6. Dezember | Aufbruch ins Ungewisse

Sie saßen zu viert an Graubarts altem Küchentisch. Die Karte lag vor ihnen ausgebreitet und die goldenen Linien schimmerten im Licht der Petroleumlampe. Der alte Kapitän war eine wertvolle Unterstützung beim Entschlüsseln der alten Namen und fremden Orte, die Eva, Nora und Finn nicht kannten. „Hier“, sagte Graubart und deutete mit der Hand auf eine Markierung am Rand der Karte. „Das muss Burg Sturmwacht sein. Hier steht der alte Name Praesidium tempestatis. Und hier, direkt daneben, diese zweite Insel – das ist sicherlich Festung Donnerhall. Die beiden Inseln sind durch die Große Gewitterbrücke verbunden, die seht ihr hier eingezeichnet.“

„Sturmwacht“, wiederholte Eva und lehnte sich über die Karte um vorsichtig mit dem Finger über die filigrane goldene Linie zu fahren, die von Nimbusheim zur Burg führte. „Und was bedeuten diese Beschriftungen?“ Sie deutete auf winzige, fast unsichtbare Schriftzüge entlang der Linie. Nora kramte in ihrer Umhängetasche und förderte eine Menge verschiedener Gegenstände zutage: Bleistifte, eine Wasserwaage, Schrauben, eine Sturmfalkenfeder und schließlich eine kleine Lupe. Damit beugte sie sich über die Karte. „Hm, das ist echt klein geschrieben: ‚Tempestas manet apud te.‘“ Sie runzelte die Stirn. „Ein Stück des Sturmes bleibt bei dir“, übersetzte Finn. Eva lachte. „Na, so ein Souvenir wollte ich schon immer haben.“

„Es ist kein Geheimnis, dass der Weg dorthin gefährlich ist“, sagte Graubart und nahm einen Schluck Tee. „Die Sturmzonen sind launisch und die alten Kartenmacher haben wahrscheinlich diese Route eingebaut, um ungebetene Gäste abzuschrecken.“

„Oder um sie zu prüfen“, murmelte Finn und musterte die Karte mit verschränkten Armen. Seine Stimme war ruhig, aber bestimmt. „Der Weg von Nimbusheim nach Sturmwacht wird üblicherweise nicht befahren, auch wenn die beiden Inseln nah beieinander liegen. Die meisten Händler kommen von Westen, wenn sie dorthin wollen, auch ich bin diese Strecke nur über Flugfels geflogen. Diese Route allein ist riskant genug. Es könnte aber sein …“ Er kratzte sich am Kopf und schwieg eine Weile. Eva war kurz davor, den Rest des Satzes aus ihm herauszuschütteln, da fuhr er fort. „…dass die goldene Linie eine Route ist – eine, die uns sicher durch die Stürme führt.“

„Sicher?“ Nora hob eine Augenbraue. „Das bezweifle ich. Aber ich bin ja zum Glück kein Feigling.“ Finn schnaubte. „Du bist zum Glück auch keine Navigatorin.“ „Ihr werdet auf jeden Fall mehr als Mut brauchen“, warf Graubart ein. „Die Sturmzonen sind voller Turbulenzen und wenn ihr vom Kurs abkommt, könnt ihr leicht verloren gehen.“ „Wir müssen uns eben an die Markierungen auf der Karte halten“, sagte Eva. „Wie sind denn Sturmwacht und die Festung Donnerhall so?“

Oh, Burg Sturmwacht. Wie könnte ich diese schroffe Schönheit jemals vergessen? Für diejenigen, die sich so weit an den Rand der Sturmzonen wagen, ist sie ein eindrucksvoller Anblick: Ein steinernes Bollwerk aus schwarzem Basalt, das wie ein stummer Wächter auf einem hoch aufragenden Felsplateau thront. Die Insel selbst wirkt abweisend – scharf abfallende Klippen, knorrige Bäume, die fast waagerecht vom Wind am Boden entlang wachsen und ein undurchdringliches Dickicht aus Brombeerhecken und Schwarzdorn. Nur wenige wagen es, diese trotzige Vegetation zu durchqueren, doch diejenigen, die es getan haben, berichten von uralten Statuen und Säulen, die im Grün verborgen liegen. Relikte einer längst vergessenen Zeit, als die Sturmritter hier regierten.

