Als sie das Gotteshaus betreten wollten, fanden sie dieses verschlossen vor. Auf der Suche nach einem weiteren Eingang umrundeten sie das Gebäude und fanden dahinter einen kleinen Säulengang vor. Dort, wo sie Schatten auf den von Blumen gesäumten Pfad warfen, stand ein einzelner Mönch. Seine Kapuze war tief ins Gesicht gezogen und er schien in ein Gebet versunken zu sein. Eva trat zögerlich näher und begrüßte ihn, wie es auf den Wolkeninseln üblich war: Sie legte eine Hand auf ihre Armbanduhr und sagte: „Eine von diesen.“ Der Mönch hob den Kopf, nickte und vervollständigte: „Wird auch die Deine sein.“ „Sie gehören nicht zur Schweigenden Bruderschaft?“, fragte sie erstaunt, da er ihr mit Worten geantwortet hatte. „Noch nicht“, gab der andere zurück, „Ich bin Novize. Mein Gelübde steht noch bevor. Wie kann ich helfen?“ „Wir suchen nach einem Eingang in die Kapelle“, erklärte Eva, „aber sie ist verschlossen.“ „Was wollt ihr denn dort?“ „Wir …“ „Mein Ur-ur-urgroßvater liegt dort begraben“, sprang Nora ihr zur Seite. „Ich habe erst jüngst durch Ahnenforschung von ihm erfahren und wollte nun sein Grab besuchen.“ „Wenn das so ist“, sagte der Mönch, „dann kommt mal mit.“
Er führte sie zum Eingang und öffnete die Tür mit einem rostigen Schlüssel, den er an einem großen Schlüsselbund trug. Im Inneren der Kapelle war es kühl und der Geruch von altem Stein und Weihrauch hing in der Luft. Die Wände waren mit verblassten Fresken bedeckt und in der Mitte des Raumes stand ein altarartiger Tisch aus dunklem Holz, bedeckt mit abgebrannten Kerzen und vertrockneten Blumen.
„Ich lasse euch nun allein“, sagte der Mönch mit einem gezierten Nicken, „Möge die Ruhe des Ortes euch Frieden bringen. Gebt mir Bescheid, wenn ihr geht, dann kann ich wieder abschließen.“ Mit diesen Worten verschwand er durch die Tür und ließ die Gruppe in der Dämmerung der Kapelle zurück. Sobald er fort war, begannen Eva, Nora und Finn, den Raum abzusuchen, ihre Schritte hallten dumpf in der weiten, leeren Kapelle. Evas Blick glitt über die alten Gemälde und das schlichte Kreuz, das an der Wand hing, aber nichts davon schien in Verbindung mit dem Spruch zu stehen, den sie auf der Karte gelesen hatten.
„Leute, kommt mal her!“ Aus einer dunklen Ecke rief sie Nora zu sich. Als Finn und Eva zu ihr traten, zeigte sie stolz auf einen kleinen Türbogen, der in eine Wand eingemauert war: „Ich präsentiere: Ein Tor!“ „Was für ein Quatsch“, schnaubte Finn verächtlich, doch Eva stutzte. „Wartet mal“, sagte sie und fuhr mit der Hand über den Stein. Auf der linken Seite war ein Mond eingraviert, während auf der rechten Seite eine strahlende Sonne prangte. „Schau mal einer an“, murmelte Eva und trat näher, während sie mit dem Finger über die Gravuren strich. „Sonne und Mond. Zwei Gegensätze, die zusammengehören…“ „Die Sonne geht im Osten auf“, warf Nora ein, „das ergibt schon mal Sinn.“ „Es könnte auch die Entsprechung des Spruchs auf der Karte sein“, gab Eva zurück: „Der Tod ist das Tor zum Leben.“ Vor Aufregung färbten sich Noras Wangen rot. „Oh, so etwas liebe ich. Denkst du, wir müssen irgendeinen Mechanismus betätigen, um die Tür zu öffnen?“
„Ja“, sagte Finn trocken und öffnete sie ohne Umschweife, „und zwar den geheimnisvollen Mechanismus namens Türklinke.“ Nora konnte nichts erwidern, denn das, was da vor ihnen lag, verschlug ihr die Sprache. Eine schmale Treppe führte in ein ungewisses Dunkel. Ohne Umschweife griff Eva sich eine Kerze von einem nahen Regal und entzündete sie. „Los Leute, worauf warten wir?“ Finn tat es ihr gleich, doch Nora zögerte. „Ich möchte da eigentlich nicht runter“, sagte sie. „Hm“, antwortete Eva, „wenn du nicht willst, musst du nicht. Du kannst hierbleiben und aufpassen, dass niemand die Tür hinter uns abschließt.“
