13. Dezember | Die Burg der Tausend Türme und der betrunkene Navigator

„Schau mal!“ Noras Ruf folgend, trat Eva aus dem Steuerhaus der Rex Ventorum an die Reling. Ihr Schiff war durch eine Wolkenschicht gebrochen und vor ihnen lag die Burg mit den tausend Türmen: die Windfeste. „Ich hätte mir nicht vorgestellt, dass sie so… beeindruckend ist,“ sagte Eva zu ihrer Freundin. Vor ihnen erhob sich das monumentale Bauwerk, das in der tief stehenden Sonne beinahe golden schimmerte. Vom Hafen führte eine lange Steintreppe nach oben, flankiert von Fähnchen und Bändern, die im Wind tanzten. Bunte Drachen kreisten am Himmel und überall waren die verschiedensten Fluggeräte zu sehen. Manche schwebten träge dahin, andere vollführten wagemutige Manöver. Begeistert beobachtete Eva eine Flitzkiste, die sich in halsbrecherischer Geschwindigkeit zwischen den Türmen hindurchschlängelte, sich mehrfach überschlug und dann im Sturzflug in die Wolkendecke eintauchte. „Genug geschaut“, unterbrach Finn den Bann, in den die Aussicht die beiden Mädchen geschlagen hatte. „Wir legen an.“

Mein lieber Leser, ich weiß nicht, ob du dich für Flugmanöver begeisterst, aber wenn ja, dann kannst du der Windfeste einen Besuch abstatten – ach, was rede ich, du musst! Die „Burg der tausend Türme“, so der Volksmund, ist ein Wunderwerk der Lüfte, ein Ort, an dem sich Abenteuerlust und märchenhafte Schönheit vereinen. Sie schwebt anmutig über den Wolken, überall wehen kunstvollen Fahnen, die sich in den Winden wiegen. Man sagt, die Luftströmungen rund um die Windfeste seien die besten von allen Wolkeninseln, so ruhig wie ein stiller See und zugleich stark genug, um Fluggeräte aller Art zu tragen. Die Windfeste ist berühmt für ihre jährlichen Windspiele, eine Woche voller Feiern und Wettkämpfe, bei denen Flugenthusiasten von allen Wolkeninseln zusammenkommen. Es gibt Preise für das Fliegen mit Nachbauten altertümlicher Gleiter, die der Schwerkraft auf die absurdeste Weise trotzen. Ein besonderer Nervenkitzel für den Zuschauer sind natürlich die Wettbewerbe in Luftakrobatik und Freifall. Ich selbst habe die Feiern ein paar Mal erlebt und jedes Mal aufs Neue sind sie ein Spektakel der Farben, Formen und kühnen Manöver.

Oh, und lass mich nicht vergessen: Die Aussicht! Von der Windfeste aus siehst du die Wolkeninseln in einem Panorama, das seinesgleichen sucht. Glaub mir, mein Freund, einmal dort angekommen, wirst du verstehen, warum dieser Ort wie ein Magnet Abenteurer und Träumer aus allen Winkeln der Himmelsinseln anzieht.

Die Rex lag sicher vertäut im Hafen, als sich die Gruppe auf den Weg zur Hauptpforte der Windfeste machte. Es herrschte ein dichtes Gedränge. Überall standen Fluggeräte herum oder wurden auf Karren von Bord geschafft. Touristengruppen ließen sich von Einheimischen in der traditionellen Tracht der Feste herumführen, die an den kräftigen Farben und der Verzierung mit Federn zu erkennen war. Die Kapitäne der großen Ausflugsschiffe standen an einem Stehimbiss zusammen, eine große Flasche Feuerbrise auf dem Tisch, die Köpfe in eine Wolke aus Pfeifenrauch gehüllt. Hier und da sah man Dockoffiziere und Hafenwächter, die Ladung kontrollierten und wagemutige Individual-Piloten an die offiziellen Startplätze der Insel verwiesen. „Hier ist ja der Teufel los“, sagte Nora verdutzt, als die Menschenmengen in den Straßen der Burg nicht abnahmen. „Da müsstest du mal während der Windspiele herkommen“, antwortete Finn, „dann kann man hier kaum mehr treten.“ Nora stieß Eva in die Seite: „Das wär doch was für dich! Tagelang in einer aufgemotzten Kiste durch die Gegend fliegen und nur zum Essen und Schlafen landen!“ Eva lachte. „Das wäre der Traum.“

