22. Dezember | Das Herz des Himmels

Schweigend packten Nora und Finn ihre Fallschirme zusammen. Sie waren auf einem großen Fels gelandet, der wie eine Insel zwischen dem brodelnden Magma, den rauchenden Spalten und tiefen Abgründen lag. Der thermische Sturm, der ihr Schiff eben noch hin und hergeworfen hatte wie ein Blatt im Wind, hatte sich schlagartig gelegt. Mit der Explosion der Rex Ventorum war weitestgehend Ruhe eingekehrt – eine gespenstische Ruhe. Sie blickten sich um und nahmen erstmals wahr, wo sie da gelandet waren. Die Vulkaninsel bot eine Landschaft, die von der rohen, ungezügelten Gewalt der Natur geformt war. Überall ragten Vulkane in die Höhe, einige still und erloschen, ihre Kegel schwarz verkrustet, andere glühend aktiv, mit zischenden Dampfwolken und sprühenden Funken. Der Boden bestand fast vollständig aus erstarrtem Gestein, das in Schichten übereinanderlag und scharfkantige Risse bildete, in denen Lava heiß und glühend brodelte. Hier und da erhoben sich Felsplateaus und kleine Inseln aus massivem Stein, die wie einsame Festungen aus dem glühenden Meer ragten. Die Luft war schwer von Rauch und Schwefel, der in wirbelnden Schleiern aufstieg und die Sicht trübte.

Endlich traute sich Nora zu sprechen. „Was machen wir denn jetzt nur?“, fragte sie an Finn gewandt, die Stimme von Tränen und Furcht belegt. „Das, was Eva getan hätte: Wir machen weiter“, gab er zurück. Gerade als er den ersten Schritt tun wollte, hielt er inne. Sein Kopf zitterte und neigte sich leicht, wie eine Kompassnadel, die plötzlich die richtige Richtung gefunden hatte. „Warte…“ Nora blickte ihn fragend an. „Was ist los?“ „Strömungen… ich spüre sie.“ Finn hob die Hand, als ob er etwas Unsichtbares ertasten könnte. „Es ist, als würde sich die Luft selbst bewegen. Ich kann fühlen, wo sie hinfließt.“ „Du spürst Luftströmungen?“ Nora schüttelte ungläubig den Kopf. „Finn, ich will dir nicht zu nahetreten, aber ich glaube, du hast den Verstand verloren.“ Doch Finn ignorierte sie. Mit halbgeschlossenen Augen setzte er sich in Bewegung, balancierte über die metertiefen Spalten, jeder Schritt so sicher, als wäre er diesen Weg schon hunderte Male gegangen. Nora konnte kaum mithalten, doch sie folgte ihm, fasziniert und beunruhigt zugleich. Sie passierten einige Vulkankrater, kletterten über Felsbrocken und wichen den glühend heißen Lavaströmen aus. Als sie mehrere stufenartige Steinblöcke erklommen hatten, blieb Finn endlich stehen.

Sie standen am Rand eines erloschenen Vulkans, doch wo sie einen Kessel aus schwarzer erstarrter Lava erwartet hatten, fanden sie einem Ort von unirdischer Schönheit vor: Der inaktive Krater war eine Welt für sich, ein verborgenes Wunder inmitten der kargen Vulkaninsel. Seine Wände waren von der Zeit abgeschliffen, die Gesteinsschichten formten sanfte, konzentrische Kreise, die wie die Jahresringe eines Baumes von längst vergangenen Epochen zeugten. Daran wuchs ein überraschend üppiger Teppich aus moosgrünen Flechten. Und dort, mitten im Krater, schwebte das Herz des Himmels – ein Kern aus Erz, der von innen heraus zu glühen schien. Seine Oberfläche schimmerte in einem endlosen Wechselspiel aus Farben: Gold, Rubinrot, Smaragdgrün und Kobaltblau. Die Energie, die es ausstrahlte, brachte alles ringsum in Schwingung und ein mächtiges Summen lag in der Luft.

„Das ist unglaublich“, flüsterte Nora. „Wir haben es tatsächlich gefunden!“ Finn antwortete nicht. Sein Blick war starr auf das Herz gerichtet. Die Farben änderten sich unaufhörlich und bei jedem Wechsel schien das Gestein eine Welle von Energie auszusenden, die die Haare auf ihren Armen aufstellte.

Lieber Leser, es wäre müßig, dir die nun folgenden Informationen in einem Dialog zwischen unseren zwei Freunden darzustellen. Als Erfinderin war Nora mit einer raschen Auffassungsgabe und einem profunden Verständnis der Naturwissenschaften gesegnet, sodass sie gemeinsam mit dem Navigator Finn das Folgende schnell herausfand. Daher erlaube mir diese Einmischung, um dir zu erklären, was es mit dem sogenannten Herz des Himmels auf sich hat.

