3. Dezember | Die fast vergessene Legende

„Eva, bist du da oben?“ Graubarts Stimme drang von unten zu ihr herauf. Als sie nicht antwortete, hörte sie, wie der alte Seebär sich schnaufend daran machte, zum Dachboden aufzusteigen. Sie stand auf und trat ihm am oberen Ende der Leiter entgegen. „Was hast du denn da?“, fragte er, als sie herabgeklettert war und ihm die Karte überreichte. „Die habe ich in einem alten Koffer gefunden“, sagte sie. „Dreh mal um.“ Er tat es und schaute sie verwirrt an. „Ich verstehe nicht?“ Wortlos zog Eva das Hosenbein hoch und präsentierte ihre Socken. Er blickte zwischen der gemusterten Rückseite und ihren Füßen hin und her. Plötzlich hoben sich seine buschigen Augenbrauen. „Nanu?“, war alles, was er von sich gab. Dann wandte er das Blatt und studierte es eingehend. Mehrere Minuten standen sie so schweigend im Flur. Immer wieder gab Graubart Ausdrücke des Erstaunens von sich: „Oh“, oder „Könnte es wirklich …“ Dann rollte er das Pergament schwungvoll zusammen und sah seine Ziehtochter an. „Komm Kleine, ich koche uns mal einen Tee.“

Der alte Kapitän brummte nachdenklich, während er die Karte in den Händen hielt. Eva folgte ihm die Treppe hinunter in die Küche, wo der vertraute Duft von Zimtkraut und ein leichter Hauch von altem Holz in der Luft lagen. Während das Wasser zu sieden begann, setzen sie sich und Graubart legte die Karte sorgfältig auf den Tisch. Die Linien darauf schimmerten im flackernden Licht des Feuers, und Eva konnte sehen, dass sein Blick für einen Moment in die Ferne glitt.

„Was ich dir jetzt erzähle, ist vor allem eines,“ begann er. „Ein Märchen – ja, eine Legende, aber eine, an deren Wahrheit früher viele Menschen glaubten. Mittlerweile ist sie fast vergessen und nur noch alte Luftkapitäne wie ich erinnern sich daran. Man nennt sie die Geschichte vom Herz des Himmels.“ Er ließ die Worte wirken, während er aufstand und das kochende Wasser über den Windblumentee schüttete. Dann schenkte er ihnen zwei Tassen ein, doch er sprach nicht weiter, bevor nicht in seine einen großzügigen Schuss Gewittermet gegossen hatte. Er liebte den würzigen Wein, der aus dem elektrisierenden Honig von Wolkenbienen hergestellt wurde, die in den Sturmregionen nisteten. Der Met gab dem Trinker ein belebendes Gefühl, als ob ein kleines Gewitter in der Brust toben würde – und genau dieses schien er gerade zu brauchen, nahm er doch einen kräftigen Schluck.

„Das Herz des Himmels soll nicht nur eine sagenhafte Quelle unermesslicher Macht sein, sondern auch das Artefakt sein, was die Wolkeninseln als solche erst zusammenhält“, fuhr er dann fort. „Es heißt, ohne das Herz würden die Inseln auseinanderdriften und im schlimmsten Fall vom Himmel stürzen.“ Eva lehnte sich vor, ihre Augen groß vor Neugier. „Aber was hat das mit der Karte zu tun? Und warum sieht das Muster wie das auf meinem Strumpf aus?“

Graubart stellte seine Tasse vor sie hin und setzte sich mit einem tiefen Seufzer. „Das ist der Teil, der mich selbst überrascht. Siehst du die goldenen Linien hier?“ Er deutete auf die schimmernden Verbindungen, die wie Adern über die Karte liefen. „In der Legende heißt es, dass man dem goldenen Faden folgen muss, um das Herz zu finden. Hier, siehst du das Knäuel in der Ecke? Es ist tatsächlich ein Faden. Und hier, auf dieser unbenannten Insel…“ „Ein goldenes Herz!“, rief Eva erstaunt. Graubart nickte. „Ich habe also Anlass zu vermuten, dass diese Karte den Weg zum Herz des Himmels zeigt. Aber was das mit deinen Strümpfen zu tun hat …“ Er tippte mit einem dicken Finger auf die Rückseite der Karte. „Das Muster könnte ein Hinweis sein, aber ich kann nicht erraten, worauf.“

Ihr Herz schlug schneller. „Heißt das, mit dieser Karte könnte man … also könnte ich das Herz des Himmels finden?“ Der Kapitän lächelte schief. „Langsam, Mädchen. Es ist nur eine Erzählung. Wer weiß, ob das hier nicht die Arbeit eines gelangweilten Kartographen ist, der sich das Herz des Himmels als Inspiration genommen hat. Und selbst wenn die Legende wahr ist, führt der Weg, der hier eingezeichnet ist, unter anderem durch die Nachtstadt. Ich möchte nicht wissen, was dich dort erwartet. Und hier“ – er wies auf die Karte – „in den Sturmzonen, da lauern ungeheure Gefahren. “ „Und warum segeln wir nicht direkt zu der Markierung?“ „Kind, ich weiß nicht, welche Insel das ist – sie muss irgendwo in den höheren Luftschichten liegen. Und ich vermute, du musst den Weg so zurücklegen, wie er eingezeichnet ist. Wenn es das Herz ist, was am Ende dieses Weges wartet, wirst du es nicht ohne Prüfung erreichen.“

Eva nahm einen tiefen Schluck von ihrem Tee und spürte, wie ein Kribbeln der Vorfreude ihre Haut überlief. „Ich denke, dass ich bereit bin.“ Graubart lehnte sich zurück, sein Gesicht von Sorgenfalten durchzogen. „Du bist eine gute Pilotin. Das wird dir jeder aus Hafenwache und Luftwehr, den du bisher brüskiert hast, wenn auch widerwillig bestätigen. Aber der Weg, den ich hier eingezeichnet sehe, erfordert fundierte navigatorische Kenntnisse.“ „Kannst du mich nicht begleiten?“ Er sah sie lange an. „Ich bin nicht mehr stark genug. Für diesen Weg brauchst du gute Unterstützung, sehr gute Unterstützung, der du vertrauen kannst. Denn eines weiß ich sicher: Wenn diese Karte echt ist, wird sie mehr Menschen als nur uns beide interessieren.“

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