23. Dezember | Das Erbe des Ordens

Lieber Leser, lass mich dich für einen Moment zurück an jenen Augenblick führen, der dir vielleicht noch immer Rätsel aufgibt: die Explosion der Rex Ventorum. Vielleicht hast du dich gefragt, was genau mit Eva geschah, während Finn und Nora auf dem Plateau standen und versuchten, den Verlust ihres geliebten Luftschiffs zu verarbeiten.

Eva hatte die Augen fest geschlossen, als das Licht der Explosion alles um sie herum verschlang. Für einen Moment glaubte sie, dass nun alles enden würde, doch dann spürte sie eine gewaltige Kraft, die sie wie eine unsichtbare Hand ergriff und in die Luft zog. Es war ein fast schwebender Zustand, der sie trotz seiner Sanftheit ganz schwindelig machte. Sie öffnete die Augen, doch das Licht, das sie umgab, war so hell, dass sie sie schnell wieder schloss. „Nora? Finn?“, rief sie vorsichtig, doch ihre Worte verloren sich in dem intensiven Brummen, das sie umgab. Sie versuchte, sich zu bewegen, doch sie hing fest in der Luft, als wäre sie eine an Seile gefesselte Marionette.

Hallo, da bin ich noch einmal. Ich habe ganz vergessen, dir die Situation zu erklären, in der Eva sich gerade befand. Stell dir einmal vor, dich hat eine Sphäre aus reiner Energie ergriffen, erzeugt von einem Kern aus rotierendem Metall tief im Inneren eines Vulkans. Schwierig, oder? Sie hat Finn es einmal so beschrieben: Versuch dich in eine eingelegte Sardine hineinzuversetzen, die an einem Kettenkarussell befestigt ist, das gleichzeitig in einem Tornado herumgeschleudert wird – während dieser Tornado gleichzeitig in einem Mixer püriert wird. So ungefähr fühlte sich das an. Klingt absurd? War es auch.

Eva war wie in einen Traum versunken. Während ihr Körper sich anfühlte, als würde er von den Fliehkräften zerrissen werden, schien die Welt in ihr stillzustehen. Doch dann, wie ein Stein, der in einen stillen Teich fällt, begannen Bilder vor ihrem inneren Auge zu flackern – zunächst fragmentarisch, dann immer klarer, wie eine Abfolge von Fotografien, die sich wie ein Film zusammensetzten.

Sie sah Jahrtausende vergehen. Moos und Farne krochen wie ein zäher Schleier über den schwarzen Kraterrand, während dahinter Vulkane ausbrachen und Asche und Gestein in den Himmel schleuderten. Heftige Stürme wüteten über die Insel, rissen die wenigen Bäume aus, die darauf wuchsen, doch sie, tief im Krater verborgen, blieb unberührt. Die Insel erholte sich, die Natur kehrte zurück, nur um dann von Neuem von Lavaausbrüchen zerstört zu werden. Dann tauchten Menschen auf, ausgerüstet mit seltsamen Apparaturen und Waffen. Eva erkannte die Uniformen des Pilotenordens, sah sie in verzweifelten Luftkämpfen gegen Angreifer, die das Herz in ihre Gewalt bringen wollten. Da war ein Trupp maskierter Männer, die mit gewaltigen kupfernen Zangen versuchten, nach ihr zu greifen, nur um von einem koordinierten Angriff der Piloten zurückgeschlagen zu werden. Einer der Verteidiger – ein junger Mann mit Narben über der Stirn – flog in einem waghalsigen Manöver knapp über die Angreifer hinweg, um ihnen die Sicht zu nehmen, während seine Kameraden zuschlugen. Später sah sie eine Frau mit einem Umhang, der wie ein Sternenhimmel schimmerte, am Rand des Kraters stehen. Sie hielt eine Ansprache vor einer Gruppe junger Rekruten, die andächtig lauschten. „Das Herz ist unser Kompass, unsere Energiequelle, unser Lebensfunke. Es zu schützen, bedeutet, die Wolkeninseln zu bewahren.“ „Conclave Aeris Fidelium!“, riefen die Rekruten wie aus einem Mund.

Schließlich tauchte Kael in den Bildern auf, der jedes Mal ein wenig älter wurde, wenn sie ihn sah. Bei seinem letzten Auftauchen war er ernst und sichtlich von den Jahren gezeichnet. Eva hielt den Atem an, denn sie sah ihre Eltern, Aurelia und Cassian, neben ihn treten. Kael sprach mit fester Stimme zu ihnen: „Wir haben keine Wahl. Das Herz ist zu stark exponiert und unser Orden nur noch in Schatten seiner Selbst. Wir müssen versuchen, es so gut wir können abzuschirmen.“ Er reichte ihnen etwas und Eva erkannte, dass es ein Orbis Arcanum war, dessen Ringe sich träge ineinander drehten. „Fliegt in die Sturmzonen, ladet das Orbis mit der Energie auf und kehrt zurück,“ sagte Kael mit Nachdruck. „Was sollen wir dann damit tun?“, hörte Eva ihre Mutter fragen, ihre Stimme klang ruhig, doch in ihren Augen lag ein Anflug von Sorge. Der Großmeister zögerte, bevor er antwortete, als würde er abwägen, ob er die Wahrheit aussprechen sollte. Schließlich sagte er: „Wenn ihr es auf den Kern werft, wird es eine Verbindung herstellen. Die Energie der Sturmzonen und die Magnetosphäre werden sich gegenseitig stabilisieren – für einen Moment. Das erzeugt eine Art Schutzmantel, ein Feld, das den Kern isoliert und thermische Stürme auslöst, die diese Insel unpassierbar machen. Ich werde eine Karte hinterlassen, damit der Erbe unseres Ordens den Weg findet.“

