Wie merkwürdig sind doch all die Geschichten, die ich bei meinen Reisen auf den Wolkeninseln gesammelt habe – doch keine ist so merkwürdig wie jene, welcher ich auf der Überfahrt nach Himmelsruh begegnete. „Begegnete“ ist in diesem Fall der korrekte Ausdruck, denn der Mann, von dem ich sie erhielt, stolperte mit seiner Erzählung direkt in meinen beschaulichen Nachmittagstee.

Es war ein herrlicher Herbsttag mit strahlend blauem Himmel, die Bäume präsentierten sich in Gold- und Rottönen, während die Nubifer sich langsam vom Dock löste und in die Lüfte erhob. Die Gassen von Flugfels unter uns wurden schnell kleiner, aus den winkenden Menschen rasch nur noch winzige verwaschene Punkte. Gerade genoss ich den Ausblick auf die ziegelgedeckten Dächer und den spitzen Turm der großen Kathedrale, nippte genüsslich an einer heißen Tasse Windtee und ließ den Blick schweifen, als ich plötzlich heftig am Arm gestoßen wurde. Die dampfende Flüssigkeit schwappte über meine Hand und verbrühte mich – verärgert blickte ich auf. „Oh, verzeihen Sie bitte!“ Der Mann, der mich geschubst hatte, griff ohne Umschweife nach meiner Serviette und half mir, das Verschüttete aufzuwischen. Dann setzte er sich einfach zu mir an den Tisch. „Sie sehen aus, als könnten Sie etwas Gesellschaft vertragen“, sagte er dann und angesichts dieser Frechheit hätte ich ihn fast zum Teufel geschickt. Doch etwas in mir hielt mich zurück und heute bin ich dankbar für diese Besonnenheit. „Was erzeugt denn diesen Eindruck?“, gab ich zurück und musterte mein Gegenüber zum ersten Mal genauer. Seine Zugehörigkeit zur Gilde der Navigatoren war unübersehbar. Wem der Anhänger in Form einer Windrose nicht auffiel, der konnte an dem mit Silberfäden bestickten stahlgrauen Innenfutter seiner Uniformjacke ablesen, dass er der richtige Ansprechpartner für Sturmzonen war. Unter den Navigatoren zeigen die verschiedenen Farben ihre Spezialisierung an, so tragen etwa jene, die die bei Nacht sicher fliegen können, Dunkelblau und solche, die vorzugsweise Handelsrouten fliegen, Gold. Mein Tischnachbar trug das Zeichen seiner Zunft auch deutlich im Gesicht. Um sein linkes Auge zeugte ein roter Ring von dem Miniaturfernglas, dass er an dieser Stelle wie ein Monokel bei der Ausübung seines Berufes trug.

„Sie sehen aus wie ein Schwamm“, erklärte er mir. