Von allen Wolkeninseln ist keine so erhaben wie Himmelsruh. Ein jeder kennt sie, doch nur wenige sprechen ihren Namen aus, als würde man durch die Nennung des Namens den Todes selbst heraufbeschwören. Dieses schweigsame Eiland dient der gesamten Wolkenbevölkerung als letzte Ruhestätte. Keine andere Insel ist so durchdrungen von Andacht, Erinnerung und dem bittersüßen Gefühl der Vergänglichkeit.
Himmelsruh ist ein Ort der Kontraste. Auf den Gräberfeldern, die von den Einheimischen beschönigend „Schwebende Gärten“ genannt werden, wiegen sich wilde Blumen im Wind. Dunkle, moosbewachsene Beinhäuser und monumentale Grabmäler ragen wie stumme Mahnmale empor, während in der Nähe des Hafens das Leben pulsiert, denn dort gibt es unzählige Gasthäuser und Tavernen, die Trauergesellschaften zum Leichenschmaus bewirten. Unter der Oberfläche dann die Katakomben: Weite Tunnel und unterirdische Krypten durchlöchern den Boden wie ein riesiger Kaninchenbau. Einmal hatte ich das Glück, von einem Priester, mit dem ich zuvor eine Flasche Mondschimmerwein geleert hatte, in die oberen Grabkammern eingelassen zu werden. Du kannst dir mein Staunen vorstellen, lieber Leser, als ich hinter dem Nadelöhr – den größer war das Erdloch nicht, in das wir herabstiegen – eine schwindelerregend große Höhle vorfand! Meterhohe Säulen stützten die Decke ab und die Wände waren verkleidet mit Schädeln und Knochen. Schnell verließ ich den grausigen Ort wieder, aber die dumpfe Luft und das beklemmende Gefühl haben sich auf immer in meine Seele eingebrannt.
Die Fratres Caelestis, die schweigende Bruderschaft, wacht über diesen Ort. Kein Wort wird gesprochen, kein Blick trifft den eines anderen, die Kapuzen ihrer schlichten grauen Kutten tief ins Gesicht gezogen. Stattdessen sprechen ihre Hände in einer uralten Gebärdensprache, für die ein Reisender auf Himmelsruh einen Dolmetscher benötigt. Die Brüder führt alle Begräbnisse aus, unabhängig von Glaube, Herkunft oder Stand, und folgt dabei den überlieferten Riten. Zeremonien auf Himmelsruh beginnen oft mit einer Prozession über den Pfad der Sterne, eine lange Allee, die von unzähligen Laternen gesäumt ist. Manche Verstorbene werden in prächtigen Katakomben beigesetzt, wo ihre Namen in gemeißelten Tafeln verewigt sind. Andere werden den Ruhewäldern übergeben, wo ihre Asche unter den Wurzeln eines jungen Baumes vergraben wird, um so neues Leben zu nähren. Besonders eindrucksvoll ist ein Ritual, das den Geist eines Verstorbenen in die Lüfte entlassen soll. Die Fratres Caelestis entzünden dabei eine Schale aus goldenem Metall, in der die Asche gemeinsam mit speziellen Kräutern und Harzen in einem sehr heißen Feuer verbrennt. Der aufsteigende Rauch soll den Geist aufnehmen und ihn auf seinem Weg in die Ewigkeit geleiten.
Lieber Leser, dir wird nun klar: Himmelsruh ist mehr als eine Ruhestätte. Es ist ein Ort, an dem die Lebenden einen Moment verweilen können, wo sie Trost finden in der Gewissheit, dass jene, die diese Welt verlassen haben, geborgen sind – der ihnen aber gleichzeitig auf Dauer nichts zu bieten hat, weil er ganz den Toten gehört. Und an diesen Ort verschlug es nun Eva und ihre Gefährten.
Eva fröstelte, als sie den schmalen Steg hinunterging und die Luft der Friedhofsinsel einatmete. Himmelsruh roch nach feuchter Erde, altem Stein und einem Hauch von Räucherwerk. Der Hafen war jedoch alles andere als ein Ort der Stille. Boote unterschiedlichster Größen lagen an den hölzernen Anlegestellen vertäut, während dunkel gekleidete Menschen geschäftig hin und her eilten. Große Wimpel mit den Symbolen verschiedener Glaubensgemeinschaften wehten in der leichten Brise, die den Duft von Weihrauch und deftigem Essen gleichermaßen trug.
