Das Archiv war ein gewaltiges Gewölbe, dessen Ausmaße den Gästen den Atem verschlugen. Über drei Etagen, zu denen dünne Holzleitern führten, stapelten sich Bücher, Pergamentrollen und Schachteln in Regalen, die bis unter die Decke reichten. Das schwache Licht von Öllampen ließ den Staub in der Luft tanzen. „Beeindruckend, nicht wahr?“ Falstaff klopfte stolz auf seinen gewaltigen Bauch, als sei das Archiv wie dieser das Ergebnis eigener langjähriger Bemühungen. „Hier liegt das gesammelte Wissen der Sturminseln – und darüber hinaus.“ „Ist das Archiv für die Öffentlichkeit zugänglich?“, fragte Nora. Falstaff lachte dröhnend. „Was denkst du denn? Ich verwalte die Burg in Abwesenheit ihrer Eigentümer. Diese Entscheidung müssen sie treffen.“ „Aber …“, begann Nora, „die Sturmritter sind doch…“ Finn stieß sie in die Seite und sie verstummte. Der Kastellan hatte glücklicherweise nicht mehr zugehört, sondern schritt bereits weiter durch die Gänge, wobei er mit seinen speckigen Armen gestikulierend mal hierhin, mal dorthin wies und seinen Gästen die Besonderheiten der Örtlichkeit aufzeigte. Hier die Stammbäume der Sturmritter – „Die Ausgabe umfasst zwanzig Bände! Zwanzig!“ – dort die Donnerchroniken: „Vom schwachen Brummler über den stabilen Dröhner bis zum starken Knaller ist darin jeder bedeutende Donnerschlag, der über der Gewitterbrücke ertönte, akribisch dokumentiert.“
„Er lebt in der Hoffnung, dass die Sturmritter einen Erben hinterlassen haben“, flüsterte Finn. „Aber das Ende dieser Linie sehen die Historiker der Nimbusheimer Universität doch mittlerweile als gesichert an?“, setzte Nora nach. Finn zuckte mit den Achseln. „Auch das würde ich ebenfalls nicht ansprechen.“
„Ach, da ist sie ja!“, hörten sie den Kastellan röhren. Triumphierend hielt er eine kleine Holzschachtel hoch, die in einem Bücherregal gestanden hatte. „Ich habe erst kürzlich meine jährliche Bestandsaufnahme hier im Archiv gemacht“, erklärte Falstaff, während er die Kiste auf ein kleines Tischchen in den Schein einer Lampe stellte. „Dabei ist sie mir in die Hände gefallen. Gut, dass ich mich noch daran erinnert habe.“
„Schaut!“, rief Eva und deutete mit einem Finger auf das filigrane Muster, das die Oberfläche zierte. Sie schlug die Karte auf und hielt sie daneben. Das Muster entsprach genau dem auf der Rückseite und ihrem Strumpf. „Das ist es!“ rief sie aus. „Exakt“, sagte Falstaff und verschränkte die Arme. „Doch ein Problem bleibt: Diese Schachtel hat keinen Schlüssel. Kein Riegel, kein Schloss. Sie ist ein Rätsel – wie so vieles hier.“ Nora beugte sich über die Inschrift, die in die Seite der Schachtel geritzt war. „Ein Stück des Sturms bleibt bei dir“, murmelte sie.
Ehe Eva wusste, wie ihr geschah, fühlte sie ein seltsames Kribbeln in ihren Fingern. Sie hob die Hände, zögerte einen Moment – und legte sie dann auf die Schachtel. Ein leises Zischen erklang, als kleine blaue Blitze aus ihren Handflächen in das Holz schlugen. Falstaff wich einen Schritt zurück, seine Augen geweitet, während die anderen beiden wie gebannt zusahen. Die Luft roch plötzlich nach Ozon. Mit einem lauten Klicken sprang die Schachtel auf.