Dann ist da natürlich die Brücke. Ach, die Gewitterbrücke – eine architektonische Meisterleistung, die die Insel Sturmwacht mit der benachbarten Feste Donnerhall verbindet. Man sagt, die Brücke wurde in einer Zeit errichtet, als die Menschen und die Sturmritter noch engere Kontakte pflegten – und die Tempestarii anders als heute kein exzentrischer Kult waren, der lieber unter sich bleibt. Ihre gewaltigen Bögen erstrecken sich scheinbar schwerelos über die tobenden Sturmwolken. In die steinernen Geländer sind Symbole eingemeißelt, die den Reisenden Glück und Schutz versprechen sollen – so sagt man zumindest. Doch Vorsicht: Das Überqueren der Brücke kann gefährlich sein. Die Böen pfeifen hier so stark, dass immer wieder unvorsichtige Reisende von der Plattform gefegt werden.

Und dann das Sturmbändigen selbst: Eine Kunst, die wie ein Tanz zwischen Mensch und Naturgewalt anmutet. Auf der Feste Donnerhall werden die Tempestarii darin ausgebildet, Stürme nicht nur zu überstehen, sondern sie zu lenken und zu bändigen – doch ich muss zugeben, dass ich nur bruchstückhafte Informationen darüber habe. Die Sturmritter, wie man sie einst nannte, waren ein Erbgeschlecht von Adligen, deren Blutlinie vor einigen Jahrhunderten aus unerklärlichen Gründen versiegte. An ihrer Stelle trat die Gilde der Sturmbändiger, deren Mitglieder nicht mehr durch Geburt, sondern durch strengste Auswahlverfahren und Prüfungen bestimmt werden.

Die Tradition jedoch bleibt elitär: Nur junge Männer mit makelloser Gesundheit und starkem Körperbau werden für die Ausbildung zugelassen. Frauen? Keine Chance, zumindest nicht offiziell. Es ist eine ritterliche Männerdomäne geblieben und ihre Praktiken werden mit einer Geheimniskrämerei gehütet, die beinahe an Aberglauben grenzt. In den Bibliotheken sucht man vergeblich nach Schriftstücken zu ihren Methoden, denn vor einigen Jahrzehnten ließen die Tempestarii alle Werke, die jemals über das Sturmbändigen verfasst worden waren, systematisch entfernen und verbrennen. Außenstehende sind in der Feste Donnerhall nicht willkommen – die massiven Tore allein sorgen dafür, dass niemand unbefugt einen Fuß auf ihren Boden setzt.

Mir jedoch ist es während meiner Reise auf Sturmwacht gelungen, einen seltenen Blick zu erhaschen. Von einem erhöhten Punkt auf der großen steinernen Brücke, die die beiden Inseln verbindet, konnte ich einen Teil einer Übung mitverfolgen. Vor mir lag die mächtige Festung, eingebettet in die brodelnden Sturmwolken, die die Ränder der Insel umgeben. Dort, auf dem Trainingsplatz, sah ich Männer in langen Mänteln – der Uniform der Tempestarii, die man dem von Blitzen durchzogenen Muster erkennt. Mit gebogenen Eisenstangen, die an Antennen erinnerten, leiteten sie gezielt die elektrische Energie der Gewitterwolken in Netze aus fein gewebtem Kupferdraht. Sie bewegten sich dabei mit einer fast tänzerischen Präzision, als führten sie einen uralten, einstudierten Reigen mit den entfesselten Kräften der Natur auf. Das Spektakel war atemberaubend: Funken sprühten, Blitze zuckten und der Donner hallte über die Brücke hinweg. Es schien, als ob sie mit der tobenden Natur Zwiesprache hielten, mal verhandelnd, mal herausfordernd. Es war ebenso faszinierend wie erschreckend, denn man spürte die Gefahr, die in ihrer Kunst lag.

„Und was ist, wenn wir Sturmwacht erreichen?“, fragte Finn. „Was suchen wir dort?“ Graubart ließ seinen Blick auf die Karte sinken. „Die Burg verfügt über ziemlich umfangreiche Archive. In Abwesenheit der Sturmritter – die sicherlich noch etwas andauert“ – er lachte – „verwaltet … äh, wie hieß er noch gleich…“ „Tharion“, warf Finn ein, „Tharion Falstaff.“ „Genau“, nickte Graubart, „Tharion ist der Kastellan von Sturmwacht. Sprecht mit ihm. Zeigt ihm – aber auch nur ihm – die Karte. Vielleicht hat er eine Idee.“

„Alles klar!“ Eva stand auf und rollte die Karte schwungvoll zusammen. „Dann ist Sturmwacht unser erstes Ziel. Und von dort aus sehen wir weiter.“ Sie wandte sich an ihre Begleiter. „Können wir morgen früh aufbrechen?“ Nora klatschte in die Hände, ein Grinsen auf ihrem Gesicht. „Rex ist startklar.“

Ähnliche Beiträge