Rex Ventorum glitt ruhig durch die Wolken, als plötzlich ein scharfer Knall die Luft zerriss. Eva, die am Steuerrad stand, drehte sich blitzschnell um und sah, wie ein Geschoss das Heck traf. Holz splitterte und ein paar Leinen der Takelage rissen, sodass das hintere Segel an einer Seite frei in der Luft flatterte. Das ganze Luftschiff zitterte und ein gellender Alarm hallte durch die Luft. „Piraten!“, hörte sie Nora rufen und sah, wie Leander sich wieder auf die Beine rappelte. Der Ruck hatte ihn von den Füßen gefegt. Kurzentschlossen riss sie sich ihre Socke vom Fuß und das Steuerrad mit aller Kraft herum.
Nun tauchte die Ursache des Angriffs wie ein dunkler Schatten vor ihnen auf. Eva lief ein Schauer den Rücken herunter, als eine wohlbekannte Stimme durch den Dunst kreischte: „Hallo, meine Täubchen – die Schwarze Mara ist zurück!“ Die Erinnerung an die gefährliche Begegnung in den Wolken war noch frisch in Evas Kopf. „Verdammt, sie haben uns gefunden!“, schrie Nora, als sie die düstere Silhouette des Piratenschiffs erblickte. Es war dasselbe, das sie in den Sturmzonen verfolgt hatte – aber jetzt war es ihnen viel nähergekommen. „Schnell, Wendemanöver!“, kommandierte Eva. Doch die Seitenwinde hatten eine solche Wucht, dass sie kaum gegen sie ankämpfen konnte. Das Schiff mit den dunklen Segeln kam immer näher und auf seinem Deck konnte man bereits die Umrisse der Piraten erkennen, die sich daran machten, die Enterhaken auszuwerfen. „Haltet euch fest!“, brüllte Eva, als sie einen weiteren Treffer am Schiff spürte. Der Rumpf der Rex Ventorum knirschte unter der Kraft des Aufpralls, doch sie hielt stand. Das Piratenschiff war nun direkt an ihrer Seite und aus der Nähe konnte Eva Mara endlich mit eigenen Augen sehen. Die Kapitänin stand am Steuer, ihre langen schwarzen Haare wehten im Wind und ein spöttisches Lächeln lag auf ihren Lippen.
Irgendetwas hatte Feuer gefangen und durch den Rauch konnte Eva ihren Navigator nicht mehr erkennen. „Verdammt!“, fluchte sie und versuchte, das Schiff eigenständig von den Angreifen wegzumanövrieren, doch Mara war schneller. Ein Schuss krachte in die Nähe des Steuers und die ganze Rex Ventorum stotterte, als der Ballistikstoß sie fast aus der Bahn warf. Der Schock ließ Eva in die Knie gehen, aber sie rappelte sich auf und zog das Steuer umso fester, als der Wind die Schiffe in den Schlingerkurs trieb.
Da ertönte ein schriller Pfiff. Finn! Ohne lange nachzudenken, folgte sie seinem Kurs und drängte die Rex in einen steilen Sinkflug. Die Piraten versuchten noch zu folgen, doch plötzlich wurden sie in einen Abwind gezogen. Verzweifelt versuchte Eva gegenzusteuern, doch das Schiff hatte sich unaufhaltsam auf die Nase gestellt und raste nahezu senkrecht nach unten. Durch die Macht der Schwerkraft wurden Nora und Leander, die sich nicht rechtzeitig festgehalten hatten, an die Rückwand des Steuerhauses geschleudert, während Eva sich an das Steuerrad klammerte. Sie trudelten durch die Wolken und für einen kurzen Moment fühlte es sich tatsächlich so an, als wären sie schwerelos.
Da lichtete sich der Dunst und zwei Inseln tauchten auf. Anhand der Umrisse erkannte Eva, dass es sich um Trübsen und Dämmerkliff handelte – und sie stürzten direkt darauf zu. Im letzten Moment gelang es ihr, das Hauptruder herumzureißen und die Rex schoss in die Horizontale. Mit aller Kraft zog Eva hoch, hoch, hoch – doch es half nichts. Sie streiften einen Hügelkamm und die Erschütterung brachte das Schiff ins Taumeln. Schließlich setzten sie auf, schleiften über das das steinerne Land bedeckt mit kleinen, knorrigen Bäumen, Felsen und Ruinen, bevor sie mit einem fürchterlichen Knirschen zum Halten kamen.
