5. Dezember | Der wortkarge Navigator

Erschöpft strich sich Eva das Haar aus der Stirn. „Nora!“, rief sie durch den Qualm, „Wo steckst du denn?“ Eines der Bullaugen an der Seite des Schiffes öffnete sich und ein Schwall kastanienbrauner Locken kam heraus. Ihre Freundin zog sich die Schutzbrille herunter und Eva musste grinsen, denn ihre Augen waren der einzige Teil ihres Gesichts, der ohne Ruß geblieben war. „Ich muss dringend was essen, sonst fall ich um“, sagte sie, „kommst du mit?“ „Nee“, antwortete Nora, „ich bin kurz vor dem Abschluss. Geh ruhig schon mal, ich komm dann nach.“ „Alles klar, ich bin dann im Steuermann.“ Nora lachte: „Wo auch sonst?“

Verehrter Leser – nicht erschrecken! Ja, ich bin es wieder, der Autor dieser Zeilen und dein Führer durch die Welt der Wolkeninseln. Erlaube mir, ein paar erklärende Worte einzuschieben. Eva, wie die meisten der jungen Nimbusheimer, fühlte sich zum Abenteuer hingezogen. Und wo findet man dies wohl eher als zwischen Piloten, Blitzfängern, Leviathankommandanten, Himmelstauchern und Navigatoren? Man kann natürlich auf der Straße herumlaufen und nach den spezifischen Uniformen und Emblemen Ausschau halten, um mit diesen Berufsständen ins Gespräch zu kommen. Aber leichter geht es natürlich bei einem Schluck Feuerbrise oder Windtee im Lustigen Steuermann. Die gemütliche Kneipe im Ausgehviertel von Nimbusheim erfreute ihre Kundschaft mit guter Hausmannskost und frisch gezapften Getränken, es verirrten sich nur wenige Touristen hierher und auch ein junges Mädchen wie Eva konnte ein und ausgehen, ohne Aufsehen zu erregen. Schwerer hätte sie es wohl in reinen Luftfahrerkneipen gehabt wie dem Draht & Düse oder der Betrunkenen Möwe – und von Spelunken wie Zum Abgeknickten Flügel oder Dionysos‘ Fässchen hielten sich ohnehin alle fern, die etwas Anstand im Leibe hatten.

Ich erwähnte bereits, dass ich bei meinen Recherchen diese Örtlichkeiten selbst besucht und ihre einzigartige Atmosphäre aufgesaugt habe. Daher kann ich nur zu gut die Faszination nachfühlen, die Eva gespürt haben muss, wenn sie dort Gast war – so schnell wird man ein Teil dieser besonderen Welt. Man sitzt da, schlürft arglos an seinem Mondschimmerwein und siehe da, plötzlich beginnt irgendwo eine Unterhaltung, die einen in ihren Bann zieht. Ich stelle mir vor, dass es ebenso an diesem Tag war, an dem Eva ausnahmsweise einmal nicht darauf aus war, heimlich den Erzählungen eines Tempestarius zu lauschen oder einen Windreiter-Piloten auszufragen. Sicherlich saß sie an einem der vernarbten Holztische und piekte gerade die Gabel in eine heiße Kartoffel. Doch an diesem Tag war es kein Gespräch, sondern ein Streit, der sie aufhorchen ließ.

Ein lauter Knall ließ Eva aufschrecken. Ein Becher, der wohl eben noch mit Bier gefüllt war, schlitterte über die Dielen und blieb unter ihrem Tisch liegen. Im nächsten Moment folgte ein Schwall wütender Worte. Eva hob den Kopf und sah, wie ein stämmiger Kapitän mit breiten Schultern einen anderen an der Kragen packte. Der Angegriffene war jünger, schmal gebaut und hatte strohblondes Haar, das ihm in unordentlichen Strähnen ins Gesicht fiel. Sein Gesicht blieb ruhig, fast gelangweilt, doch seine Augen blitzten vor Zorn.

