Die Flammen leckten bereits an den unteren Segeln und die Rex Ventorum schwankte gefährlich in der aufgewühlten Luft. „Die Turbulenzen sind zu stark!“, schrie Nora, während sie an einem der Seile zog, um das noch intakte Hauptsegel nach oben zu ziehen. „Eva, wir müssen hier weg!“ Doch Eva blieb wie festgewurzelt am Steuer stehen, ihre Finger in das Holz gekrallt. „Evaaa!“ Auch Finns Ruf hallte durch die Luft, doch er schien sie nicht zu erreichen. „Die Tradition wahren“, murmelte sie. „Was redest du da?“ Finn war hinter sie getreten und packte sie an den Schultern. „Los, wir verlieren das Schiff! Dreh ab!“ Aber Eva wusste, dass es keine Alternative gab. Sie hob den Kopf und sah ihre Crew an. Nora, deren Meisterwerk nun in Flammen stand. Finn, den sie zu dieser Reise hatte überreden müssen und der mittlerweile ein echter Freund geworden war. Und dann gab sie, so ruhig wie sie konnte, den Befehl: „Ihr müsst springen. Jetzt.“
„Was?!“ Beide starrten sie entsetzt an. „Keine Zeit“, brüllte sie gegen das Tosen des Sturmes an. „Wir müssen das Schiff opfern! Den Fuß in die Luft setzen! Versteht ihr?“ Noras Augen wurden groß. „Rex…“, stammelte sie, „aber …“ „Nichts aber, es geht nicht anders!“, rief Eva, „und ihr müsst euch in Sicherheit bringen!“ „Aber was ist mit dir?“ „Der Kapitän geht als Letzter von Bord“, sagte Finn mit tonloser Stimme, die über den Lärm kaum zu hören war – „Das war gemeint mit ‚die Tradition wahren‘.“
Tränen standen ihr in den Augen, als Nora ihre Freundin umarmte. Finn gab Eva einen unbeholfenen Klaps auf die Schulter und sie hörte ihn murmeln: „War mir eine Freude, für dich zu arbeiten.“ Dann schlüpften die beiden widerstrebend in die Rettungsfallschirme, kletterten über die Reling und sprangen ins Nichts. Eva sah ihnen nicht nach, sondern legte ihre Hände noch fester um das Steuer. „Ich hoffe, das ist es wert“, flüsterte sie und aktivierte den Turbo ihres Schiffes.
Finn und Nora waren gerade auf einem Felsplateau gelandet, als ein gleißendes Licht sie blendete und ein Donnerschlag die Vulkanlandschaft erzittern ließ. Die Rex Ventorum zerbarst mit einer gewaltigen Explosion in ihre Einzelteile. Um sie herum flogen Trümmer, brennende Holzstücke, Metallteile und Segeltuch durch die Luft. Nora schluchzte und Finn legte einen Arm um sie.
Oje, ich befürchte, mein lieber Leser, das war vielleicht etwas zu viel auf einmal. Ich sehe dich förmlich, wie du aufgeregt umblätterst und mich mit strengem Blick fragst: Was ist denn hier los? Habe ich ein Kapitel vergessen? Und warum so dramatisch? Warum diese Explosion? Wie geht es unserer Heldin Eva? Nun, ich gebe es zu – ich wollte es einmal anders machen. Ein kleiner Kniff, um mir deine Aufmerksamkeit zu sichern und die Spannung hochzuhalten. Natürlich hätte ich klassisch erzählen können. Aber so macht es einfach mehr Spaß. Aber keine Sorge, ich werde dich nicht lange auf die Folter spannen. Wie kam es dazu, dass Eva und ihre Crew ihr ruhmreiches Luftschiff opfern mussten? Lass mich zurückspringen, um dir die Fäden zu entwirren.
Die Freunde traten durch das Tor und, wie so oft auf dieser Reise, verschlug ihnen der Raum, der dahinter lag, den Atem. Über ihnen wölbte sich eine gewaltige Kuppel, durchzogen von schimmernden Linien, die wie goldene Sternbilder leuchteten und sich langsam zu bewegen schienen, als folgten sie dem ewigen Lauf der Himmelskörper. Die Wände zierten Skulpturen und Reliefs von Piloten, waghalsigen Manövern durch Sturmwolken, prächtigen Schiffen und immer wieder war da das Symbol, das Eva so gut kannte – das Muster auf ihrem Strumpf. Dazwischen gab es eingelassene Nischen, in denen Artefakte aufbewahrt wurden: antike Kompasse, alte Navigationskarten und lederne Flughelme. In der Mitte des Raumes stand ein großer, durchscheinender Tisch, dessen Oberfläche sich wie das klare Wasser eines Sees bewegte. Bei jedem Schritt der Freunde schien das Bild darauf zu reagieren, zeigte Inseln, Windströmungen und Sternenkonstellationen. „Das ist … unglaublich“, flüsterte Nora und berührte vorsichtig die schimmernde Oberfläche.