Leider muss ich deine Hoffnung enttäuschen, falls du auf ein romantisches, magisches Artefakt gehofft hast. Auch wenn die Welt der Wolkeninseln wie verzaubert anmutet, so unterliegt sie doch den gleichen Gesetzen der Physik wie auch deine und meine Welt. Das Herz des Himmels ist, schlicht gesagt, ein magnetosphärischer Schwebekern – ein gewaltiges metallisches Objekt, tief im Krater des erloschenen Vulkans. Sein Geheimnis liegt in einem elektromagnetischen Prozess, der ein kraftvolles Gravitationsfeld erzeugt. Jede der Wolkeninseln enthält einen kleineren Kern, der sich in dieses Feld einfügt, das wie eine unsichtbare Waage ihr Gewicht trägt und sie in der Schwebe hält. Ohne diesen Kern würden die Inseln durch ihre eigene Masse nach unten stürzen und auf dem Erdboden zerschellen.

Über die wissenschaftliche Grundlage lässt sich nur spekulieren, denn Forschung gibt es, wie du dir denken kannst, keine. Ich vermute, die Wirksamkeit des Herzens könnte in einer dynamoartigen Rotation liegen. Der Kern, bestehend aus ionisierten Gasen und Metallen, erzeugt durch seine innere Bewegung ein elektromagnetisches Feld von solcher Stärke, dass es die gigantischen Massen der Wolkeninseln in Balance hält.

Das Herz des Himmels ist also nicht nur ein Relikt der Vergangenheit, sondern eine gewaltige Energiequelle und der eigentliche Grund, warum diese schwebende Welt überhaupt existiert. Und genau das macht es gleichzeitig so begehrt und gefährlich. Aber ich will nicht mehr verraten und dir die Lektüre verderben – wisse nur so viel, dass die Geschichte für unsere Freunde bei weitem noch nicht vorbei ist.

Nora und Finn standen am Rand des Kraters und betrachteten wie gebannt das Herz des Himmels, als sie plötzlich ein Geräusch aufschrecken ließ. Die Vulkaninsel war nicht gerade leise, überall zischte, brodelte und pfiff es. Doch dieses Geräusch war anders. Es war ein metallisches Kreischen, begleitet von einem unheilvollen Schatten, der über sie hinweg zog. „Das kann nicht sein“, flüsterte Finn, und langsam hoben beide den Kopf.

Aus dem Rauch über ihnen tauchte eine bedrohliche Silhouette auf, die sie sofort wiedererkannten: Das Piratenschiff der Schwarzen Mara. Die schwarzen Segel waren wie zerrissene Schatten, die in der seltsamen Leuchtkraft des Herzens glänzten. Es schwebte wie ein Raubvogel über dem Krater und begann sich über ihnen einzudrehen. „Wie haben sie es hergeschafft…“, murmelte Finn fassungslos. „Kein Wunder, jetzt, wo die Turbulenzen weg sind“, fügte Nora zähneknirschend hinzu.

Das Schiff senkte sich herab und landete schließlich am Rand des Kraters. Ein Seil wurde über die Reling geworfen. Als Nora und Finn sahen, wer sich daran herunter hangelte, verschlug es ihnen den Atem. Mit einer geschmeidigen Bewegung kam Leander auf dem Boden auf, in der freien Hand seinen Degen. „So sieht man sich wieder“, sagte er mit einem kühlen Lächeln. Hinter ihm glitt Mara hinab. Erstmals konnten Nora und Finn die Piratin aus der Nähe betrachten. Ihr Name hätte nicht besser zu ihr passen können: Ihre schwarzen Locken fielen wild und ungezähmt um ihr Gesicht, glänzten wie poliertes Ebenholz und schienen ein Eigenleben zu führen, als ob selbst die Stille nicht wagte, sich in ihrer Nähe niederzulassen. Ihre Haut war sonnenverbrannt, mit feinen Linien um die Augen und dem Mund, die von einem Leben unter freiem Himmel erzählten. Ihre Kleidung war ein wilder Mix aus Eleganz und Zweckmäßigkeit: ein schwerer Mantel aus schwarzem Sturmleder, mit einer Fülle von Taschen und Haken, die für alles Platz boten, was eine Piratin benötigte und ihre Stiefel waren mit Metallplatten verstärkt, die ein klickendes Geräusch erzeugten, wenn sie einen Schritt machte. Ihre auffälligste Eigenschaft war aber, dass ihre linke Hand nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus einer Konstruktion aus Messing und Zahnrädern bestand. Nora musste sich zwingen, ihren Blick davon loszureißen – denn auch wenn Mara gefährlich war, hätte sie sie am liebsten über die kunstvolle Prothese ausgefragt.

