Eva blickte sich um. Sie stand auf dem Deck ihres Schiffes und versuchte, angesichts des Bilds der Zerstörung, das sich ihr bot, nicht in Tränen auszubrechen. Finn und Leander waren eifrig dabei, kleine Brände zu löschen. Nora kletterte über eine Leiter nach oben zu ihr. „Und, wie schlimm ist es?“, fragte Eva ihre Freundin. Die Erfinderin stemmte die Arme in die Seiten und atmete tief durch. „Die gute Nachricht: Ich kann uns wieder flugfähig machen. Die schlechte: Ich brauche zwei Tage dafür. Und Holz.“ „Holz sollst du haben“, antwortete Eva und wies auf den Wald aus niedrigen, knorrigen Bäumen, in den sie gestürzt waren. „In den zwei Tagen ist nicht die Zeit eingerechnet, das Holz selbst zu fällen und in Form zu sägen“, gab Nora zurück. „Vielleicht finden wir ja in Trübsen einen Händler.“
So machten sie sich auf den Weg in das Dorf. Eva, Finn und Leander gingen voraus, während Nora am Schiff zurückblieb, um mit den Reparaturen zu beginnen. Die Wolkeninsel, so karg und trostlos sie auch wirkte, hatte eine düstere Schönheit an sich. Der matschige Boden unter ihren Füßen war von Steinen und Wurzeln durchsetzt, sodass man darauf achten musste, wohin man trat. Der Wind trug den rauen Geruch der zerklüfteten Klippen mit sich und überall hing der Nebel wie ein fetter Schwamm, der alles in sich aufsaugte. Es war ein Ort, an dem nichts wachsen wollte außer dem struppigen Gras und den dürren Bäumen, die wie verdrehte Figuren aus dem Boden ragten. Kein Vogel war zu hören und die Stille war so dicht, dass man sie fast mit der Hand greifen konnte.
„Ich hoffe, sie haben gutes Holz“, plapperte Leander, der erstaunlich gut gelaunt hinter den beiden anderen herging. „So wie es um die Botanik hier bestellt ist, könnte es schwierig werden, wenn wir das Schiff nicht mit dürren Zweiglein ausbessern wollen.“ „Keine Sorge, das wird schon“, sagte Eva zerstreut, obwohl sie nicht sicher war. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu den Ruinen der Nachtstadt, die sie aus der Ferne gesehen hatten. Der Weg dorthin stand ihnen noch bevor. Auch das Dorf, das sie nun erreichten, sah aus wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen – verwitterte Hütten, deren Dächer mit Moos überwuchert waren und Türen, die schief in den Angeln hingen. Ab und zu öffnete sich eine und ein Dorfbewohner trat heraus, um sie mit einem starren Blick zu mustern, als wären sie Gespenster. Es waren kaum junge Menschen zu sehen und die wenigen älteren Männer und Frauen, die sie trafen, schienen in ihren eigenen Gedanken gefangen, als ob sie sich durch einen Nebel bewegten, den nur sie sehen konnten. Ein Mann, der sich mit einer kaputten Sense auf der Schulter über den Marktplatz schleppte, drehte sich wortlos zu ihnen um, blieb stehen und starrte sie minutenlang an, ehe er langsam in einer der Gassen verschwand. „Das ist ja… merkwürdig“, flüsterte Eva den anderen zu. „Ich habe gehört, dass die Bewohner hier seltsam sind, aber das…“ „Seltsam ist ein gutes Wort“, pflichtete ihr Finn bei. „Ich habe das Gefühl, dass wir diesen Ort schnellstmöglich wieder verlassen sollten.“ Sie gingen weiter, von den Blicken der Dorfbewohner verfolgt, die sich aus den schiefen Türen und Fenstern schälten.
Im Zentrum des Dorfes befand sich ein kleiner Platz, auf dem ein Brunnen stand, dessen Wasser nicht mehr floss, sondern in dunklen Rinnsalen auf dem Boden versickerte. Zwei Kinder spielten am Rand, doch ihre Bewegungen waren mechanisch und unnatürlich, als hätten sie das Spiel längst vergessen, aber nie die Gewohnheit abgelegt. Ihre Augen blickten starr auf die Ränder des Platzes, ohne sich zu bewegen. An einem Stand in der Ecke hockte ein alter Mann, dessen graue Augen von einer Stirnbinde halb verdeckt wurden. Er feilte mühsam an einem Stück Metall und unterbrach seine eintönige Tätigkeit nur, um sich in regelmäßigen Abständen einen Schlag vor den Kopf zu verpassen. Eva schaute ihre beiden Begleiter an. „Wie es aussieht, brauchen wir wirklich viel Glück, um jemanden zu finden, der uns hilft“, sagte sie. „Aber wir sollten uns beeilen, ich glaube nämlich nicht, dass wir hier einfach rumstehen können.“ „Stimmt“, antwortete Finn, während sie eine ältere Frau bemerkten, die sich unter ein hölzernes Dach drückte. Sie sah sie mit einem Ausdruck an, der weder freundlich noch feindselig war – nur leer.