„Pass mal auf, du halbes Hemd! Das hier ist mein Platz – das war schon immer mein Platz und wird auch immer meiner sein! Also hast du dich gefälligst zu verziehen, sobald ich auftauche!“ Der große Mann schüttelte den Kleineren, als wollte er einen Staubwedel ausklopfen. „Und das war mein Bier“, entgegnete der Blonde mit ruhiger Stimme. Seine Worte waren so knapp wie seine Gesten. Es war schwer zu sagen, ob er provozierte oder einfach keine Lust hatte, sich zu erklären. Der Kapitän lief rot an vor Wut. Gleich würden Fäuste fliegen. Die anderen Gäste des Lustigen Steuermanns schienen davon völlig unbeeindruckt, manche warfen nur flüchtige Blicke hinüber, während sie weiter an ihren Getränken nippten oder teilnahmslos ihr Essen mampften. Kneipenstreitereien waren in Nimbusheim keine Seltenheit.

Eva allerdings konnte nicht anders, als hinzusehen. Der schmächtige Kerl hatte keine Chance gegen den Hühnen, das war offensichtlich. Aber das Innenfutter seines Mantels hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Stahlgrau wie eine Gewitterwolke, durchzogen von giftgelben Fäden. Ein Navigator für Sturmzonen. Noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hatte sie ihren Stuhl zurückgeschoben, war aufgestanden und entschlossen zu den beiden marschiert.

„Hör mal“, sagte sie zu dem Kapitän. „Musst du dich so aufführen? Wir sind doch hier im „lustigen“ Steuermann.“ Keine Reaktion. Sie seufzte. Manche Menschen hatten einfach keinen Sinn für Humor. „In Ordnung, ich habe es im Guten versucht“, sagte sie dann. „Lass ihn los oder ich hole die Wirtin. Und wir wissen beide, dass das die längste Zeit ‚dein Platz‘ war, wenn du hier Stress machst.“ Sie sah den großen Mann herausfordernd an. Ihm hatte es offensichtlich die Sprache verschlagen, dass eine Göre, die gerade mal halb so groß war wie er, auf diese Art mit ihm sprach. Die Erwähnung der Wirtin schien aber zu wirken, denn er ließ den blonden Navigator widerwillig los. Dann kam er nah an Eva heran und musterte ihr Gesicht genau, als wollte er sich jedes Detail einprägen. Sie hielt seinem Blick stand – und den Atem an, denn der Andere roch nach einer Mischung aus Knoblauch und jeder Menge Feuerbrise. Schließlich brummte der Mann etwas Unverständliches und ließ sich auf seinen Platz am Tresen fallen.

Eva drehte sich zu dem Blonden um, doch der hatte sich schon zum Gehen gewandt. Auf der Schwelle nach draußen holte sie ihn ein und hielt ihn am Ärmel fest. „Das Wort ‚Danke‘ existiert in deinem Wortschatz nicht, oder?“ Er musterte sie einen Moment, seine graublauen Augen kühl und wachsam. „Danke“, sagte er schließlich und richtete seinen zerknitterten Kragen. „Keine Ursache“, gab Eva zurück. „Du bist ein Navigator für Sturmzonen?“, schob sie hinterher, damit er nicht auf die Idee kam, dass das Gespräch beendet sei. „Ja“, sagte er. Eva nahm ihren Mut zusammen. „Du hättest eben ganz schön Ärger bekommen können“, sagte sie. „Ich denke, das ist einen Gefallen wert.“

„Was für einen Gefallen?“ „Ich brauche jemanden wie dich. Für eine Reise.“ Nun hatte sie seine Neugier geweckt, denn eine Augenbraue schob sich fragend nach oben. „Was will denn ein Mädchen wie du in den Sturmzonen?“ „Sage ich dir noch. Nimmst du den Auftrag an?“ Er betrachtete sie schweigend, sein Blick suchte nach einem Anzeichen dafür, dass sie scherzte. Doch Eva schaute ernst zurück. Nach einer Weile schnaubte er und schüttelte den Kopf. „Ich arbeite nicht für Fremde.“

„Dann ist es ja gut, dass ich keine Fremde bin“, gab sie zurück und streckte ihm ohne Umschweife die Hand entgegen. „Hallo, ich bin Eva.“ Er starrte die Hand kurz an, dann zuckte er mit den Schultern und schüttelte sie widerwillig. „Finn. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich dir helfe.“ Eva grinste. „Oh, das werden wir ja sehen.“

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