10. Dezember | Flucht im Nebel

Die Welt war Grau. Dichter Nebel umhüllte die Rex Ventorum, verschluckte die Horizontlinie und dämpfte jedes Geräusch. Das Schiff schien wie in Watte gepackt. Eva hatte völlig die Orientierung verloren, wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Um sich nichts anmerken zu lassen, hielt sie das Steuer fest umklammert. Nur ein guter Beobachter hätte ihre Fingerknöchel bemerkt, die vor Anstrengung weiß hervortraten. Ihre Augen suchten fieberhaft das milchige Nichts nach einem Punkt, an dem sie sich festhalten konnten. Finn stand neben ihr. Der Navigator machte einen ruhigen Eindruck, aber auch seine Kiefermuskeln waren angespannt. Er hielt seinen Sphärenkompass in den Händen und drehte ihn, ohne dabei hinzusehen. „Nordnordwest, zwei Grad Steilflug“, murmelte er und Eva korrigierte ihren Kurs.

„Ich mag das nicht“, ertönte Noras zaghafte Stimme von ihrem Platz am Kartenpult. „Dieser Nebel fühlt sich irgendwie … falsch an.“ „Ach was!“ Eva schüttelte den Kopf, als wollte sie die Sorge abschütteln, aber natürlich hatte ihre Freundin recht. Sie konnten gerade mal bis zur Bugspitze sehen und ihre Sicherheit lag völlig in den Händen des Navigators. Hoffentlich steuerte er sie nicht mitten in die Blutbucht hinein. Nora schien ihre Gedanken zu lesen. „Hier könnten überall Piraten lauern!“ „Jetzt hör aber mal auf! Hier sind doch keine Piraten!“

Kaum hatte Eva die Worte ausgesprochen, ertönte ein dumpfer Knall in der Ferne, gefolgt von einem Geräusch, das an das Kreischen einer Harpune erinnerte. Nora kreischte und hielt sich am Türrahmen fest. „Sagt mir, dass das nur Donner war“, stotterte sie. „Nein“, sagte Finn tonlos, ohne aufzusehen. „Das war kein Donner. Das war eine Warnung.“ „Eine Warnung? Vor was?“ fragte Nora, ihre Stimme nun deutlich lauter. 

Die Antwort kam in Form eines zweiten Knalls, diesmal viel näher. Ein Schatten löste sich aus dem Nebel und glitt auf sie zu. Es war ein riesiger Dreimaster, schwarz gestrichen, mit zerrissenen Segeln und einem Bug, der spitz wie ein Dorn nach vorn ragte. Am höchsten Mast wehte unmissverständlich die schwarze Flagge. „Verdammt – Piraten!“, zischte Eva und packte das Steuer. Da drang ein schrilles Lachen durch die Nebelwand, gefolgt von einer hohen, schneidenden Stimme: „Ergebt euch, Freunde und die Schwarze Mara lässt euch leben!“

Eva zögerte nicht lange. „An eure Posten!“, rief sie ihren Freunden zu. Während Finn ihrem Befehl sofort Folge leistete, stand Nora wie eingefroren. „Nora! Die Segel anschlagen!“ Das Schreien ihrer Freundin weckte das Mädchen endlich aus ihrer Starre. Sie sprintete zu den Tauen und bald strahlte das leuchtende Segeltuch von Rex Ventorum durch den Dunst und das Schiff nahm an Fahrt auf. Eva hielt das Steuer fest umklammert, ihre Augen huschten von ihrem Kommandopult zu den trügerischen Schatten, die um sie herumtanzten. „Finn! Wie weiter?“ rief sie über den heulenden Wind hinweg.

„Drei Grad Süd!“ Der Navigator stand an der Reling, das kleine Fernglas im Auge und versuchte gleichzeitig, vor sich den eigenen Weg und hinter sich die Silhouette des feindlichen Schiffes auszumachen. Plötzlich brach ein donnerndes Krachen durch die Stille – ein Schuss, weit entfernt, aber nah genug, um die Frage eindeutig zu beantworten, ob die Piraten ihnen noch auf den Fersen waren. „Da drüben!“ Nora deutete in eine Richtung, wo ein dunkler Umriss durch den Nebel glitt. Ihr Luftschiff, größer und schwerer als die Rex, pflügte mühelos durch den Nebel, als würde es den Dunst selbst zerschneiden.

„Wir müssen sie abhängen!“ Eva riss das Steuer herum und das Schiff kippte gefährlich zur Seite, als es in eine engere Nebelschneise eintauchte. Die Sicht war minimal. „Rechts voraus ist eine tiefe Nebelsenke!“ warnte Finn. „Wenn wir zu schnell sind, kommen wir nie wieder raus.“ „Und wenn wir zu langsam sind, erwischen sie uns“, fauchte Nora, während sie hektisch an einem Seil zog, um die Segel neu auszurichten.

Das Piratenschiff war jetzt gefährlich nah. Sein hölzerner Rumpf zeichnete sich als drohender Schatten ab und ein weiterer Schuss krachte durch den Nebel. Dieses Mal war er viel näher, und eine Kugel streifte die Steuerbordseite der Rex Ventorum, sodass Splitter in alle Richtungen flogen. „Die Piraten wollen sicher nur unsere Fracht!“ rief Finn. „Sie werden es nicht riskieren, uns vom Himmel zu schießen!“ „Das tröstet mich wenig“, murmelte Eva, die Zähne zusammengebissen, während sie das Schiff in eine scharfen Kurve lenkte. Und dann sah sie sie – eine Nebelbank, so dicht, dass sie fast wie eine Wand wirkte. „Da rein!“, rief sie, ohne auf Einsprüche zu warten.

Die Rex Ventorum tauchte ein und die Welt wurde noch grauer, noch undurchsichtiger. Jeder Atemzug war voller Dunst und die Luft fühlte sich an, als könne man sie kauen. „Festhalten!“, rief Eva und gerade so konnten ihre Freunde ihrem Kommando Folge leisten, denn sie riss das Steuer nach unten. Rex‘ Nase stand fast senkrecht und lose Gegenstände flogen wie Geschosse durch das Steuerhaus. Aber Eva hielt den Atem an und das Steuer gerade. Sekunden fühlten sich wie Stunden an, während sie in ein schier endloses Nichts nach unten rasten. Mit aller Kraft drehte Eva das Schiff wieder in die Horizontale und wagte es, wieder zu atmen. Klappernd fiel das, was durch die Schwerkraft eben noch an den Wänden geklebt hatte, zu Boden. Alle drei horchten angestrengt, aber nichts war zu hören. Kein Schuss, kein Motorengeräusch. Stille. SIe lauschten, und für einen Moment war da nichts außer dem leisen Knarren der Balken und dem unregelmäßigen Piepen der Instrumente.

„Sie haben uns verloren“, flüsterte Finn schließlich und Evas Hände zitterten, als sie das Steuer losließ. Nora sank auf den Boden und begann nervös zu lachen. „Das war verdammt knapp.“ „Zu knapp“, murmelte Eva. Wie viele Risiken mussten sie wohl noch eingehen, um das Ziel der Karte zu erreichen? Doch für den Moment war der Nebel ihr Verbündeter und die „Schwarze Mara“ weit entfernt – zumindest fürs Erste.

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