltern?“, fragte Nora und schob sich dabei ungeniert drei Plätzchen auf einmal in den Mund.
Eva setzte ihre Tasse ab und lehnte sich ein wenig zurück. Ihre Augen glänzten im Schein des Feuers. „Wir haben vor zwei Monaten im Hauptquartier des Ordens einen defekten Flugschreiber gefunden, der meiner Mutter gehörte. Airis von der Windfeste ist gerade dabei, ihn wieder herzurichten, damit wir ihn auslesen können. Aber ich bin optimistisch, dass wir irgendetwas finden – und wenn nicht, suchen wir einfach weiter.“ „Klingt ganz nach dir“, sagte Nora, ihre Stimme sanft. „Immer nach vorne, immer eine Mission.“
„Darauf sollten wir anstoßen“, sagte Finn mit einem seltenen, aber ehrlichen Lächeln. Eva nickte und erhob ihre Tasse. „Auf uns. Auf die Rex. Und auf alle Abenteuer, die noch vor uns liegen.“
Lieber Leser, wenn du es bis hierher geschafft hast, so gebührt dir mein aufrichtiger Dank. Geduld ist in unseren Tagen ja nicht mehr selbstverständlich und doch hast du die Höhen und Tiefen dieser Geschichte tapfer durchlebt. Ich hoffe, sie hat dir nicht nur spannende Stunden beschert, sondern vielleicht sogar etwas mit auf den Weg gegeben.
Von Eva kannst du dir Tapferkeit und Beharrlichkeit abschauen, dich Herausforderungen zu stellen, auch wenn der Boden unter dir ins Wanken gerät. Von Nora kannst du Erfindergeist mitnehmen – die Fähigkeit, auch im größten Chaos eine Lösung zu finden. Und von Finn, nun ja, von Finn lernst du, was wahre Freundschaft bedeutet, wenn man nur den Mut hat, sich darauf einzulassen.
An dieser Stelle schulde ich dir übrigens noch eine kleine Erklärung: Vielleicht wunderst du dich, warum du nie zuvor von dieser Geschichte gehört hast. Warum kein anderer Autor davon berichtete oder Lieder darüber gesungen werden. Die Antwort liegt, wie so oft, im Verborgenen. Ich verdanke diese Erzählung einzig dem Navigator Finn – einem schweigsamen Zeitgenossen, wie du ja mittlerweile weißt, der mir aus einem unerklärlichen Grund sein Vertrauen geschenkt hat. Er erzählte mir von Eva, von Nora, von der Rex Ventorum und natürlich vom Herz des Himmels. Die Menschen der Wolkeninseln leben ihr Leben, fliegen durch Sturmböen, reparieren Segel und treiben Handel, ohne zu ahnen, dass sie nur dank einer einzigen Crew und einer opferbereiten Kapitänin überhaupt noch in den Wolken schweben. Das macht Finn zu einem Geschichtenerzähler und zu einem wahren Helden – denn wer das größte Abenteuer der Welt erlebt und es still bei sich trägt, der verdient den höchsten Respekt.
Zum Schluss bleibt mir nur noch ein Wunsch: Solltest du jemals die Gelegenheit haben, die Wolkeninseln zu besuchen, dann zögere nicht. Ob du die Tür zu einer windschiefen Kneipe wie dem „Fröhlichen Steuermann“ öffnest oder durch die Gassen von Nimbusheim schlenderst, ob du den tosenden Stürmen bei Sturmwacht lauschst oder durch die Schwebenden Gärten von Himmelsruh spazierst – die Schönheit dieser Welt wird dir den Atem rauben. Und wer weiß, vielleicht entdeckst du ja irgendwo ein Muster, das dich an Eva erinnert. Vielleicht auf einer Karte, einem alten Instrument oder auf etwas so Unspektakulärem wie einem Strumpf.
Bis dahin wünsche ich dir Rückenwind auf all deinen Reisen!