„Was fällt dir eigentlich ein?“ Der Kapitän der Hafenwehr war außer sich und die Wut malte ihm rote Flecken auf die Wangen. In seinen siebzehn Dienstjahren war so etwas noch nicht vorgekommen, dass sich eine Zivilistin den Fluggefährten der Wache bemächtigt hatten. Und dann war diese Zivilistin noch ein halbes Kind!
Eva stand vor dem Kapitän, ihre Hände zu Fäusten geballt, während ihre blauen Augen vor Trotz und Wut blitzten. „Und was fällt euch ein?“, fauchte sie zurück. „Warum habt ihr die Leviathane nicht geschickt? Ihr hättet die Piraten in Sekunden vertreiben können, aber stattdessen lasst ihr sie den halben Hafen zerlegen!“ Der Kapitän wurde noch röter im Gesicht. „Das liegt nicht in deiner Verantwortung, Mädchen! Die Leviathane sind kein Spielzeug, das wir ohne Grund herbeirufen!“ „Ohne Grund?“ Eva machte einen Schritt auf ihn zu. „Die Piraten trauen sich inzwischen einfach in den Hafen von Nimbusheim! Die Docks brennen, Menschen wurden verletzt, und das ist kein Grund?“
Zustimmendes Murmeln erklang aus der Menschenmenge. „Du hast gegen das Gesetz verstoßen“, polterte der Mann, „du hast einen Windreiter gestohlen und dich in Lebensgefahr gebracht!“ Da meldete sich einer seiner Kommandanten zu Wort. „Kapitän! Das ist doch dieses Mädchen, die mit dem Strumpf!“ Sein Blick wanderte nach unten zu Evas Knöcheln – einer steckte in einer gemusterten Socke, der andere war nackt. „Eva Mathilda Ohnestrumpf! Na, das hätte ich mir doch denken können. Auf unserer Wache ist mittlerweile eine beachtliche Liste an Hinweisen zusammengekommen: Illegale Flugrennen, unsachgemäßer Betrieb von Flitzkisten, riskante Manöverflüge… ich denke es ist Zeit, dass du mal eine Nacht in einer unserer Zellen verbringst. Männer, nehmt sie mit!“
Zwei Hafenwächter traten vor, doch Eva ließ ihnen keine Zeit. Mit einem plötzlichen Satz drehte sie sich um und sprintete los. „Stehenbleiben!“, rief einer der Wächter, doch sie war bereits in die Menge eingetaucht und verschwunden.
Eva rannte, so schnell ihre Beine sie trugen. Der Tumult des Hafens verschmolz mit den Schreien der Hafenwächter hinter ihr. Die Männer waren deutlich größer als sie und konnten schneller rennen, aber die verwinkelten Gassen von Nimbusheim waren ihr vertraut und sie wusste genau, welche Abzweigung sie nehmen musste, um ihre Verfolger abzuschütteln. Sie schlängelte sich an einem Karren voller Gewürze vorbei, dessen Händler empört rief, als sie fast die Säcke umstieß. „Entschuldigung!“, rief sie über die Schulter und bog in eine schmale Seitengasse ein. Hier musste sich ein großer Menschen aufgrund der zahllosen Fenstersimse, Regenrohre und Vorsprünge ducken, unter denen das Mädchen mühelos durchschlüpfen konnte.
Ein Marktplatz öffnete sich vor ihr, überfüllt mit Menschen, die laut feilschten und Handel trieben. Heute war Markttag und die Anonymität der Masse genau das, was Eva nun brauchte. Sie warf einen Blick zurück und sah, wie die Wächter aus der Gasse traten. Ohne zu zögern, kletterte sie auf einen Stapel leerer Kisten und griff nach einem Fensterbrett. Mit Schwung zog sie sich hinauf. „Da oben ist sie!“, hörte sie einen der Wächter rufen, doch sie war schon außer Reichweite. Sie hechtete über die Dachziegel, die sich von der Mittagssonne aufgewärmt hatten und hielt erst an, als sie bereits mehrere Häuser weiter auf einem der höher gelegenen Dächer anhielt. Der Ausblick auf Nimbusheim war atemberaubend. Unter ihr spitzten Schornsteine, Türme und Brücken aus dem Wolkendunst, am Himmel zogen Zeppeline, Handelsschiffe und allerlei andere Flugobjekte vorbei.
Es dauerte nicht lange, bis Eva die Werkstatt von Kapitän Theodor Graubart erreichte. Der alte Mann saß bereits an einem wackeligen Tisch vor einer dampfenden Schüssel Suppe. „Da bist du ja, Mädchen“, brummte er, ohne aufzusehen. „Ich dachte schon, du würdest das Mittagessen verpassen.“ Der Luftseebär war für Eva das, was andere Leute als ihre Familie bezeichnen würden und oft musste er ihr die Geschichte erzählen, wie er sie als winziges Baby auf einer seiner Überfahrten in der Notkapsel eines Sturmseglers gefunden und sie buchstäblich aus der Luft gefischt hatte. Und jedes Mal aufs Neue musste er ihr berichten, wie sie in eine Decke gewickelt war, am Fuß zwei viel zu große wollene Strümpfe. Ab da war sie praktisch an Bord seines Handelskreuzers groß geworden, bis er sich vor ein paar Jahren in Nimbusheim zur Ruhe gesetzt hatte – nur um nach ein paar Wochen festzustellen, dass er eine Beschäftigung brauchte. Dann hatte er gemeinsam mit seiner Ziehtochter die Werkstatt eröffnet, in er defekte Flugobjekte aller Art reparierte und sie das Probefliegen übernahm.
