„Achtung, der Boden ist rutschig!“ Evas warnender Ruf kam zu spät, denn Nora glitt bereits auf den glitschigen Felsen aus und landete unsanft auf dem Hinterteil. „Das fängt ja gut an“, grummelte sie, während Finn ihr aufhalf. „Wer braucht schon gefährliche Tiere, wenn die Insel selbst uns umbringen will?“
Die Stelle, an der sie gelandet waren, wirkte auf den ersten Blick idyllisch. Über ihnen raschelten die Blätter gewaltiger Bäume in sattem Grün und einem tiefen Violett. Zunächst war noch ein Weg erkennbar, doch je weiter sie ins Inselinnere vordrangen, desto dichter und undurchdringlicher wurde die Vegetation. Die Luft war feucht und schwer und mit jedem Schritt schien der Dschungel näher zusammenzurücken. „Das ist doch kein normaler Wald“, murmelte Finn, während er die Umgebung musterte. Die Stämme der Bäume wanden sich wie ineinander verschlungene Schlangen empor, ihre Rinde glänzte im Halbdunkel, als sei sie von feinem Tau überzogen. Seltsame, schimmernde Partikel tanzten durch die Luft und hier und da zeigten sich winzige Glühwürmchen. „Glaubt ihr, auf dieser Insel lebt irgendwer?“ fragte Nora, die immer wieder stehen blieb, um mit halb geöffnetem Mund die Natur zu betrachten. „Ich könnte mir vorstellen, dieser Irgendwer hätte sich uns schon zu erkennen gegeben“, gab Eva zurück. „Oder derjenige will nicht gefunden werden.“
Schweigend setzten die Freunde ihren Weg fort. Unter dem Blätterdach war es dämmrig, aber der Tag neigte sich langsam dem Ende zu, das konnten sie an dem schwächer werdenden Licht erkennen. Sie passierten einige alte Steine, doch das Orbis schien mit keinem davon zu reagieren. Schließlich lichtete sich der Dschungel vor ihnen und gab den Blick auf eine kleine Anhöhe frei. Dahinter türmte sich das mächtige Gebirge auf, von dem sie hier unten nur die Ansätze der schneebedeckten Gipfel sehen konnten. „Schaut mal“, sagte Eva und wies mit der Hand voraus, „eine Seilbahn!“ Tatsächlich lag vor ihnen eine Talstation, dort wartend eine altertümliche Gondel.
Die Zeit hatte die Station gezeichnet. Das Holz war verwittert und die Seile, die die Gondel hielten, knarrten leise, als Eva, Nora und Finn einstiegen. Darin war nur ein metallener Hebel, sonst keinerlei Hinweise, wohin das Gefährt sie bringen würde. Eva schaute ihre Freunde an, Nora nickte. Sie betätigte den Hebel und wie durch Zauberhand setzte sich die Gondel in Bewegung. Rasch stiegen sie höher und höher, der Blick über den Dschungel wurde immer weiter. Unter ihnen war nur noch ein wogendes Meer aus grünen und violetten Wipfeln zu erkennen, das sich bis zum Rand der Insel zog.
Langsam brachen sie durch den Nebel und fanden sich in einer anderen Welt wieder. Der warme, feuchte Dunst des Dschungels war verschwunden, ersetzt durch eine klare, kalte Bergluft. Die Bäume, die noch unter ihnen gewesen waren, verschwanden nun, und die Landschaft öffnete sich zu weiten, schneebedeckten Hängen. Die hohen Gipfel, von kleinen Wölkchen umrahmt, ragten nun vor ihnen auf, majestätisch und unnahbar. Der Schnee glitzerte im fahlen Licht der sinkenden Sonne und die zerklüfteten Felsen an den steilen Hängen erschienen ihnen wie stumme Wächter, die über das Tal blickten. „Hu, ist das kalt!“ Nora wickelte sich fest in ihre Jacke. Finn sagte nichts, doch auch er schlug den Kragen seines Mantels hoch und starrte konzentriert aus dem Fenster.
Die Gondel zuckte leicht, als sie die letzten Meter Steigung passierte und langsam eine Plattform erreichte. Mit einem Quietschen legte sie an und die Türen klappten auf. Zögernd machte Eva einen Schritt auf den vereisten Boden, ihre Freunde folgten. Vor ihnen lag eine Bergstation, halb in den Felsen eingebaut. Das Gebäude war alt, die hölzernen Wände vom Wetter ausgebleicht, doch beim Näherkommen erkannten sie sofort das Muster, das in inzwischen abblätternder Farbe die Eingangstür zierte. Ein Riegel oder eine Klinke waren nirgendwo zu sehen. „Finn, was heißt das?“, frage Nora und deutete auf eine kleine Tafel, die seitlich neben der Tür befestigt war. „Si nostrum es, pulso“, las sie vor. „Wenn du einer von uns bist, klopfe“, übersetzte der Navigator. „Einer von uns? Was soll das heißen?“ „Finden wir es doch heraus“, sagte Eva und klopfte ohne Umschweife an die Tür.