Die Luft war erfüllt von gedämpften Stimmen, das Klappern von Hufeisen auf dem Pflaster und dem leisen Klingeln von Glocken, die die Ankunft neuer Gäste begleiteten. Kinder liefen umher und trugen Blumengebinde, während Erwachsene sich mit wichtiger Mine die Hände schüttelten und sich unter den Baldachinen der Hafenschenken versammelten. Ein kleiner Marktplatz direkt am Kai bot alles, was man für eine Beisetzung oder einen Leichenschmaus brauchte: Kränze, Gestecke, aromatische Öle, filigrane Gedenkamulette. Mehrere Steinmetze boten ihre Arbeiten an und übertrumpften sich in der Darstellung ihres Handwerks. „Das soll die Friedhofsinsel sein?“, fragte Nora mit einem Grinsen, als sie sich zu Eva gesellte. „Für mich ist sie eher die ‚Basarinsel‘.“
Über ihnen ragten die schiefergedeckten Türme der großen Basilika empor, als Eva, Nora und Finn in Richtung der Schwebenden Gärten aufbrachen. Das Leben in den Straßen wurde rasch weniger und Leichenhäuser, kleine Kapellen und Familiengrüfte lösten die Restaurants, Pensionen und Handwerksbetriebe ab. Schließlich passierten sie ein großes metallenes Tor und betraten das größte Gräberfeld der Insel. Vor ihnen lag ein Mosaik aus Stein, Blumen und Gras. Überall ragten Grabmahle empor – manche aus hellem Marmor, neu und makellos, andere aus dunklem, verwittertem Granit, überwuchert von Moos und Flechten. Dazwischen blühten Wildblumen in bunten Farben: zarte Glockenblumen, goldgelbe Butterblumen und violetter Thymian, dessen Duft sich mit dem der Kräuter und Sträucher mischte, die hier und da aus dem Boden sprossen. Der Summen von Bienen und das Zwitschern der Vögel erfüllten die Luft, während Schmetterlinge wie kleine Farbkleckse zwischen den Gräbern tanzten. Ein zarter Nebel schwebte über dem Boden und das goldene Licht der tiefstehenden Abendsonne bemalte die dunklen Wipfel des Friedwalds, dessen Rauschen wie ein leises Flüstern über die Ebene zu ihnen wehte. In der Mitte des Feldes stand eine einsame Kapelle mit einem spitz zulaufenden Turm.
„Was genau suchen wir hier?“ fragte Nora, während sie skeptisch im Vorbeigehen eine verwitterte Steintafel musterte, deren Inschrift halb von Flechten überwuchert waren. Eva schaute sich um, doch sie waren außer Hörweite. Dann zog sie die Karte hervor und entrollte sie behutsam. „Irgendwo auf dieser Insel muss ein weiterer Hinweis verborgen sein.“ „Glaubt ihr, wir sollten die Fratres Caelestis um Hilfe bitten?“, überlegte Nora. Finn hob eine Augenbraue. „Die schweigenden Mönche? Da können wir genauso gut den Wind fragen. Außerdem bräuchten wir einen Dolmetscher.“ „Hey, wir könnten doch dieses Orbis Dingsda ausprobieren!“, warf Nora ein. Ihrem Vorschlag folgend, holte Finn das Werkzeug aus der Tasche und legte es auf die Karte. Die Metallringe begannen, sich ineinander zu verschieben und nun brachen sich die Strahlen der Abendsonne in der Linse. Ein goldener Strahl schoss über das Blatt und zeigte unmissverständlich auf die Kapelle. „Schaut mal“, rief Eva und zeigte auf die Karte, „Hier sind Buchstaben! Nora, deine Lupe!“ Nora kramte das Vergrößerungsglas hervor und gemeinsam entzifferten sie: „Mors janua vitae.“ Hilfesuchend blickten sie zu Finn. „Der Tod ist das Tor zum Leben“, übersetzte der Navigator. „Was soll das denn schon wieder heißen?“, entrüstete sich Nora, „Die hätten es uns aber auch mal ein bisschen einfacher machen können.“ „Los“, sagte Eva, „schauen wir erstmal, was dort in der Kapelle ist.“