„Ich frage jetzt einfach diese Frau da“, sagte Eva, die sich ein Herz gefasst hatte. Doch Leander hielt sie zurück. „Kennst du die Gepflogenheiten nicht?“ Sie schaute ihn verdutzt an. „Gepflogenheiten? Hier?“ Er nickte mit wichtiger Miene. „Oh ja, auch ein Dorf wie Trübsen hat seine Gesetze! Noch nie was vom Ritual der Drei Schritte gehört?“ Er trat forsch auf die Frau zu, die ihn erschrocken anblickte. Dann vollführte er einen Halbkreis, in dem er jeweils einen Schritt nach Osten, Süden und Westen tat. „Die alten Geister wachen über dich“, krächzte die Alte plötzlich. „Und die neuen meiden dich“, antwortete Leander. „Die drei Schritte verbinden uns mit den alten Geistern der Insel“, warf er seinen Begleitern erklärend zu, „und sollen uns vor den neuen schützen. Das habe ich bei meiner letzten Reise hierher gelernt.“ „Er ist ja tatsächlich ganz nützlich“, flüsterte Eva Finn zu und der nickte.
„Was wollt ihr, Fremde?“, fragte die Frau und blickte sich nervös um. „Ich muss weiter.“ „Gute Frau“, holte Leander mit großer Geste aus, „wir sind mit unserem Luftschiff verunglückt und benötigen zu dessen Reparatur bestimmte Materialien, genauer gesagt Holz. Ihr wisst nicht zufällig, wie wir dessen habhaft werden können?“ Eva warf Finn einen halb irritierten, halb spöttischen Blick zu und er schien das Gleiche wie sie zu denken, schwieg aber, da ihr Begleiter offenbar Erfolg hatte. „Holz?“, wiederholte die Frau, „fragt beim Lager im Osten des Dorfes. Sirin Morschfal ist ein Freund. Sagt, Maeva schickt euch, dann hört er euch an.“
Sirin Morschfal war ein kräftiger Mann mittleren Alters, dessen Hände von der Arbeit mit Holz gezeichnet waren – grobe, rissige Haut und eingetrocknete Harzflecken. Seine Haare waren dunkel, aber zeigte schon erste silberne Strähnen. Er hörte sie an und forderte sie auf, ihm in sein Lager zu folgen. Eva hatte lange Stämme und zurechtgesägte Planken erwartet, aber fand ein Durcheinander von Brettern, Klötzen und kleinen Stücken vor. Aber was sie wirklich erstaunte, waren die lebensgroßen geschnitzten Figuren, die aufgereiht an den Wänden standen. Sie waren so lebensecht, dass sie sich von ihnen beobachtet fühlte. Sirin steckte die Hände in die Tasche seiner Latzhose. „Holz wollen sie“, sagte er und erst da realisierte Eva, dass er mit den Figuren redete. Er machte eine Pause, wie als würde auf eine Antwort warten, dann sprach er weiter. „Ja, wir brauchen es eigentlich selbst. Ich weiß, ich hatte gesagt, dass wir unsere Familie erweitern wollen. Aber sie sind in Not.“ Ruckartig drehte er sich einer anderen Figur zu. „Was sagst du? Ach, Valeriana, du hast ein gutes Herz! Natürlich hast du wie immer recht – ich muss helfen!“
Eva warf Finn einen alarmierten Blick zu. Wo waren sie hier nur gelandet? Doch dann, als wäre nichts gewesen, sprach der Mann wieder mit ihnen. „Was braucht ihr genau für euer Schiff?“ „Ich befürchte, es müssten längere Bretter sein als diese hier“, antwortete Eva vorsichtig und wies auf die herumliegenden Holzteile. „Kein Problem“, gab der Handwerker zurück und verschwand in dem nach Sägespänen duftenden Zwielicht seiner Lagerhalle. Daraus kehrte er wenige Minuten später mit mehreren Planken auf der Schulter zurück. „Wie wäre es mit diesen hier?“
Nora machte einen Luftsprung vor Freude, als sie mit den Brettern beim Schiff ankamen. Den ganzen restlichen Nachmittag tauchte sie nicht mehr auf und nur das Klopfen ihres Hammers war zu hören. Am Abend kletterte Eva die Strickleiter hinab, den Teller mit dem Abendessen auf einer Hand balancierend. Die Locken ihrer Freundin waren vom Holzstaub ganz weiß und ihre Wangen glühten. „Schau mal!“, rief sie und wies mit einer ausladenden Geste auf den Schiffsrumpf: „Alles wieder heil!“ „Hast du großartig gemacht“, lobte Eva und drückte ihr den Teller in die Hand, „aber jetzt iss mal was. Du fällst sonst um.“
Schweigend saßen sie nebeneinander, aßen und ließen die Füße von der Schiffskante baumeln. Am Horizont lag die Nachtstadt und trotz der einsetzenden Dämmerung konnten sie ihre Ruinen und eingefallenen Dächer gut sehen. „Fürchtest du dich auch schon ein bisschen vor morgen?“, fragte Nora leise. Eva zögerte, dann beschloss sie, ehrlich zu ihrer Freundin zu sein. „Ja“, antwortete sie. „Aber wir drei werden zusammen sein – und deshalb komme, was wolle.“