Sie waren im Innenhof der Burg angelangt. „Was jetzt?“, fragte Finn und stemmte die Arme in die Seiten. „Wir haben wohl alle gedacht, dass uns der nächste Hinweis anspringt“, kicherte Nora. „Lasst uns mal überlegen“, sagte Eva und lotste ihre Freunde in eine etwas ruhigere Ecke, wo sie die Karte ausbreiten konnten. „Unser nächstes Ziel ist die Nachtstadt, das sieht man an dieser Linie. Die Frage ist nur, was wir hier finden: Müssen wir wieder eine besondere Route nehmen? Oder ist hier etwas versteckt, was wir für die Weiterreise brauchen?“ „Ich würde mal sagen, für einen Besuch der Nachtstadt können wir so gut wie alles gebrauchen“, erklärte Finn mit einem Naserümpfen. „Aber die Windfeste ist riesig“, sagte Nora, „Wo sollen wir da anfangen?“ „Wir sind doch zu dritt“, überlegte Eva laut, „wie wäre es, wenn wir uns aufteilen? Jeder von uns erkundet einen anderen Teil der Burg und heute Abend bei Sonnenuntergang treffen wir uns hier wieder.“ Ihre Freunde stimmten der Idee zu. Finn erklärte sich bereit, die Hafengegend zu untersuchen, während Nora das Innere der Festung übernahm. Eva würde sich unter die Piloten mischen.

Das Mädchen ließ sich von den lebhaften Geräuschen und der geschäftigen Atmosphäre der Start- und Landeplätze treiben. Das Klirren von Werkzeugen vermengte sich mit Rufen, die über das Gelände hallten, während Mechaniker an ihren Fluggeräten schraubten. Überall leuchteten Metall, bunt lackierte Oberflächen und weißes Segeltuch in der Sonne. Der besondere Wind, der über die Windfeste zog und auf den hier alle aus waren, lag als sanftes Summen in der Luft und versetzte die Stoffbahnen einiger Gleiter in Bewegung.

Sie schlenderte die Gasse entlang und saugte all die Eindrücke auf. Da blieb ihr Blick an einem Flugzeug hängen, das zwischen den anderen auffiel: ein schmaler Gleiter mit Schwingen, die wie die ausgebreiteten Flügel eines mächtigen Vogels aussahen. Die filigranen Metallfedern auf den hölzernen Rahmen schimmerten im Licht der Sonne, als wären sie ein echtes Gefieder. Fasziniert trat sie näher und betrachtete die Details: die Gelenke der Schwingen, die präzisen Verbindungen, die das Flugobjekt trotz seiner grazilen Erscheinung robust wirken ließen.

„Schön, nicht wahr?“ sagte plötzlich eine Stimme hinter ihr. Eva drehte sich um und sah eine Frau in einem leichten Umhang, der in einem ähnlichen Muster wie der Gleiter gestaltet war. Ihr Gesicht war von Sommersprossen übersät und ihre hellen Augen funkelten, als sie bemerkte, wie Eva das Gerät studierte. „Ja, unglaublich“, erwiderte sie. „Er sieht fast lebendig aus. Ist das deiner?“ Die Frau nickte stolz. „Ich bin Airis. Der Gleiter ist mein eigenes Design. Inspiriert von Falken und Sturmschwalben. Sie sind die besten Flieger der Natur, findest du nicht? Warum also nicht von ihnen lernen?“ Eva ging um das Fluggerät herum und betrachtete die Flügelkonstruktion genauer. „Wie bewegt er sich? Es sieht aus, als könnten er mit den Schwingen schlagen.“

Ein Lächeln huschte über Airis‘ Gesicht. „Sehr gut beobachtet. Genau das ist das Besondere. Die Gelenke hier“ – sie zeigte auf den ausgeklügelten Mechanismus aus Metall und Holz – „ermöglichen es den Flügeln, sich an die Windströmungen anzupassen, fast wie echte Federn. Ich finde, man sollte nicht gegen den Wind kämpfen, sondern mit ihm tanzen.“ „Sehr beeindruckend“, lobte Eva. „Und du fliegst damit?“ „Natürlich! Die Luftströme hier auf der Windfeste sind perfekt für solche Experimente. Aber genug von mir. Du bist doch auch eine Pilotin – wo ist denn dein fliegender Untersatz?“ Eva lachte. „Liegt im Hafen. Ich – also wir – haben ein Schiff.“ „Bist du eine Touristin?“ Airis‘ Gesicht zeigte für einen kurzen Moment echte Bestürzung. „Nein“, beeilte sich Eva zu sagen. Die Frau atmete auf. „Na, ein Glück! Ich habe echt keine guten Erfahrungen mit Touristen gemacht, auch wenn sie unser Leben hier auf der Windfeste finanzieren. Sie wollen immer alles anfassen und ausprobieren und ständig muss die Hafenwehr jemanden aus der Luft fischen. Aber wenn du nicht auf Reisen bist, was machst du dann hier?“