„Für einen Moment?“, fragte ihr Vater mit gerunzelter Stirn. „Und danach?“ „Danach wird sich das Orbis auflösen“, erklärte Kael und seine Stimme wurde leiser. „Die entstehende Energieentladung wird für diejenigen, die sich in der Nähe befinden, nicht überlebbar sein. Ihr müsst danach so schnell es geht die Insel verlassen.“ Aurelia und Cassian warfen sich einen langen Blick zu, ein wortloses Einverständnis. „Das könnte also unser letzter Flug sein“, sagte Aurelia, ohne einen Hauch von Angst in ihrer Stimme. Das Bild blieb einen Moment stehen, eingefroren wie eine Fotografie. Eva fühlte, wie ihre Brust sich zusammenzog. Ihre Eltern hatten es geschafft, den Schutzschirm herzustellen – aber waren sie beim Versuch selbst umgekommen?

Das Licht begann intensiver zu pulsieren und Eva spürte, wie sich eine neue Kraft in ihr regte. Es war, als hätte sie plötzlich ein tieferes Verständnis für die Welt um sich herum – für die Luftströmungen, die Wege des Windes, sogar für den Rhythmus der Wolkeninseln selbst. Dann, mit einem letzten, intensiven Impuls, ließ das Herz sie los. Eva spürte, wie die Schwerkraft zurückkehrte, und sie stürzte aus der Sphäre in Richtung des Kraterbodens. Doch statt auf hartem Fels zu landen, wurde sie von einem Luftstrom abgefangen, der sie sanft auf einer schmalen Steinplatte absetzte.

Mit einem Schlag, wie wenn man von einem Karussell absteigt, drehte sich alles um sie und Eva plumpste auf den Hosenboden. Als das Kreiseln in ihrem Kopf endlich aufhörte, blickte sie sich um. Sie war am Rand des Kraters gelandet, den sie eben in den Erinnerungen gesehen hatte – und in seiner Mitte lag das Herz des Himmels, es konnte nichts anderes sein. Stimmen ließen sie aufschrecken. „Das Herz zu kontrollieren, bedeutet, die Macht zu haben, diese Welt zu erschaffen“, hörte sie Leander sagen. Leander? Was machte der Verrückte hier? Vorsichtig erhob sie sich und schlich um die großen Felsblöcke auf die Stimmen zu. „Nein, du bist ein Idiot, Leander!“ Das war Finn! Sie lugte um eine Ecke und fand sich im Rücken ihrer Freunde wieder, die von Leander und der Luftpiratin bedroht wurden. „Beleidige mich ruhig, soviel du willst“, sagte der Adlige gerade. „Wir werden ja sehen, was gleich passiert. Und jetzt genug geplaudert, gib mir dein Orbis, Navigator.“ „Das hättest du wohl gern“, fauchte Nora, „aber wir haben es nicht mehr. Es war auf unserem Schiff und das ist explodiert, wie du weißt.“

 „Traurige, verzweifelte Lügen. Warum sollte ein Navigator sein Navigationsinstrument zurücklassen? Gib es mir. Jetzt.“ „Das werde ich nicht“, sagte Finn und zog das Orbis aus der Tasche. „Eher werde ich es zerstören.“ In Evas Kopf rasten die Gedanken. Wie könnte sie hinter die Angreifer kommen, um sie zu überwältigen? Lautlos bückte sie sich und kroch zu einem niedrigen Felsen. Sie hörte Leander gespielt seufzen. „Ach, warum das denn? Schau es dir doch an, es ist ein Kunstwerk! Gib es mir und niemand hier wird verletzt.“ Eva warf einen vorsichtigen Blick auf die Szene. Der Adlige war nun zum Greifen nah. Wenn sie einen beherzten Sprung nach vorn machte, würde sie ihn überwältigen können. Aber Moment – wo war Mara? Die Piratin stand nicht mehr an seiner Seite.

Und bevor Eva einen Finger rühren konnte, wurde sie von einer kräftigen Hand am Kragen hochgezogen. Der Geruch von Sturmleder, Feuerbrise und altem Tabakrauch stieg ihr in die Nase und eine schneidende Stimme sagte dicht an ihrem Ohr: „Hab ich dich.“

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