Wenn du bislang im Unwissen über Nachtschemen lebtest, schätze dich vom Glück geküsst, lieber Leser! Denn die Nachtstadt ist nicht so verlassen, wie immer behauptet wird. Tatsächlich wird sie bevölkert von der traurigsten Einwohnerschaft, die man sich vorstellen kann: Den Nachtschemen. Einst, so heißt es, waren sie Menschen – Bewohner dieser stolzen Metropole, die im Streben nach Wissen und Macht den Zorn der Elemente herausforderten. Doch in den letzten Tagen der Nachtstadt, als das Wetter außer Kontrolle geriet und die großen Katastrophen hereinbrachen, wurden sie zu etwas anderem.
Die Wissenschaftler des Meteorologischen Instituts hatten mit den Druckverhältnissen experimentiert, Temperaturen manipuliert und die Grenzen der Natur überschritten. Niemand hatte vorhersehen können, dass diese Manipulationen nicht nur das Wetter, sondern auch die Menschen selbst verändern würden. Die extremen Schwankungen in Druck und Temperatur veränderten ihre Körper. Ihr Aggregatzustand begann zu fluktuieren – mal fest, mal flüssig, mal gasförmig – und sie verloren ihre ursprüngliche Gestalt. Was von ihnen übrig blieb, war ein Schatten ihrer selbst. Finstere Gestalten, die sich in der Dunkelheit verbergen, dort, wo kein Licht sie erreichen kann. Ihre Körper fließen wie Tinte, verdampfen wie Nebel oder verhärten sich zu pechschwarzem Glas, das in Bruchstücken aufblitzt, bevor es wieder ins Nichts verschwindet. Ihr Äußeres ist schemenhaft menschlich – Köpfe, Gliedmaßen, manchmal sogar Reste von Kleidung oder Schmuck, der sich in ihre neue Form eingeprägt hat.
Die Nachtschemen sind scheu. Sie meiden das Licht und ziehen sich in die tiefsten Schatten der Stadt zurück. Doch sie sind auch territorial. Wer unbedarft in ihr Reich eindringt, läuft Gefahr, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ihre Bewegungen sind lautlos, doch in völliger Stille kann man manchmal ein leises Schaben hören, wie das Geräusch von Fingernägeln auf einer Tafel, wenn sie in der Dunkelheit lauern.
Die größte Herausforderung, wenn man in einer Auseinandersetzung mit einem Nachtschemen gerät, ist seine Unberechenbarkeit. Er scheint keinen physischen Schaden zu nehmen und sein veränderlicher Zustand macht ihn schwer zu fassen. Lieber Leser, solltest du jemals in eine Auseinandersetzung mit einem Nachtschemen geraten, nur ein Tipp: Lauf um dein Leben! Ein Kampf ist völlig unberechenbar. Er wird dich mit peitschenden, flüssigen Armen angreifen, die in einem Moment wie Wasserschläuche wirken und im nächsten scharf wie Glassplitter sind.
Ob sie denken oder fühlen, weiß niemand. Manche glauben, dass ein Teil ihrer Menschlichkeit noch immer in ihnen schlummert, gefangen in einem endlosen Zustand des Wahnsinns. Andere behaupten, dass sie längst zu reinen Instinktwesen geworden sind, getrieben von einer unergründlichen Wut auf die Lebenden, die noch immer frei sind. Vielleicht durchstreifen sie die Straßen auf der Suche nach dem, was sie einst waren oder bewachen sie doch die letzten Geheimnisse der Nachtstadt?
Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit und formte sich zu einer unmenschlichen Gestalt – einem verwaschenen Abbild eines Menschen mit zu langen Gliedmaßen und leeren, flackernden Augen. Das schabende Geräusch wurde lauter, als weitere Nachtschemen aus den Ecken des Raumes auftauchten und sich ausbreiteten wie Tinte, die sich in Papier frisst.
„In Deckung!“, rief Eva und riss Nora hinter ein Regal. Finn zog sein Messer und versuchte, eines der Wesen auf Abstand zu halten, doch die Klinge ging einfach durch den Schatten hindurch, als ob er Luft zu schneiden versuchte. „Verdammt!“, schrie Nora. „Die Dinger sind nicht echt!“ „Sie sind echt genug, um uns umzubringen!“, zischte Finn, während er sich ebenfalls in Deckung brachte. „Ja das sehe ich auch“ fauchte Nora zurück, „Eva, was zum Teufel machst du denn da?“
Ihre Freundin war aufgestanden und vor das Regal getreten. Mit beiden Händen umklammerte sie eines der massiven Regalbretter, ihr Fußknöchel glänzte nackt im Licht des Mondes. Die Schemen verharrten zögernd vor ihr, als wären sie erstaunt, dass man sich ihnen so offen entgegenstellte. Dann löste sich einer aus der Masse und glitt gleich einer schwarzen Rauchwolke auf sie zu. „Eva!“, schrie Nora, „Lauf doch weg!“ Doch das Mädchen tat nichts dergleichen. Sie zögerte … wartete … und schwang dann das Brett mit aller Kraft. Als es den Schemen traf, zersprang dieser in abertausend schwarze Splitter. Schützend hielt sich Eva den Arm vors Gesicht und sah dann, dass sich die verbleibenden Schatten ängstlich in die Dunkelheit zurückzogen.
