Die Explosion zerriss den Morgenhimmel und Eva wurde fast von der Plattform gefegt. Sie klammerte sich an das Geländer, während Trümmerteile aus der Luft fielen und Menschen schreiend umherliefen. Der beißende Geruch von Rauch und verbranntem Holz kroch ihr in die Nase, und der Boden unter ihren Füßen vibrierte von der Welle der Detonation. Sie blinzelte gegen den Qualm und das gleißende Licht der aufgehenden Sonne.
Der Hafen von Nimbusheim, der sonst von geschäftiger Hektik und den Rufen der Händler erfüllt war, war um ein Vielfaches ins Chaos gestürzt. Schwere Handelsschiffe, die wie träge Kühe an ihren Dockpunkten vertäut lagen, schwankten gefährlich, während Arbeiter versuchten, sie zu stabilisieren. Die Luft war erfüllt vom Kreischen der metallenen Ankerketten und dem Ächzen der hölzernen Plattformen, die sich durch die Bewegungen in der Luft gegeneinander verschoben und das Stehen darauf zu einem wackligen Unterfangen machten. Überall herrschte Aufruhr, Menschen hielten sich und ihre Waren fest, suchten verzweifelt Deckung oder flüchteten sich in die angrenzenden Straßen. Von Evas erhöhter Position aus, einer schmalen Aussichtsplattform, hatte sie einen guten Überblick über den Tumult. Ein großes Handelsschiff, die Stella Australis, stand in Flammen und hielt sich nur mit Mühe in der Luft. Schwarze Rauchwolken stiegen von seinem zerrissenen Rumpf auf, während sich das Feuer hungrig durch die Laderäume fraß. Die Segel, einst makellos weiß, glühten an den Rändern wie Papier, das man in einen Kamin geworfen hatte.
Aus den Qualmwolken tauchte nun die Ursache des Chaos in Form eines schlanken, schwarz lackierten Piratenschiffes mit blutroten Segeln. Es drehte wie ein Raubvogel über dem brennenden Wrack ein. Nun surrten Enterhaken durch die Luft und eine Mannschaft von schwer bewaffneten Gestalten in Sturmlederstiefeln hangelte sich über die Taue an Deck.
„Wir müssen weg hier!“ Eine Stimme riss Eva aus ihrer Starre. Neben ihr zog ein Mann hektisch an einer jungen Frau, die ebenfalls wie eingefroren das Spektakel beobachtete. „Wenn die Flammen die Treibstofftanks erreichen, wird der ganze Hafen explodieren!“ Eva schluckte. Ihr Verstand sagte ihr, dass er recht hatte, dass es gefährlich war, hier zu bleiben. Doch das Schauspiel hatte sie in seinen Bann geschlagen und hielt sie an Ort und Stelle.
Plötzlich erschallte ein weiteres Geräusch – das dumpfe Dröhnen eines Warnhorns. Es war das Zeichen der Hafenwache. Eva sah, wie ein kleiner Schwarm wendiger Windreiter, die in schimmernden Gold- und Kupfertönen bemalt waren, aus einem Hangar hervorbrach und auf das Piratenschiff zusteuerte. Ihre eleganten Maschinen wirkten wie Schwalben gegen den massiven Raubvogel der Angreifer. Ein erstes Pfeifen – dann durchbrach ein Feuerball die Luft, als einer der Windreiter eine Rakete abfeuerte, die knapp neben dem Piratenschiff explodierte.
Evas Herz schlug bis zum Hals. Alles an ihr wollte fortlaufen, weg von den Schreien und der Hitze, aber ihre Augen waren gefesselt. Sie beobachtete, wie die Piraten schnell reagierten, ihr Schiff drehte sich in einer geschmeidigen Bewegung und sie feuerten zurück. Ein Windreiter zerbarst in einem Funkenregen, und das Wrack stürzte in die Wolkenfluten tief unter den Docks. „Warum schicken sie keine Leviathane?“, hörte sie die junge Frau mit banger Stimme sagen. „Die Windreiter schaffen es nicht allein!“ Im Stillen pflichtete Eva ihr bei. Das sah nicht gut aus für die Hafenwache.
Ein Schuss des Piratenschiffes traf einen weiteren Windreiter so gezielt, dass der Pilot aus seinem Sitz gerissen wurde und nun an einem Fallschirm hängend in der Luft auf Rettung durch seine Kameraden wartete. Sein verwaistes Flugzeug trudelte nach unten, bis es genau auf der Höhe der Docks war. Plötzlich schoss Eva ein Gedanke durch den Kopf. Ohne lange zu zögern, streifte sie ihren Schuh und eine Socke ab, die sie sich in die Hosentasche stopfte. Ein Fuß musste immer kalt sein – so konnte sie sich besser konzentrieren. Derart vorbereitet sprintete sie zur Hafenkante. „Halt!“, hörte sie den Mann hinter sich rufen, doch sie hatte bereits einen großen Sprung getan und war im Steuerhaus gelandet. Sie griff nach dem kupfernen Hebel und zog ihn mit aller Kraft nach hinten, um die Kontrolle über das taumelnde Fluggerät zu erlangen. Der Windreiter vibrierte heftig und der Geruch von verbranntem Öl stieg Eva in die Nase. Doch sie hatte keine Zeit, sich um die Schäden zu kümmern. Das Piratenschiff lag direkt vor ihr, eine dunkle, bedrohliche Silhouette gegen den strahlend blauen Himmel.