„Das war das Gewitter!“, rief Nora begeistert, „Es hat uns aufgeladen!“ Sie hielt nun ihre Hände in die Nähe der Schachtel und wieder zuckten kleine Blitze zwischen den Rändern und ihren Fingern hin und her wie ein elektrisches Spinnennetz. Der Kastellan machte große Augen. „Ihr seid doch nicht mitten durch die Sturmzonen hergeflogen?“ Als Eva nickte, blieb sein Mund kurz offen stehen, dann griff er sich an den Kopf. „Natürlich! Und ihr seid vermutlich nicht in einem Sturmboot hergekommen? Wenn die Oberfläche eures Schiffes die Elektrizität nicht abschirmt, könntet ihr nach der Überfahrt noch tagelang eine Batterie mit euren bloßen Händen laden.“ „Ach, das war mit der Aufschrift gemeint – ein Stück des Sturms haben wir mitgebracht!“, stieß Eva aus. Sie griff nach dem Deckel der Schachtel und öffnete sie vorsichtig.
Auf dunkelblauen Samt gebettet, befand sich darin eine Konstruktion aus fein gearbeiteten, konzentrischen Ringen. Jeder von ihnen war graviert und trug filigrane Sternbilder, kryptische Symbole und kleine Markierungen, die wie Koordinaten wirkten. Die Ringe bestanden aus verschiedenen Metallen – glänzendes Silber, dunkles Eisen und schimmerndes Kupfer – die ein faszinierendes Farbspiel erzeugten. In der Mitte befand sich eine Linse aus geschliffenem Kristall, die das Licht der Laterne in alle Richtungen streute.
„Das ist… wunderschön,“ flüsterte Nora und streckte die Hand aus, zog sie aber schnell wieder zurück, als ob sie befürchtete, das Objekt könnte zerbrechen. Finn trat näher und seine Augen weiteten sich. „Ich hätte nie gedacht, dass ich eines davon jemals mit eigenen Augen sehen würde“, sagte er voller Ehrfurcht. „Das ist ein Orbis Arcanum.“ „Ein Orbis… was?“ fragte Eva, ihre Stirn in Falten gelegt. „Ein uraltes Werkzeug, das Navigatoren und Astronomen vor langer Zeit verwendet haben. Es ist in der Lage, mehrdimensionale Positionen zu berechnen und zu projizieren– nicht nur geographische, sondern auch magnetische und astrale. Lange war es unverzichtbar für Reisen, verlor dann aber an Bedeutung, als die modernen Sphärenkompasse entwickelt wurden und der Großteil der Wolkeninseln entdeckt war.“ Nora lachte: „Wir haben also ein veraltetes Navigationsgerät gefunden – Glückwunsch an uns!“
Tharion Falstaff hatte geschwiegen, doch als er sprach, bemerkten sie das Leuchten in seinen Augen. „Mitnichten! Ein Orbis Arcanum ist ein Meisterwerk der Ingenieurskunst – auch heute noch.“ „Und wie funktioniert es?“ fragte Eva. Ihre Finger zitterten leicht, als sie das Gerät heraushob. Ein Regenbogen aus Licht fiel durch den Kristall auf den Boden.
Finn nahm es ihr vorsichtig aus der Hand. „Die Ringe müssen in einer bestimmten Konfiguration ausgerichtet werden, die vom Stand der Sonne, den Sternbildern und unserer Position im Raum abhängt. Das Orbis ist eine Art Schlüssel, der verborgene Informationen aus der Umgebung übersetzt.“ Behutsam legte er das Werkzeug auf die Karte und drehte die mittlere Linse. Das Licht der Laterne brach sich in einem Muster, das plötzlich auf die Karte projiziert wurde. Linien und Punkte erschienen, die zuvor nicht sichtbar gewesen waren. „Das ist Magie,“ flüsterte Nora, doch Finn schüttelte den Kopf. „Wissenschaft – aber für das Ergebnis macht das keinen Unterschied.“
„Kannst du damit ermitteln, wohin wir als Nächstes segeln müssen?“ Evas Herz klopfte vor Aufregung. Der Navigator richtete das Gerät so aus, dass Sturmwacht nun im Zentrum der Linse lag. Durch den Lichteinfall wurden plötzlich Linien sichtbar, welche die gedruckten goldenen hier verstärkten, da durchkreuzten: Es entstand eine geheime Karte in der Karte. „Unser nächstes Ziel“, murmelte Finn konzentriert, während er mit dem Finger am stärksten goldenen Strahl entlangfuhr, „ist – Himmelsruh.“ „Die Friedhofsinsel?“ Noras Stimme klang besorgt. „Nicht gerade ein schönes Ziel.“ Falstaff richtete sich auf. „Nun, meine Freunde, es sieht aus, als hättet ihr für eure Reise gerade einen neuen Begleiter gefunden. Möge das Orbis Arcanum euch dorthin führen, wohin auch immer diese Karte euch weist – hoffentlich nicht ins Verderben.“
Der Kastellan hatte ihnen so viel Reiseproviant mitgegeben, dass sie Mühe hatten, alles zum Schiff zu transportieren. Ein stärkerer Regen fiel und auch der Wind hatte wieder an Fahrt aufgenommen, sodass sie, nachdem sie alles verstaut hatten, zu dritt Schutz im Steuerhaus suchten. „Der Weg nach Himmelsruh ist glücklicherweise relativ geradlinig eingezeichnet“, erklärte Finn, Karte und Orbis in der Hand. „Es gibt nur ein Problem.“ „Was für ein Problem?“, hakte Eva nach. „Dass man dir aber auch alles aus der Nase ziehen muss!“ Der Navigator überhörte ihren Vorwurf und wies auf einen unbenannte Flecken auf der Karte. „Das hier war lange eine unbewohnte Insel. Heute kennt jeder ihren Namen: Blutbucht.“ „Die Pirateninsel? Ach du liebe Zeit.“ Aus Noras Gesicht war alle Farbe gewichen.