Nora und Finn krochen aus der Deckung hervor. „Das war der Wahnsinn!“, rief Finn und nie hatten sie ihn so enthusiastisch erlebt. Nora schob vorsichtig mit der Schuhspitze die schwarzen Splitter zusammen. „Ist das – Glas?“ „Ja“, antwortete Eva. „Graubart hat mir von den Schemen erzählt. Er hatte mal einen Matrosen, der ihnen knapp entkommen ist. Er wusste, dass sie kurzzeitig angreifbar sind, wenn sie in den festen Zustand übergehen. Dann schimmern sie im Mondlicht wie schwarzes Eis. Darauf habe ich geachtet.“ „Der Wahnsinn“, wiederholte Finn, doch Nora unterbrach ihn. „Sagt mal – wo ist eigentlich Leander?“ Der Adlige war nirgendwo zu sehen. „Er hat uns aber nicht einfach im Stich gelassen, oder?“, fragte Nora. „Sieht ganz so aus.“ Evas Wangen färbten sich rot vor Zorn. „Wenn ich den in die Finger kriege, verpasse ich ihm auch eins mit dem Brett.“ „Bin dabei“, sagte Finn, „aber lasst uns keine Zeit verlieren. Mein Vorschlag wäre, wir setzen das Orbis in die Sternenuhr ein und schauen, was passiert. Der Spruch passt perfekt: Per aspera ad astra – auf rauen Pfaden zu den Sternen.“
Eva überließ ihm die Ehre. Mit einem Klicken rastete das Gerät ein und eine Klappe an der Unterseite der Säule, auf der die Sternenuhr ruhte, sprang auf. Finn griff hinein und förderte ein lederndes Etui zutage. Die Freunde traten ins Licht des Mondes, um besser sehen zu können, was sie da gefunden hatten. „Jetzt mach es nicht so spannend“, drängte Nora, „Öffne das Teil!“ Vorsichtig öffnete Finn das Futteral. Ein metallenes Abzeichen fiel ihm in die Hände. „Ein Brieföffner?“, rief Nora verdutzt. „Na klar – nein, das ist ein Abzeichen, Dummerchen“, sagte Eva und für einen kurzen Moment vergaß sie den Ernst der Lage und kicherte über die Fantasie ihrer Freundin. „Okay, aber ein Abzeichen wofür?“ Bevor Eva antworten konnte, hörte sie ein leises Klirren – wie das Geräusch von Metall, das gegen etwas Festes stieß. Dann hörten sie hinter sich ein leises Lachen.
Eva wirbelte herum und erblickte Leander. Er stand neben dem Tisch mit der Sternenuhr, die Silhouette von Schatten verschlungen, als ob er selbst ein Teil der Dunkelheit geworden war. In einer Händen hielt er das Orbis Arcanum, das er leicht drehte, als wäre es ein Spielzeug, in der anderen seinen Degen. „Was soll das?“, fragte Eva, ihr Herz pochte schneller. „Gib das her.“ Leander grinste, als er das Orbis in der Hand betrachtete. „Nein“, antwortete er ruhig. „Du hast uns einfach im Stich gelassen!“, entrüstete sich Nora. Der Adlige zuckte mit den Schultern. „Mir blieb nichts anderes übrig. Ich hatte gehofft, dass wir uns ein wenig… besser verstehen könnten. Aber so viel Misstrauen, so viel Misstrauen … Jemand musste mir den Rücken freihalten.“ Sie starrten ihn an. „Du… du hast mit den Schemen zusammengearbeitet?“, fragte Eva. „Nein“, sagte Leander langsam, „wie könnte man, diese Kreaturen entziehen sich auch meiner Kontrolle – nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Aber sie sind dienlich, wenn es darum geht, ein wenig Chaos zu verbreiten. Und das ist genau das, was ich brauchte.“
Finn machte einen Schritt nach vorne. „Du hast uns die ganze Zeit hintergangen und du hast dir gedacht, wir würden das nicht merken, oder?“ Leander lachte leise und in seinen Augen funkelte ein gefährlicher Glanz. „Ihr seid keine Narren, das stimmt. Sonst hätte ich es mir leichter machen können. Aber ihr habt keine Ahnung, wie wichtig dieser Ort wirklich ist. Ihr habt keine Ahnung, wie viel Wissen hier verloren gegangen ist, und wie viel Macht in diesem Wissen steckt. Die Nachtstadt war einst das Zentrum der Wetterforschung – und dieses Orbis ist der Schlüssel zu allem.“