Doch Evas Aufmerksamkeit war von etwas anderem eingenommen. An einer der Wände war ihr ein großes Bild ins Auge gefallen, eingerahmt von einer filigranen Messingfassung. Darauf waren drei Menschen zu sehen: ein Mann mit freundlichen Augen und einer Frau deren Haar wild im Wind wehte. Beide waren in lederne Fliegerkluft gekleidet und trugen fellbesetzte Pilotenmützen mit Fliegerbrillen auf dem Kopf. Der Mann hielt ein winziges Baby auf dem Arm und beide kamen Eva auf eine merkwürdige Weise vertraut vor. Sie betrachtete das Bild genauer und plötzlich durchzuckte es sie wie ein Blitz. Bei beiden Erwachsenen ragten wollene Strümpfe aus den Stiefeln – Strümpfe, die exakt so aussahen wie das Paar, das sie trug. „Sind das… meine Eltern?“, flüsterte sie. „Und … ich!?“
Finn und Nora traten näher. „Du siehst ihnen zumindest sehr ähnlich“, sagte Nora vorsichtig, während Eva zitternd ihre Hand ausstreckte. Unter dem Bild war eine kleine Plakette angebracht: „Aurelia und Cassian Avelis – Sternenflugmeisterin und Erster Luftschiffmechaniker – Pilotenorden, 8. Zyklus.“ „Aurelia und Cassian“, flüsterte Eva und die Namen fühlten sich gleichzeitig fremd und vertraut an.
Doch bevor sie weitere Fragen stellen konnte, erstrahlte der Raum in einem sanften, goldenen Licht. Über dem Tisch erhob sich eine Gestalt – eine Projektion, aus Licht geformt. Es war ein alter Mann mit langem, weißen Haar, das er hinter dem Kopf zusammengebunden hatte. Auch wenn das Alter ihn gezeichnet hatte, stand er doch aufrecht und stolz, gekleidet in die Uniform eines Piloten, die mit zahllosen Abzeichen geschmückt war und deren Stoff das ihnen wohlbekannte Muster trug. Als er seine Stimme erhob, klang diese blechern und ein leichtes Kratzen lag über den Aufnahme, jedoch waren seine Worte deutlich zu verstehen. „Solltest du dies hören, dann hast du den Weg erfolgreich beschritten, den ich dir hinterlassen habe. Mein Name ist Kael Ardentis, Großmeister des Pilotenordens Conclave Aeris Fidelium – und vermutlich sein letzter Überlebender. Der Orden war einst eine Gemeinschaft von Helden, die den Wolkeninseln dienten. Wir retteten, halfen, schützten. Pflegten die Kunst des Fliegens. Aber, auch wenn es mir schwerfällt, es zu sagen: Unser Orden ist nicht mehr. Was ihn zerstörte, war die Unbarmherzigkeit des Himmels und die Hybris der Menschen. Als die Experimente der Nachtstädter mit den Wetterströmungen außer Kontrolle gerieten, versank die Stadt in Chaos und Dunkelheit. Wir, die Piloten, setzten alles daran, die Überlebenden zu retten. Doch der Preis war hoch. Viele meiner Brüder und Schwestern kehrten nicht zurück. Am Ende verloren wir auch unsere Besten: Zwei Piloten, die nicht nur meine engsten Vertrauten waren, sondern auch ein Kind bei sich trugen – ihre Tochter und zugleich unsere letzte Hoffnung auf einen neuen Anfang für unsere Gemeinschaft. Sie wurden zuletzt in den Sturmzonen gesehen, doch keiner von ihnen kehrte je zurück.“
Kael hielt inne, als würde ihn die Erinnerung erdrücken. Dann hob er den Blick, seine Augen schienen durch die Projektion hindurch in die Ferne zu sehen. „Unsere größte Aufgabe ist jedoch, das Herz des Himmels zu schützen. Es ist eine Macht, die stärker ist, als sich die meisten vorstellen können. Um sicherzugehen, dass nur der Erbe unseres Ordens es finden kann und es nicht durch Unwürdige missbraucht werden, habe ich die Karte mit ihren unterschiedlichen Herausforderungen hinterlassen – denn auch mein Lebensweg neigt sich dem Ende zu und bald wird da niemand mehr sein, der das Herz hütet.“
Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Im Schatten dieser Insel liegt eine kleinere. Sie ist fast völlig von Lava bedeckt, denn sie ist die einzige der Wolkeninseln mit Vulkanen – aktiven und inaktiven – darauf. Das Herz wird dort von einer einzigartigen Thermodynamik geschützt, die höchstes fliegerisches Können erfordert. Um es zu finden, musst du nur eines tun: Den Fuß in die Luft setzen, aber dabei die Tradition wahren.“
Die Nacht war bereits tief und voller Sterne, als die Freunde zur Rex Ventorum zurückkehrten. Das Luftschiff schaukelte sanft im Dämmerlicht, wie ein schlafender Drache, der auf seinen nächsten Reise wartete. Eva blieb kurz stehen, den Blick auf das vertraute Profil ihres Schiffes gerichtet, das ihr inzwischen wie ein Teil ihrer selbst vorkam. „Den Fuß in die Luft setzen“, hallte Kaels rätselhafte Stimme in ihrem Kopf wider. Was konnte der alte Pilot damit gemeint haben?