Die Blutbucht – was für ein Name, lieber Leser! Schon der Klang beschwört Bilder von rauen Klippen, peitschenden Wellen und einer Geschichte herauf, die ebenso dunkel wie faszinierend ist. Einst war diese Insel nichts weiter als ein unbarmherziger Fels im Sturm, ein Ort, den selbst die Möwen mieden. Keine Vegetation, keine frischen Wasserquellen – nur karge Steinwände und das stetige Heulen des Windes. Doch wo es keine Zivilisation gibt, setzt sich für gewöhnlich das Gesetz des Stärkeren durch.
Es waren die Luftpiraten, die die Blutbucht zu ihrer Heimat machten. Ein wagemutiger und ungezähmter Haufen Gesetzloser, der aus dem Unmöglichen Möglichkeiten schuf. Die steilen Klippen und versteckten Buchten bieten ideale Verstecke für ihre Luftschiffe, während die Piraten selbst die Höhlen zu einem Labyrinth aus Schmugglerlagern, Werkstätten und Wohnquartieren ausgebaut haben. Über dem höchsten Gipfel der Insel weht stolz die schwarze Flagge. Ihre Flotten bestehen aus waghalsig konstruierten Luftschiffen, schwarz lackiert, pfeilschnell und mit Kanonen und Enterhaken ausgerüstet – bereit, jedes Handelsschiff zwischen Hochsaat und Flugfels zu überfallen. Hochsaat, die strahlende Kornkammer, ist das krasse Gegenteil ihrer Heimat. Es bietet alles, was der niemals satte Bauch der Wolkeninseln begehrt: endlose Felder von goldenem Getreide, saftige Obsthaine und kristallklare Quellen. Für die Piraten ist es wie ein gedeckter Tisch, von dem sie sich nach Belieben nehmen – sehr zum Leidwesen der Landwirte, die immer wieder auf Schutz durch ihre Luftwache oder private Söldner angewiesen sind. Und dann ist da noch Flugfels, wo der Handel der Wolkeninseln besonders floriert. Mit seinem riesigen Marktplatz, der selbst Nimbusheim in den Schatten stellt, ist es das Ziel für Kaufleute und Abenteurer aus allen Himmelsrichtungen. Hier werden Schätze gehandelt – seltene Gewürze, mechanische Geräte, feinste Stoffe – und natürlich die geraubten Waren aus Hochsaat. Für die Piraten der Blutbucht ist die freie Stadt der Ort, an dem sie ihre Beute zu Barem machen, ihre Schiffe aufrüsten und in den zwielichtigen Tavernen ihre Erfolge feiern können.
Dass unsere Abenteurer nun an diesem Hornissennest vorbeisegeln sollten, versetzt unsere sonst so optimistische Erfinderin zurecht in Angst und Schrecken. Auch ich bin in der Nähe einer anderen Pirateninsel nur knapp deren Patrouillen entkommen. Aber genug geredet! Lieber Leser, sicherlich platzt du bereits vor Spannung, wie der Crew die Überfahrt nach Himmelsruh gelingt.