„Du bist komplett verrückt“, murmelte Nora. „Die Nachtstadt liegt in Trümmern. Und du denkst, du kannst hier noch etwas finden?“ „Nicht nur finden“, entgegnete Leander. „Ich werde sie neu errichten. Die Katastrophe, die die Nachtstadt zerstörte – sie war keine natürliche, kein Unfall. Es war das Werk derer, die zu weit gegangen sind. Sie wollten das Wetter kontrollieren, aber sie haben nicht verstanden, was sie taten. Ich schon, denn ich weiß: Das Orbis – es ist das Bindeglied. Das Instrument, das die wahre Macht über den Himmel gibt.“
„Das ist doch völliger Unsinn!“, rief Finn, „Es ist ein Navigationsinstrument – nicht mehr und nicht weniger!“ Der Adlige lachte spöttisch. „Dass für den Navigator alles Navigationsinstrumente sind, klingt für mich ebenso plausibel, wie wenn ein Hammer nur Nägel sieht.“ „Und du glaubst, du kannst das kontrollieren?“, fragte Eva. „Du wirst genau das tun, was die Wissenschaftler der Nachtstadt getan haben – dich selbst und alle um dich herum zerstören.“
„Zerstören? Nein, Mädchen. Es geht nicht um Zerstörung. Es geht um Erneuerung. Die Nachtstadt war zu starr, zu verbissen in ihrem Streben nach Wissen. Sie konnte die Wahrheit nicht ertragen. Aber ich werde die Wahrheit annehmen, ich werde die Gesetze des Himmels verstehen. Wenn ich das Orbis richtig einsetze, kann ich nicht nur das Wetter kontrollieren – ich werde die Atmosphäre verändern können.“ Er hielt inne und blickte zu ihr, als wollte er den Moment auskosten. „Stell dir vor: Kein Sturm, den wir nicht überstehen könnten. Kein Nebel, der uns aufhält. Wir könnten die Wolken beherrschen. Und nicht nur das – die Welt würde sich verändern. Die Macht über das Wetter, über die Lüfte, über die Erde… Das ist es, was wir brauchen.“ „Du bist komplett verrückt“, wiederholte Nora. „Du wirst doch auch nicht entkommen können, wenn du die nächste Katastrophe auslöst!“ Leander zuckte mit den Schultern, sein Grinsen breitete sich aus. „Vielleicht. Aber jedem Anfang wohnt doch auch ein Zauber inne, oder? Und nun – wenn ihr gestattet?“ Den Degen weiter auf sie gerichtet, näherte er sich der Sternenuhr.
Eva beobachtete ihn, während sie unauffällig einen Schritt zur Seite machte und die Finger fester um das Brett schloss, das sie immer noch in der Hand hielt. „Wieso hast du dich uns angeschlossen?“, fragte sie. „Angeblich soll es ja keine blöden Fragen geben“, gab Leander zurück und in seiner Stimme lag echtes Erstaunen. „Aber das ist nun wirklich eine. Ihr hattet ein Orbis Arcanum – ihr wolltet zur Nachtstadt. Transport und Werkzeug in einem. Wie komfortabel.“
Mit einer blitzschnellen Bewegung sprang Eva vor und schwang das Brett, um es auf Leanders Kopf niedersausen zu lassen. Der Adlige warf die Arme hoch, doch er hatte keine Chance: Mit einem Ächzen ging er zu Boden. Ein Hechtsprung, mit dem Nora unter ihm hindurchtauchte, rettete das filigrane Gerät vor dem Absturz. Finn stürzte sich auf Leander und packte ihn an den Armen. „Ich glaube nicht, dass das nötig ist“, sagte Eva und wischte sich die Haare aus der Stirn. „Er ist ohnmächtig.“ „Gut“, sagte Nora und ihr Blick verfinsterte sich. „Lassen wir ihn hier. Wenn er sie ach so toll findet, soll er in der Nachtstadt bleiben.“ „Du weißt, dass wir das nicht machen können“, gab Eva zurück. „Warum nicht?“, mischte sich Finn ein. „Er hätte es mit uns genauso gemacht.“ „Wir sind aber nicht wie er“, sagte Eva und verschränkte die Arme. „Wir nehmen den Verräter mit.“