Der Windreiter ruckte plötzlich, als sich die Steuerung wieder stabilisierte. Evas Herz raste, aber sie zwang sich, einen klaren Kopf zu behalten. „Okay“, murmelte sie zu sich selbst, während sie die Steuerknüppel fester umklammerte. Das Piratenschiff hatte sie mittlerweile bemerkt. Ein greller Blitz schoss aus einem der seitlichen Kanonenrohre und eine Salve aus flimmernden Projektilen sauste nur knapp an ihr vorbei. Eva duckte sich instinktiv, obwohl sie wusste, dass das nichts bringen würde. Ihr Fluggefährt schwankte, doch sie riss den Steuerknüppel zur Seite, brachte die Maschine in eine scharfe Kurve und flog dicht an den Dockplattformen vorbei. Die Windströme zerrten an der beschädigten Hülle, aber der Windreiter hielt durch.
Ein schrilles Warnsignal erklang. Sie hatte das Piratenschiff im Visier. „Nur ein Versuch“, dachte sie, während sie die Zielerfassung verriegelte. Ihre Finger suchten den roten Abzugsknopf, doch bevor sie schießen konnte, riss ein neuer Treffer den Windreiter nach oben. Funken stoben aus dem Cockpit und die Anzeige flackerte. Aber Eva war noch nicht bereit, aufzugeben. Statt sich zurückzuziehen, drückte sie den Steuerknüppel nach vorne und stürzte in einem steilen Sinkflug direkt auf das Piratenschiff zu. Ihre Augen brannten vom Rauch. Das massive Gefährt der Piraten kam immer näher. Die Kanonen des Schiffs feuerten erneut, aber Eva vollführte eine halsbrecherische Rolle nach rechts und wich den Geschossen aus. Ihre Hand zitterte, als sie den Raketenwerfer des Windreiters aktivierte. Die Anzeigen blinkten hektisch. „Jetzt oder nie“, dachte sie und drückte den Auslöser. Ein dumpfer Knall erschütterte die Luft, als die Raketen aus den Abschussrohren schossen. Sie wirbelten wie silberne Pfeile auf das Piratenschiff zu. Der erste Treffer riss ein Loch in die Bordwand und eine gewaltige Explosion folgte. Feuer und Trümmer stoben in die Höhe, während sich die Enterhaken, die das Handelsschiff hielten, lösten und dabei Stücke der Reling mitrissen. Doch das Piratenschiff war noch nicht zerstört. Es wankte, aber es hielt sich weiterhin in der Luft.
Eva biss die Zähne zusammen. Sie hatte noch einen letzten Pfeil im Köcher. Sie zog den Windreiter hoch, flog eine enge Kurve und visierte die Unterseite des Piratenschiffs an, wo die Hauptantriebe schimmerten. „Los jetzt“, flüsterte sie, bevor sie erneut den Auslöser drückte. Die Rakete durchschlug die Antriebskammer des Piratenschiffs, und eine ohrenbetäubende Explosion folgte. Das gigantische Gefährt zerbrach in der Luft, seine Trümmer stürzten wie schwarzer Regen in die Wolkenfluten hinab. Eva hatte kaum Zeit, das Geschehen zu realisieren, als sie das Steuer des Windreiters erneut herumriss, um nicht von der Schockwelle erfasst zu werden.
Das Funkgerät knackte plötzlich, und eine Stimme schallte durch die Lautsprecher: „Hier Hafenwache Nimbusheim. Identifizieren Sie sich! Sofort landen!“ Evas Herz hämmerte, während sie nach einem geeigneten Dock Ausschau hielt. Ihr Handeln würde Konsequenzen haben, das wusste sie. Das Piratenschiff war zerstört und die Fracht der Stella gerettet – zumindest das, was von ihr übrig war. Als sie den Windreiter schließlich sicher auf einer Plattform landete, zitterten ihre Beine vor Erschöpfung, doch in ihrem Inneren loderten Stolz und Adrenalin. Die Schaulustigen an den Docks begann zögerlich zu applaudieren, dann erschallten Jubelrufe und Eva atmete auf. Doch der Moment des Triumphs währte nur kurz: Aus der Masse lösten sich mehrere uniformierte Gestalten und schritten energisch auf sie zu. Jetzt würde es Ärger geben.