Der Himmel hatte sich in ein wogendes Meer aus Dunkelheit verwandelt. Blitze zuckten in den Wolkenbergen, die sich wie lebendige Wesen bewegten. Eva stand – ein Fuß nackt, der andere in einem wollenden Strumpf – am Steuerrad und spürte, wie sich die Planken von Rex Ventorum unter ihr krümmten, als hätte das Luftschiff selbst Angst vor den Sturmböen. „Halt es stabil!“, brüllte Nora, während sie an einem Hebel zog, der die Segel justierte. „Du bist witzig“, rief Eva zurück, „Was denkst du, was ich hier die ganze Zeit versuche?“ Sie warf einen Blick hinüber zu Finn, der an der Reling stand, die Karte aufgeschlagen in den Händen. In seinem Auge klemmte das kleine Fernglas und an seinem Handgelenk baumelte der Sphärenkompass, ein weiteres wichtiges Werkzeug der Navigatoren, das die gegenwärtige Position in der Luft anzeigen konnte. Eva hatte sich mit ihm vor der Überfahrt geeinigt, dass er sie nicht per Handzeichen, sondern akustisch navigieren würde. „In Sturmzonen ist alles, was auf Sicht basiert, zum Scheitern verurteilt“, hatte Finn gesagt. So horchte Eva auf die schrillen Pfiffe, die in unterschiedlicher Höhe und Länge verschiedene Manöver bedeuteten: Ein einzelner, hoher Pfiff ließ sie die Steuerung leicht nach Backbord ziehen, während ein tiefer, kurzer Ton bedeutete, dass sie direkt auf einen Aufwind zusteuerten. Zwei aufeinanderfolgende hohe Töne waren das Signal für eine scharfe Wende, die das Schiff fast senkrecht in die nächste Böe gleiten ließ.
Eva biss die Zähne zusammen, als das Steuerruder unter ihrem Griff zu ächzen begann. Das Holz knackte und der Wind zerrte an den Segeln, als wolle er das Schiff in seine Einzelteile zerlegen. Zwei Grad Steuerbord. Finns nächste Pfeife ließ sie sofort reagieren, die Hebel scharf nach rechts reißen und den Bug in eine fast unmögliche Schräglage bringen. Rex kippte und Eva spürte, wie sich die Kräfte der Luftströmungen beinahe zu stark gegen das hölzerne Gefährt stemmten. Doch dann stabilisierte sich das Schiff und schoss wie ein Pfeil durch die turbulente Zone, mitten zwischen zwei kollidierenden Wirbeln hindurch.
Ein scharfer, absteigender Ton bedeutete, dass sie in den Sinkflug gehen mussten. Eva zog das Ruder nach unten und gab Nora ein Handzeichen, damit diese ein Ventil aufdrehte, um Ballast abzulassen. Rex tauchte durch die nächste Wolkenschicht und glitt plötzlich ruhig dahin, wie auf einem stillen See. Die beiden Mädchen schnappten hörbar nach Luft und Eva schloss kurz die Augen. Sie waren in ein Auge des Sturms eingetaucht und sie wusste, dass diese trügerische Ruhe nur die nächste Prüfung ankündigte. „Da vorn!“ Noras Stimme überschlug sich fast, als sie durch das gläserne Frontfenster zeigte. Ein Wirbelsturm, so groß wie eine Kathedrale, hatte sich aus dem Nichts vor ihnen aufgetan. Der Wind heulte wie ein wildes Tier, das Schiff begann heftig zu schaukeln. Die Elektrizität in der Luft war spürbar, die Lampen an Bord flackerten unheilvoll und Noras Haare standen noch stärker als ohnehin schon zu Berge.
„Wir müssen da durch!“ Evas Augen blitzten entschlossen, während sie mit geübter Hand das Seitenruder übernahm und es im richtigen Moment losließ, damit es der Windwiderstand nicht zerfetzte. „Durch?!“, keuchte Nora. „Das Ding verschlingt uns doch!“ Das Schiff neigte sich gefährlich, als eine Böe es erfasste, und Eva musste sich an ihrem Steuerrad festkrallen, um nicht durch den Raum geschleudert zu werden. Sie warf einen Blick hinüber zu Finn, doch der Navigator stand fest wie ein Baum. Für einen Moment schien es, als würde die Welt nur aus Chaos und Sturm bestehen – und dann begann der Regen.