„Eva?“ Finns Stimme riss sie aus ihren Überlegungen. Er stand bereits an der Reling und warf ihr einen fragenden Blick zu. „Kommst du?“ Sie nickte und folgte ihm über die schmale Laufplanke. Nora war bereits unter Deck verschwunden, ihre Stimme hallte von irgendwoher, begleitet vom Geräusch klappernder Werkzeuge. „Ich checke das Steuerungssystem nochmal, sicher ist sicher.“ Eva und Finn tauschten einen Blick. „Immer muss sie an irgendetwas herumschrauben“, murmelte Finn und Eva meinte, in seiner Stimme einem Anflug von Bewunderung zu hören.
An Deck herrschte eine ungewohnte Stille, die nur vom sanften Knarren der Taue und dem leisen Sausen des Windes durchbrochen wurde. Die Ereignisse im Hauptquartier des Ordens hatten ihre Spuren hinterlassen. Selbst Finn, sonst der Fels in der Brandung, wirkte nachdenklich, als er sich gegen die Reling lehnte und in die Dunkelheit starrte. „Du glaubst nicht an das Herz, oder?“ fragte Eva unvermittelt, ohne ihn anzusehen. Finn zögerte, dann schüttelte er den Kopf, seine grauen Augen schwer von unausgesprochenen Gedanken. „Wir haben schon zu viel riskiert, als dass meine Zweifel jetzt eine Rolle spielen sollten. Aber ich kann auch nicht anders, als an Kaels Worte zu denken. ‚Den Fuß in die Luft setzen‘ … klingt das für dich plausibel? Das ist unmöglich.“ Eva antwortete nicht sofort. „Ich weiß auch nicht, wie wir das anstellen sollen“, sagte sie schließlich. „Aber wir haben zusammen schon so viel geschafft. Dieses letzte Rätsel knacken wir auch noch. Und dann werden wir ja sehen, ob wir das Herz finden oder die ganze Zeit nur an ein Märchen geglaubt haben.“
Plötzlich wurden sie von einem lauten Krachen unterbrochen, das aus dem Inneren des Schiffes drang. Evas Herz setzte einen Schlag aus. „Nora!“ rief sie und rannte zur Ladeluke, dicht gefolgt von Finn. Sie stürmten die Stufen hinunter, nur um ihre Freundin inmitten eines Chaos aus verstreuten Werkzeugen und rauchenden Drähten vorzufinden. „Alles in Ordnung!“ rief Nora, hustend und wild mit der Hand wedelnd, um den beißenden Qualm zu vertreiben. „Nur ein kleiner Kurzschluss. Das kriege ich schnell wieder hin.“ Sie richtete sich auf, Rußspuren auf ihrer Stirn und ein leicht verschmitztes Lächeln auf den Lippen. „Vielleicht solltet ihr aber schon mal eure Rettungswesten bereithalten. Nur so zur Sicherheit.“ Eva zwang sich zu einem Lächeln, doch der Schatten von Kaels Worten lastete zu schwer auf ihr, als dass es ihr leichtfertig über die Lippen kam.
Als sie wieder an Deck traten, wehte eine stärkere Brise, peitschte ihnen ins Gesicht und ließ die Taue der Rex singen. Die Wolken am Himmel begannen sich zu verdichten und Eva spürte, wie sich Spannung in den Wind legte – wie das Flüstern einer drohenden Gefahr. Es war ein Flüstern, das bald zu einem brüllenden Inferno anwachsen sollte, als sie sie in die thermischen Stürme über der Vulkaninsel eintauchten.