Eva zögerte einen Moment, dann entschloss sie sich, die Frage zu stellen. „Meine Freunde und ich suchen etwas – einen Hinweis, der auf der Windfeste sein soll. Hast du eine Idee, wo man hier besonders alte Aufzeichnungen oder Artefakte aufbewahrt?“ Airis überlegte. „Hm, lass mal nachdenken … also der älteste Ort der Windfeste ist das Observatorium auf der Westbastion. Das lernt jedes Kind in der Schule. Dort könntet ihr es einmal versuchen. Aber was genau sucht ihr denn?“ „Das kann ich leider nicht sagen“, gab Eva zurück, denn Graubarts Warnung klang ihr immer noch in den Ohren. Airis lachte. „Oh, ihr seid also in geheimer Mission unterwegs! Dann drücke ich euch die Daumen. Wie gesagt, schaut mal im Observatorium vorbei. Es verirren sich kaum Besucher dorthin, weil es den meisten zu langweilig ist.“

Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, als Finn endlich am Treffpunkt auftauchte. Die beiden Mädchen hatten sich schon Sorgen gemacht, ihren Navigator verloren zu haben, als er aus einer Gasse getorkelt kam. „Du hast getrunken?“, fauchte Eva ihn an. „Vielleicht ein ganz kleines bisschen…?“, antwortete Finn mit einem leichten Lallen. Nora griff in seine Manteltasche und holte eine Flasche heraus. Sie entkorkte sie und ein kleiner grüner Blitz schoss heraus. „Sturmtropfen! Hast du sie noch alle?“, rief sie und stöpselte das Gebräu schnell wieder zu. „Das gibt den richtigen Kick – ein ordentliches Krachbummpeng zwischen den Ohren, sozusagen“, lachte Finn. Eva fixierte ihn mit gerunzelter Stirn. „Sag mal, warum bist du auf einmal so redselig?“

Finn schwankte, aber sein Lächeln war so breit wie die Windfeste selbst. „Weil das Leben …“, begann er und ließ eine ausladende Geste folgen, die ihn beinahe aus dem Gleichgewicht brachte, „so viel zu sagen hat, wenn man nur genau hinhört! Und ich habe doch schon so viel gelebt, durchlebt, erlebt und da hatte ich heute Abend einfach mal Lust auf Reden.“ „Wie bitte?“, unterbrach Eva scharf. „Mit wem hast du geredet? Was hast du gesagt?“ Er blinzelte sie verwirrt an, als hätte er die Frage nicht verstanden. „Was ich gesagt hab? Ach, nur ein bisschen… kleine Geschichten, große Geschichten… von Stürmen, von Karten, von–“

„Von unserer Mission?“, unterbrach sie ihn wieder, ihre Stimme eine Oktave höher. Sie packte ihn an den Schultern, während Nora einen Schritt zur Seite machte, um nicht versehentlich in die Schusslinie zu geraten. „Missiooon?“, wiederholte Finn gedehnt, als müsse er erst durch die Windungen seines betrunkenen Verstandes graben. Dann hellte sich sein Gesicht auf. „Ach, das! Neeein, so dumm bin doch nicht. Nur ein paar Andeutungen. Weißt du, ein bisschen Würze für die Geschichte. Zum Beispiel, dass es ein geheimnisvolles Artefakt gibt, das uns durch die Nebel leitet…“ „Finn!“ Eva war jetzt rot vor Zorn. „Sag mir bitte, dass du keinem Fremden von der Karte oder dem Orbis erzählt hast.“ Finn hob abwehrend die Hände. „Ach, keine Sorge. Nur ein paar Schmankerl für die Story. Ein paar Perlen für die Prosa. Glitzer für die Geschichte. Die Karte hab ich doch nicht mal erwähnt! Vielleicht… die Schachtel. Aber niemand hat gefragt, was drin ist. Und ich hab auch nicht gesagt, wo wir als Nächstes hinfliegen!“

Eva ließ ihn los und atmete tief durch, als versuche sie, nicht vor Wut zu explodieren. „Du bringst uns alle in Gefahr, wenn du nicht endlich lernst, deinen Mund zu halten.“ „Ach, Gefahr“, winkte Finn ab. „Gefahr ist doch nur ein Wort, das Leute benutzen, die keinen Spaß verstehen.“ „Da hast du Recht – ich habe gerade überhaupt keinen Spaß“, erwiderte Eva eisig. „Du bist mehr Ballast als Navigator, wenn du dich nicht zusammenreißt. Und Ballast wird über Bord geschmissen.“ Finn wirkte für einen Moment getroffen, doch dann setzte er zu einem frechen Grinsen an. „Aber du musst zugeben, dass ich ein sehr charmantes Gepäckstück bin.“

Nora, die das Gespräch bisher schweigend verfolgt hatte, verschränkte die Arme. „Eva hat recht. Es gibt Leute, die für das, was wir suchen, töten würden. Du hast keine Ahnung, wer alles lauscht, selbst hier auf der Windfeste. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass du dichthältst.“ Finn seufzte und hob die Hände. „Schon gut, schon gut. Ich halt die Klappe. Navigatorenehrenwort.“ „Das hoffe ich“, murmelte Eva und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Und jetzt beweg dich. Wir müssen weiter, bevor wir noch mehr Aufmerksamkeit auf uns ziehen.“

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