Der Boden unter ihren Füßen knirschte und gab nach, ehe sie sich in Sicherheit bringen konnten. Mit einem Schrei stürzten alle drei in die Tiefe des Loches, das sich auf einmal unter ihnen aufgetan hatte. Sie fielen, fielen und fielen – um schließlich unsanft in einem aufgespannten Netz zu landen, das unter ihrem Gewicht federte. Die Karte, die Eva in der Hand gehalten hatte, entglitt ihr, als sie nach einem der haltgebenden Seile griff. „Nein!“, rief sie noch, konnte aber dem Blatt nur verzweifelt nachschauen, als dieses in die Dunkelheit hinabkreiselte.
„Eine Falle? Ernsthaft?“, schimpfte Nora, während sie versuchte, ihren Schuh aus einem Loch zu ziehen. Finn hatte sein Gleichgewicht bereits wiedergefunden und half den Mädchen, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien. „Wir sind gefangen“, sagte er und wies nach oben, wo das Loch in der Decke langsam von einer Steinplatte verschlossen wurde. „Na wunderbar“, schnaufte Nora. „Scheinbar sind wir nicht ‚einer von ihnen‘.“
Mit viel Mühe schafften sie es, sich aus dem instabilen Netz zu winden und an den Rand auf eine Plattform zu klettern. Evas Hände glitten über das glatte, aber kalte Metall der Kante und mit aller Kraft zog sie sich nach oben. Dort wartete jedoch bereits ein neues Rätsel. Eine große Tür aus poliertem Stahl erhob sich vor ihnen. In ihrer Mitte befand sich ein kreisförmiges Panel, das von einer Vielzahl kleiner Vertiefungen umgeben war. Auf dem Boden verstreut lagen einige Platten aus Holz, Metall und Stein – alle in unterschiedlichen Formen und mit eingeritzten Linien, die auf den ersten Blick völlig willkürlich wirkten.
„Na großartig“, sagte Finn und hockte sich, um die Platten genauer zu betrachten. „Ein Puzzle. Genau das, was wir jetzt brauchen.“ „Schau mal, die Linien auf den Platten“, bemerkte Nora und hob eine der Platten auf. Sie drehte sie in der Hand und hielt sie gegen das Licht. „Sie könnten ein Muster ergeben, wenn man sie richtig zusammensetzt. Eva, gib mal die Karte her – das sieht doch aus wie das Muster?“ Eva wich einen Schritt zurück und hob hilflos die leeren Hände. „Die Karte … sie ist mir aus der Hand gerutscht, als wir gefallen sind.“ Ihre Stimme war leise, entschuldigend und man hörte den Kloß in ihrer Kehle. Nora hielt mitten in der Bewegung inne. „Was? Du hast sie verloren?“ „Es war keine Absicht!“, gab Eva niedergeschlagen zurück. „Sie fiel einfach … Ich konnte nichts tun!“ Ihre Freundin schloss die Augen und atmete tief ein. „In Ordnung. Wir haben keine Karte mehr, aber wir haben das Orbis. Vielleicht können wir es irgendwie benutzen, um …“ „Hier gibt es keine Lichtqueele, die stark genug ist“, warf Finn ein, seine Stimme vor Frustration angespannt. Eva ließ die Hände sinken, ihre Finger zitterten. „Ich weiß nicht, was wir tun sollen“, flüsterte sie und trat einen Schritt zurück.
„Kopf hoch“, sagte Finn. „Vielleicht probieren wir einfach alle Kombinationen durch., Doch sein Tonfall verriet, dass ihm selbst nicht recht klar war, wie das gehen sollte. Nora stand mit verschränkten Armen da und kaute auf ihrer Unterlippe. Sie schien den Blick auf das Panel zu fixieren, doch ihre Augen wirkten abwesend, als ob sie in Gedanken etwas abzuwägen versuchte. „Das ist sinnlos“, murmelte Eva und lehnte sich gegen die kühle Wand. „Ohne die Karte haben wir keine Chance. Wir können das Muster nicht rekonstruieren.“
Plötzlich hob Nora den Kopf, als hätte jemand eine Glocke in ihrem Inneren geläutet. „Warte mal“, sagte sie langsam, ihre Stimme war ruhig, aber in ihren Augen blitzte es. „Eva – deine Strümpfe.“ „Meine was?“, fragte Eva irritiert. „Dein Strümpfe!“, wiederholte Nora und trat auf sie zu, packte ihr Hosenbein und schob es hoch. „Es ist doch dasselbe wie auf der Karte, du Dussel!“ Eva starrte auf das vertraute Muster, das sich wie feine, miteinander verschlungene Linien über den Stoff zog. Sie hatte es so oft gesehen, dass sie daran gar nicht mehr gedacht hatte – es war einfach ein Teil von ihr. „Das … das könnte funktionieren“, stammelte sie. Nora nickte energisch. „Natürlich funktioniert das! Komm schon, her damit!“
Eva zögerte einen Moment, dann zog sie den Strumpf aus der Tasche, den sie kaum trug. Vorsichtig hielt sie ihn neben das Panel und die Freunde begannen, die Platten Stück für Stück so zu verschieben, dass sie das Muster nachbildeten. Mit einem tiefen Klicken verschmolzen die Platten im Panel zu einem einzigen Bild. Ein leises Surren war zu hören und die massive Tür begann, sich schwerfällig zu öffnen. Dahinter lag ein Raum, der in goldenes Licht getaucht war.