8. Dezember | Der Kastellan von Sturmwacht

Zuerst sah man nur die oberen Spitzen der Türme, doch je näher sie kamen, umso deutlicher trat die Burg aus dem Nebel hervor. Majestätisch erhob sie sich auf ihrem Felsplateau, trotz des tobenden Wetters ein Bild unerschütterlicher Stärke. Blitze tanzten wie Zierstreifen um die Zinnen und das Grollen des Donners hallte von den Mauern wider. Die steinerne Brücke zur Zwillingsinsel Donnerhall, die im Nebel verborgen lag, bot bereits aus der Entfernung einen unmöglichen Anblick, so massiv, wie sie in der Luft hing und die Weite zwischen den beiden Wolkeninseln überspannte.

Nora und Eva betrachteten ehrfürchtig das Schauspiel, das vor ihnen lag, während Finn nun endlich zu ihnen ins Steuerhaus trat. Seine Haare tropften und er schüttelte das Wasser von seinem Mantel. „Der Landeplatz befindet sich im Nordwesten der Burg“, erklärte er. Eva klopfte ihm auf die Schulter. „Danke“, sagte sie, „ohne dich hätten wir den Weg niemals gefunden.“ „Ja“, sagte er gewohnt knapp und Nora fing an zu lachen. „Du bist echt von dir überzeugt, oder?“ Finn zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Naja, das ist meine Arbeit. Ich wäre ein schlechter Navigator für Sturmzonen, wenn ihr das auch könntet.“ „Schaut mal“, unterbrach Eva die beiden, „da vorn ist die Anlegestelle.“

Mit einem Knirschen legte Rex Venturum am steinernen Kai von Sturmwacht an. Das Schiffsdeck war rutschig vom Regen und die Taue glitten in Evas Händen, als sie sie über die eisernen Poller warf. Nora, die vor dem Anlegen schnell ihre völlig durchnässte Kleidung gewechselt hatte, bemühte sich nun, das Segeltuch ordentlich zu sichern, während Finn mit stoischer Ruhe die Laufplanke ausrichtete. In diesem Teil der Insel wehte der Wind nicht so stark, sodass Dunst schwer über dem Hafen hing. In der Ferne grollte der Donner und immer wieder zuckte ein Wetterleuchten über den Himmel.

„Hier scheint niemand zu sein“, murmelte Nora, als sie sich umsah. Die massiven Steinbauten und Lagerhäuser, die sich vom Kai aus nach oben hin erstreckten, wirkten wie von der Zeit vergessen. Doch plötzlich gesellte sich zu den Klängen des Sturms ein weiteres Geräusch – ein regelmäßiges Klopfen. Eva kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, denn da trat aus dem Nebel eine Gestalt hervor. Zuerst sah man nur einen Schatten, dann wurden die Konturen eines dünnen Männchens sichtbar. Sein langer grauer Mantel flatterte im Wind und ein gebogener Hut saß schief auf seinem Kopf. In der einen Hand hielt er eine Laterne, deren gelbes Licht vor ihm hin- und herschaukelte, in der anderen einen knorrigen Gehstock, die bei jedem seiner Schritte auf die Steine klopfte.

„Das ist wohl der Hafenmeister“, flüsterte Eva. Finn nickte nur knapp. Der Mann blieb etwa fünf Schritte entfernt stehen und musterte sie durch zusammengekniffene Augen, die unter buschigen Brauen hervorsahen. Als er sprach, war seine Stimme unerwartet kräftig. „Heil euch, Fremde. Welches Anliegen führt euch nach Sturmwacht?“ „Heil dir, Meister“ begann Finn mit einer leichten Verbeugung, wobei er die Hand an die Brust legte – die übliche Begrüßung auf dieser Insel. „Wir kommen mit dem Wunsch, die Burg zu betreten. Unser Anliegen ist ehrenhaft.“

Der Hafenmeister zog eine Augenbraue hoch. „Ehrenhaft? Jeder weiß, die Burg steht nicht für Besucher offen, Navigator.“ Er ließ seinen Blick über das Luftschiff schweifen, dann über dessen Besatzung. An die Mädchen gewandt sagte er: „Und warum tragt ihr keine Farben? Wer seid ihr?“ Eva wechselte einen Blick mit Finn, bevor sie einen Schritt nach vorn trat. „Wir gehören keiner Gilde an, wir sind Reisende. Wir sind gekommen, um mit dem Kastellan zu sprechen.“ „Erwartet euch Kastellan Falstaff?“ „Nei-“, begann Finn, doch Eva unterbrach ihn schnell: „Ja, wir haben unser Kommen angekündigt. Bitte bringt uns zu ihm.“

Der Hafenmeister betrachtete sie misstrauisch. „Es ist sehr unüblich“, sagte er dann. „Bitte lassen Sie uns nicht länger warten“, schob Eva hinterher, obwohl ihr Herz klopfte, „Wie Ihr ja wisst, kann er sehr ungehalten werden.“ Der Hafenmeister verzog sein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Dann drehte er sich wortlos um und begann mit seinem klopfenden Stock zurück in den Nebel zu gehen. Die drei sahen einander an. „Er erwartet uns?“, fauchte Nora. „Dreistigkeit siegt“, flüsterte Eva zurück, „Los, kommt.“ Dann machten sie sich auf, dem seltsamen Mann zu folgen.