Ja, mein lieber Leser, du würdest nun sicher gern wissen, wie es Eva und ihren Freunden weiter ergeht. Ist das Schiff nun zerstört und sind alle Passagiere wohlauf? Keine Sorge, ich werde gleich fortfahren. Aber lass mich zuerst ein paar Worte über das Eiland verlieren, auf dem die Crew gerade eine wortwörtliche Bruchlandung erleben musste. Wenn du jemals den kargen Boden von Trübsen betreten hast, dann kennst du diesen Ort des Verfalls, der immer noch ein Spiegelbild der Katastrophe ist, die hier einst ausbrach. Hast du es nicht – o danke dem Schicksal, Glücklicher, dass es dich nie dorthin gelenkt hat!
Aber Trübsen war nicht immer ein trostloser Fleck auf dieser Wolkeninsel. Nein, einst war es ein quirliges, lebendiges Dorf, das von den Bewohnern der Nachtstadt als Handelsposten genutzt wurde. Durch die Nebelbänke, die die Insel einschließen, gedeihen hier Nebelblumen besonders gut, was die Stadt zu einer begehrten Quelle für Nebelmilch machte. Trübsen gegenüber liegt auf einer sichelförmigen Insel namens Dämmerkliff die Nachtstadt. Ich will noch nicht zuviel verraten, aber wie du vielleicht weißt, war sie einst ein Ort der Schönheit und des Wissens. Die Nachtstädter Universitäten – es waren tatsächlich vier an der Zahl! – konnten jedes Jahr aufs Neue volle Hörsäle vorweisen und die Bibliothek im Großen Turm suchte ihresgleichen. Heute sind all diese Gebäude verfallen und von der prächtigen Stadt ist kaum noch etwas übrig. Wo einst die Stimmen großer Forscher widerhallten, herrscht nun gespenstische Stille. Die gewaltigen Türme, die stolz in den Himmel ragten, sind eingestürzt, von den üppigen Gärten ist nur noch verwildertes Gestrüpp geblieben. Doch der Verfall kam nicht über Nacht, nein, er nahm seinen Anfang vor vielen Jahren, als die Meteorologische Akademie begann, sich mit den geheimen Kräften des Wetters zu beschäftigen.
Sie suchte nach Wegen, den Himmel zu zähmen, die Winde zu beherrschen und den Regen nach Belieben zu lenken. Sie experimentierte mit Unterdruckkammern, elektrischen Strömen, Hitze- und Kältespeichern und versuchte damit, das Wetter in ihre Dienste zu zwingen. Was genau das Fass zum Überlaufen brachte, ist schwer zu sagen. Vielleicht war es ein elektrischer Impuls, vielleicht eine zu weit gehende Manipulation der Naturkräfte – aber die Folgen waren verheerend. Die überlieferten Berichte sprechen von seltsamen Erscheinungen, flimmernden Lichtern und plötzlichen Entladungen in der Luft. Mehrere Quellen berichten übereinstimmend von starken Kopfschmerzen, die sich unter der Bevölkerung ausbreiteten, gepaart mit dem Hören von Stimmen, die aus den Wänden zu kommen schienen. Meiner persönlichen Einschätzung nach sind diese Halluzinationen auf die schlagartigen Druckveränderungen in der Luft zurückzuführen. Aber als wäre es nicht genug, dass die ganze Stadt kollektiv dem Wahnsinn anheimfiel, brachen plötzliche Stürme über sie herein. Stürme, die den Himmel in Fetzen rissen, die Gebäude hinweg bliesen und den Bewohner keine Alternative zur Flucht ließen. Bald schon gab es niemanden mehr, der den Namen der Nachtstadt noch in den Mund nehmen wollte. Die schreckliche Hinterlassenschaft auf Dämmerkliff blieb zurück: ein verwüstetes Land und eine zerstörte Siedlung, in der einen die Schatten verfolgen.
Und was ist nun aus Trübsen geworden? Die Überlebenden der Nachtstadt flüchteten sich in das benachbarte Dorf, hofften, dort Frieden zu finden. Doch auch hier, in der vermeintlich sicheren Zuflucht, waren die Auswirkungen der Katastrophe spürbar. Die Felder ertraglos, die Bewohner verstört. Heute leben dort nur noch die Nachfahren derer, die aus den Ruinen der Nachtstadt geflohen sind. Und so lebt Trübsen weiter – oder ich sollte wohl besser sagen, es vegetiert. Es ist ein Dorf, das niemals wirklich zu sich selbst zurückkehren wird – und für die Crew, die nun dort gestrandet ist, sollte es ein Ort des Schreckens und der Offenbarung zugleich werden.