Und was für ein Regen! Tropfen wie Kieselsteine prasselten auf das Deck, so heftig, dass es sich anfühlte, als würde der Himmel selbst in tausend Splitter zerspringen. Die Welt um das Schiff verschwamm zu einer grauen Wand aus Wasser, die Sicht war auf wenige Meter beschränkt. Blitze rissen grelle Wunden in die Dunkelheit, ihre Lichtbögen spiegelten sich auf den nassen Planken und das Donnergrollen folgte so schnell, dass ihnen die Ohren klingelten.
„Rein ins Steuerhaus, alle!“, brüllte Eva gegen das Tosen des Sturms an. Nora ließ sich nicht zweimal bitten. Mit einem Arm schützend über dem Kopf und schnellen Schritten kämpfte sie sich über das glitschige Deck. Ein Blitz zuckte so nah vorbei, dass er das Schiff in gleißendes Licht tauchte und sie für einen Augenblick blendete. Nora schrie auf, stolperte und rutschte aus, ehe sie sich gerade noch an der Reling festklammern konnte.
Ohne zu zögern, spurtete Eva über das wankende Deck zu ihrer Freundin. „Hier, nimm meine Hand!“ Sie zog sie hoch und schob sie in Richtung Steuerhaus. Dann drehte sie sich um zu Finn. Der Navigator war nur noch ein Schemen. „Finn!“, rief sie, „Du wirst noch vom Blitz getroffen! Komm rein!“ Als Antwort erschallte ein trillernder Pfiff. „Was meinst du mit ‚Zurück auf den Posten‘?“, antwortete sie und dann wurde es ihr klar. Finn würde seine Stellung halten, bis sie die Sturmwacht erreichten. Also musste sie es ihm gleichtun.
Als die Tür des Steuerhauses hinter ihr zuknallte, blieb Eva einen Moment schwer atmend stehen, den Rücken gegen das knarrende Holz gelehnt. „Und Finn? Was macht der da draußen?“ Noras Stimme war eine Mischung aus Sorge und Zorn, während sie sich zitternd ihrer nasse Jacke entledigte. Eva warf einen Blick durch die nassen Fenster. Finn stand weiterhin fest an der Reling, unbeirrt. Seine Silhouette wirkte wie eine Statue, unerschütterlich, während der Sturm um ihn tobte. „Er weiß, was er tut,“ sagte Eva, ohne den Blick von ihm abzuwenden. „Die Navigatoren der Sturmzonen sind nicht wie wir. Der Sturm ist ihr Zuhause“, fügte sie hinzu, mehr zu sich selbst als zu Nora.
Ein greller Pfiff rief sie an die Arbeit. Eva knirschte mit den Zähnen und klammerte sich wieder ans Steuer. Die Winde peitschten um sie herum, das Licht der Blitze war mittlerweile so grell, dass es den Himmel wie ein zerborstenes Glas wirken ließ. Sie hatte keinerlei Orientierung mehr, wusste nicht, ob sie nach oben, unten, nach vorn oder zurück segelten. Da schloss sie die Augen und plötzlich tat sich eine Welt vor ihr auf. Wo sie vorher nur feuchtes Holz gefühlt hatte, spürte sie nun die Ausrichtung des Steuers, die Position der Seitenruder und die Spannung der Takelage. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihr Schiff, wie es in der Luft lag – und die Pfiffe des Navigators waren ein goldener Faden, an dem sie es nur entlang steuern musste. Evas Atem wurde ruhig, Nässe, Kälte, das Grollen des Donners, all das war vergessen.
Und nach einer Weile – fast unerwartet – ließ der Sturm nach. Es war, als hätte eine unsichtbare Hand die Welt plötzlich angehalten. Der Regen war immer noch da, doch er fiel nun gleichmäßig, unaufgeregt, wie das stete Ticken einer Uhr. Das Schiff stöhnte ein letztes Mal, als eine Böe es erfasste. „Wir haben es geschafft!“ Noras Stimme war ein halber Schrei, ein halbes Lachen, als sie aus dem Fenster blickte. Eva öffnete die Augen und trat aus dem beschlagenen Steuerhäuschen. Vor dem Schiff lagen mächtige Wolkenberge und ein sanfter Regen fiel. Und da tauchte ein Schatten aus dem Nebel auf. Die Burg Sturmwacht.