Anders als bei den meisten Burgen drückte sich um die Mauern von Sturmwacht kein kleines Dörfchen. Hinter dem Hafen führte eine gepflasterte Straße in steilen Serpentinen hinauf zu einem mächtigen Tor. Je höher sie kamen, umso stärker blies der Wind und Eva schlug den Kragen ihrer Jacke hoch, denn in den Nieselregen hatten sich kleine Hagelkörner gemischt. An der Pforte angekommen, klopfte der Hafenmeister mit seinem Stock gegen das schwarz lackierte Holz. Ein winziges Fenster öffnete sich und ein misstrauisch dreinblickendes Augenpaar schaute hinaus. „Wer begehrt Einlass?“

„Heil dir, Torwächterin“, begrüßte ihn der Hafenmeister kurz angebunden und vollführte lustlos die halbe Verbeugung, „Ich bringe Gäste des Kastellans.“ „Gäste?“ Die Stimme hinter der Tür klang so fragend, dass Eva das Herz in die Hose rutschte. Doch dann hörten sie, wie ein mächtiger Riegel zurückgeschoben wurde und das Tor wurde mit einem Knarren geöffnet. Es stand noch nicht ganz offen, da drehte sich der Hafenmeister bereits auf dem Absatz um und verschwand auf dem Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Bald hatte der Nebel das Klicken seines Stockes auf dem Pflaster verschluckt.

Die Torwächterin entpuppte sich als hoch gewachsene, muskulöse Frau in einem Kettenpanzer, deren Hellebarde bedrohlich im Licht der Fackeln funkelte. Auf dem Weg über den Burghof wäre Eva fast mit offenem Mund stehengeblieben vor Staunen, denn über ihren Köpfen spannte sich ein helles Netz aus Blitzen, die um die Türme tanzten, wie ein Dach. Das Grollen des Donners war hinter den dicken Mauern kaum zu hören, auch vom Tosen des Sturms war hier nichts zu spüren. Doch die Wächterin drängte sie durch ihre schnellen Schritte zum Weitergehen. Sie öffnete die Tür zu Haupthaus und wies wortlos hinein, dann zog sie an einem dünnen Seil, das weit in der Ferne eine Klingel auslöste. Dann ließ sie die drei Besucher im Halbdunkel allein.

Die drei standen in der großen Eingangshalle von Sturmwacht, die kühl und leicht modrig roch. Der Raum war von beeindruckender Höhe, die Wände mit alten Wandteppichen behangen, die mit altertümlichen Szenen der Sturmbändigung bestickt waren. Ein gewaltiger Kronleuchter, der aussah, als wäre er aus verästeltem Metall gefertigt, hing von der Decke. Zwischen seinen Armen flackerten winzige blaue Funken, die einen schwachen Lichtschein verbreiteten. Evas Blick wanderte über die geschnitzten Balken und die dunklen Fliesen des Bodens, als das schwere Knarzen von Schritten und ein keuchendes Atmen die Stille durchbrachen. Aus einer Seitentür trat ein Mann hervor, dessen Erscheinung im ersten Moment nicht zu der martialischen Burg passen wollte: Kastellan Tharion Falstaff. Er war von beeindruckender Leibesfülle, seine Wangen gerötet und er trug eine Robe, die vermutlich einst vornehm gewirkt hatte, aber nun eher wie ein Schlafrock aussah. In der einen Hand hielt er einen Krug, dessen roter Inhalt gefährlich nahe an der Kante schwappte, in der anderen einen Folianten, den er lässig auf seinen dicken Bauch gestützt hatte. Seine wachen Knopfaugen musterten sie neugierig. „Heil euch, Fremde!“ Falstaffs Stimme war überraschend melodisch, seine Worte zogen sich in die Länge, als wolle er sie genießen. „Besuch aus der Welt jenseits des Sturms? Und so weit gereist, nur um mich zu sehen? Ich fühle mich geschmeichelt.“  „Heil dir, Kastellan“, sagten Eva, Nora und Finn gleichzeitig und verbeugten sich, dann trat Eva vor. „Wir sind gekommen, da wir um Einsicht in eure Archive bitten.“ Tharion Falstaff schaute erst verdutzt, dann brach er in ein schallendes Gelächter aus. Der Wein in seinem Becher schwappte über den Rand und besprenkelte seine Robe. Finn rümpfte die Nase, Nora kicherte, aber Eva ließ sich nicht beirren. „Kastellan“, sagte sie, „wir brauchen Eure Hilfe. Wir sind im Besitz eines Dokuments, das uns zu Ihnen nach Sturmwacht geführt hat. Nun vermuten wir, dass es eine Verbindung zu den Archiven auf dieser Insel gibt.“ Falstaff blickte erstaunt. „Ein Dokument?“ „Ja“, beeilte sich Eva zu sagen und hielt ihm die Karte entgegen. Die buschigen Augenbrauen des Kastellans zogen sich zusammen, als er die Linien und Markierungen betrachtete. „Sehr interessant“, murmelte er nachdenklich. „Darf ich?“ „Ich würde sie gern behalten“, sagte Eva behutsam. „Sorge dich nicht, junge Dame“, antwortete Falstaff, „Ich gebe sie dir gleich zurück. Ich wollte mir nur einmal dieses Muster ansehen.“ Mit diesen Worten wandte er die Karte und studierte deren Rückseite. „Wo habe ich es nur …“ Plötzlich richtete er sich kerzengerade auf und der Geistesblitz durchzuckte seinen massigen Körper, sodass er bebte. „Kommt mit, kommt mit!“

Ähnliche Beiträge