So machten sich Eva und Finn ohne ihre Freundin auf den Weg. Die Treppe war eng und steil, einige Teile waren von alten Spinnenweben überspannt und Eva, die voranging, spürte trotz ihrer Neugier ein unbehagliches Kribbeln, das ihr den Rücken herunterlief. „Gruselt es dich auch ein bisschen?“, fragte sie über die Schulter. „Nein“, kam die knappe Antwort zurück. „Und wieso nicht? Hier unten ist alles voller Gräber.“ „Die Toten sind tot. Vor den Lebenden muss man sich fürchten.“ Diese Aussage war nicht dazu angetan, ihr die Beklemmung zu nehmen, doch Eva versuchte, sich mit schönen Gedanken abzulenken – sie dachte ans Fliegen, an Graubart und seine gemütliche Küche, das Gefühl, in einer warmen Badewanne zu liegen und an ihre Eltern, deren Geheimnis sie nun immer näherkam – hoffentlich.
Die Treppe endete abrupt und vor ihnen tat sich ein Raum mit Säulen und einer flachen Decke auf. Hier und da waren Fackeln befestigt, die Eva mit ihrer Kerze entzündete – und die Fähigkeit, nun mehr sehen zu können, für einen kurzen Moment bereute. Die Wände waren in Knochen gekleidet: Schädel, Beine, Wirbel und Finger waren in nahezu künstlerischen Mustern angeordnet. An manchen Stellen waren Nischen eingelassen, die mit Steinplatten verschlossen waren. Auf einer war eine Gravur. „Das ist die Gruft der Fratres Caelestis“, erklärte er Eva, nachdem er sie gelesen hatte. „Ich weiß nur nicht, was wir jetzt tun sollen.“ „Lass uns mal überlegen“, beeilte sich Eva zu sagen. „Die Aufschrift auf der Karte hieß: ‚Der Tod ist das Tor zum Leben.‘ Vielleicht ist in einem der Gräber etwas verborgen.“ „Vermutlich noch mehr Knochen“, sagte Finn düster. „Komm, wir gehen die Inschriften durch“, munterte sie ihn auf, „irgendwie werden wir die Verbindung schon finden.“
Es gab sehr viele Nischen in der versteckten Grabkammer und da Finn der deutlich bessere Übersetzer war, brauchten sie eine gute halbe Stunde, um die gemeißelten Worte alle zusammenzutragen. Es waren vor allem Namen vergangener Abte und Hohepriester, denen ein besonderes Begräbnis zugestanden hatte. Eva wollte schon die Hoffnung aufgeben, da rief Finn sie zu sich. Er wies auf eine der Platten. „Lucius Stellaris“, las Eva. „Und? Ein weiterer toter Priester. Was bringt uns das?“ „Nicht irgendein Priester“, gab Finn zurück. „Oben auf dem Tor waren Sonne und Mond zu sehen – und was fehlt da?“ „Die Sterne“, antwortete Eva ohne Umschweife. „Lucius Stellaris – Licht der Sterne“, erklärte Finn. „Offensichtlicher geht’s ja wohl nicht.“ Evas Herz klopfte vor Aufregung, als sie vorsichtig gegen die Steinplatte drückte. Sie knirschte, doch dann gab sie nach. Finn leuchtete hinein und beide atmeten auf. Ein Skelett war nicht darin, nur eine Flasche mit einem eingerollten Pergament.
Als sie wieder oben bei Nora waren – sie hatten sich beeilt, den schaurigen Ort so schnell es ging wieder zu verlassen – legte Eva den schmalen Pergamentbogen neben ihre Karte. Er schien eine Ergänzung zu sein, denn eine der goldenen Linien, die über den Rand hinausging und von der sie vermutet hatten, dass sich hier nur der Kartenzeichner künstlerisch ausgetobt hatte, wurde nun weitergeführt. „Das ist doch die Windfeste,“ sagte Nora und tippte mit dem Finger auf den Endpunkt der goldenen Linie.