Finn fand als erster die Sprache wieder. „Was willst du hier, Leander?“ „Oh“, sagte der Adlige und hob die Augenbrauen. „Keine Frage danach, wie ich es geschafft habe, euch zu entkommen? Wie ich Mara begegnete, die mich freundlicherweise aufnahm, da sie mit euch noch eine Rechnung offenhatte?“ Bei seinen letzten Worten nickte Mara und spuckte zustimmend auf den Boden. „Komm zum Punkt“, schnaubte Finn. „Natürlich bin ich kein Unmensch“, fuhr Leander fort, „Ich muss mich bei euch bedanken. Für eure Mühen, die mich hierhergeführt haben. Wir sind euch gefolgt, haben beobachtet, abgewartet. Euer Schiff hat die Thermodynamik dieser Insel nicht überlebt, das ist aber schade. Eva war wohl doch keine so gute Pilotin, wie sie immer von sich behauptet hat.“ „Wag es nicht“, fauchte Nora und unterdrückte mit aller Macht die Tränen, die ihr wieder in die Augen stiegen. Leander winkte ab. „Aber was rede ich mit euch. Das Herz des Himmels ist gefunden. Nun kann ein neues Zeitalter beginnen.“

„Was meinst du damit?“, fragte Finn. Leander drehte sich zu ihnen um, in seinen Augen flackerte das Licht des pulsierenden Kerns – oder der Wahnsinn, wer hätte das sagen können. „Gut, ich werde es euch erklären, obwohl ich sicher bin, dass ihr euch absichtlich so blöd anstellt, um meinen Plan zu erfahren. Die Wiederbelebung der Nachtstädter Forschung war eine gute Idee – doch das Herz ist ganz offensichtlich der viel größere Schlüssel zur Macht über die Wolkeninseln! Nun müsst ihr doch sehen, wie sich alles verändern könnte – im besten Sinne!“ Finn, dessen Hände unauffällig in seinen Taschen nach einem geeigneten Waffe suchten, knurrte: „Mach uns doch schlau, Leander. Was hast du vor? Und was hat diese Piratin damit zu schaffen?“

Leander lächelte kalt. „Die Schwarze Mara ist, wie ich, eine Visionärin. Sie weiß, dass die Ordnung der Wolkeninseln längst überholt ist. Das Herz ist nichts weiter als eine Kette, die uns an diese erbärmliche Ordnung fesselt. Was, wenn wir diese Ketten sprengen könnten? Was, wenn wir die Strömungen und Gravitation nach unserem Willen formen könnten?“ „Du willst das Gleichgewicht zerstören?“ Nora hob das Kinn, ihre Stimme zitterte, war aber dennoch fest. „Wenn du das Herz manipulierst, stürzen die Inseln!“ „Kurzfristig, vielleicht“, gab Leander zu. „Aber denkt doch größer! Wenn wir die Magnetosphäre umkehren, könnten wir die Kontrolle über die Inseln übernehmen, die Routen neu definieren. Handelswege, Machtverhältnisse, alles liegt dann in unseren Händen. Mara sieht die Möglichkeit, die Welt neu zu gestalten – und ich bin bereit, es auch zu tun.“

Finn lachte spöttisch, seine Augen funkelten vor Zorn. „Du bist verrückt. Tausende würden sterben, wenn die Inseln abstürzen. Und warum? Damit du und Mara Herrscher eures eigenen Imperiums werden könnt?“ Der Adlige warf ihm einen herablassenden Blick zu. „Das ist der Preis für Veränderung, Navigator. Wer sich an die Tradition klammert, hat keine Vision. Ich bin bereit, dieses Opfer zu bringen.“

„Aber wieso mit Mara?“ Nora ließ ihren Blick zu der Piratin gleiten, die bisher schweigend an Leanders Seite gestanden hatte. „Was hat sie davon?“ Der Mann hob eine Augenbraue. „Sie sieht das große Ganze. Ihr Traum ist eine freie Welt, in der keine Insel mehr unter der Herrschaft von Nimbusheim steht. Das Herz zu kontrollieren, bedeutet, die Macht zu haben, diese Welt zu erschaffen. Und ich? Ich bin der Einzige, der versteht, wie man das Herz umkehren kann.“ „Nein, du bist ein Idiot, Leander“, zischte Finn. „Das wird nicht funktionieren.“ Der Adlige lächelte triumphierend. „Beleidige mich ruhig, soviel du willst. Wir werden ja sehen, was gleich passiert. Und jetzt genug geplaudert – gib mir dein Orbis, Navigator.“

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