Eva ließ sich auf einen Hocker fallen, immer noch außer Atem. „Du glaubst nicht, was heute passiert ist.“ Graubart hob eine Augenbraue. „Oh, ich habe da so eine Ahnung. Unser letzter Kunde hat mir von einem tollkühnen Mädchen erzählt, das heute Vormittag die Wache blamiert hat. Vielleicht kennt man sich ja – so unter angehenden Pilotinnen?“ Eva verzog das Gesicht. „Also die haben echt gar keine Ahnung von Luftmanövern. Sollten die Windreiter an der Akademie nicht besser ausgebildet sein?“ Graubart lachte leise. „Du kannst besser fliegen als die meisten in deinem Alter, aber das ist kein Grund, leichtsinnig zu sein. Eines Tages wird dich das noch den Kopf kosten, wenn du nicht ein bisschen aufpasst.“ Eva schlürfte ihre Suppe. „Vielleicht. Aber heute nicht.“
Graubart zog ihr scherzhaft am Ohr, was sie zum Lachen brachte. „Ein bisschen bestrafen muss ich dich natürlich trotzdem. Ich habe einen kaputten Gleiter zur Reparatur bekommen. Du widmest dich schon einmal dem Motor – und ich mich meinem Sofa.“ Damit stand er auf, ging drei Schritte zu dem besagten Möbelstück und ließ sich mit einem behaglichen Seufzer darauf fallen. Eva verdrehte die Augen. „Du schnarchst, während ich schufte?“ „Ich will keine Widerworte hören – und vergiss nicht, den Tisch abzuräumen.“
In der Werkstatt von Kapitän Graubart herrschte ein dämmriges Licht, das durch die einzigen Fenster, von Ruß und Staub bedeckt, nur spärlich hereindrang. Die Luft war geschwängert von einem seltsam beruhigenden Cocktail aus Getriebeöl und dem würzigen Duft seiner Pfeife, die er stets mit Zimtkraut füllte. Ein kleiner Ofen knisterte in der Ecke und an den Wänden türmten sich Regale, deren Bretter sich unter einem Sammelsurium an Ersatzteilen, Schrauben, Drähten, Kabeln und Werkzeug bogen. Es schien ein einziges Chaos zu sein, doch bei genauerem Hinsehen offenbarte sich eine Logik in der Anordnung. In der Mitte des Raumes nahm der kaputte Gleiter den zentralen Platz ein und wartete dort wie ein verletzter Vogel auf seine Genesung. Die Motorhaube war bereits hochgeklappt, und darunter zeigte sich das Herzstück der Maschine – ein kompliziertes Geflecht aus Drähten, Zahnrädern und Kolben. Eva seufzte und machte sich an die Arbeit.
Nach einer Stunde war der Kapitän immer noch nicht aufgetaucht. „Alte Schlafmütze“, murrte Eva und schob suchend mit dem Fuß die auf dem Boden verstreut liegenden Werkzeuge auseinander. Mist, wo war das Abdichtungsventil hingekommen? Unter dem ölverschmierten Lappen vielleicht? Fehlanzeige. Egal, sie hatte sicherlich etwas Passendes im Lager. Eva kramte in Regalen, Schubladen und Kisten, testete und fluchte – aber nichts war zu finden. So ein Mist, was für ein Ärger wegen diesem kleinen Ding! Schließlich gab sie die Suche in der Werkstatt auf und stapfte am schnarchenden Graubart vorbei die Treppe hinauf. Auf Dachboden lagerten weitere Ersatzteile, vielleicht wurde sie dort fündig.
Eine Staubwolke kam ihr entgegen, als sie die Leintücher von einer der gestapelten Kisten zog. Wie lange war hier oben niemand mehr gewesen? Die ersten Kartons erwiesen sich als Nieten, nichts als altes, rostiges Werkzeug und jede Menge verschiedener Schrauben, für die es keine passenden Muttern gab. Da erregte ein lederner Koffer ihre Aufmerksamkeit, der ganz hinten an der Wand unter dem vor Dreck fast blinden Fenster stand. Sie schob sich an den gestapelten Kisten vorbei und streckte die Hand nach dem Koffer aus. Seine Oberfläche war rissig, die einst dunkle Farbe von der Zeit verblichen und der metallene Verschluss wies grünliche Spuren von Korrosion auf. Vorsichtig zog sie ihn hervor, wobei sie darauf achtete, nicht die wacklig gestapelten Kisten zum Einsturz zu bringen. Mit einem kurzen, aber kräftigen Ruck öffnete sie den Verschluss. Ein leises Knacken begleitete den Widerstand des alten Leders, wie als würde es sich weigern, seine Geheimnisse preiszugeben.
Drinnen fand sie ein wirres Durcheinander: Vergilbte Papiere, zerknitterte Notizen und seltsame metallenen Gerätschaften, deren Zweck sie nicht kannte. Ihre Finger glitten durch das Chaos, bis sie ein Stück Pergament spürte, das sich anders anfühlte – dicker, widerstandsfähiger. Behutsam zog sie es hervor. Eine alte Karte entfaltete sich vor ihren Augen, die Kanten ausgefranst, die Linien darauf verblasst, aber noch erkennbar. Es war eine Darstellung der Wolkeninseln, wie sie vor langer Zeit gewesen sein mussten – die Namen einiger Städte waren ihr unbekannt, andere schienen an ganz anderen Stellen zu liegen. Abgesehen von der herrlich detaillierten Darstellung schien die Karte eine Anweisung zu erhalten: Linien aus goldener Tinte verbanden verschiedene Orte miteinander und überall waren in winzigen Lettern Beschriftungen angebracht. Neugierig wandte sie das Pergament und ihr stockte der Atem. Auf der Rückseite war ein vertrautes Muster zu sehen: Eine filigrane Verzierung aus ineinander verschlungenen Ranken und Sternen. Sie erkannte es sofort – es war das Muster ihrer Strümpfe.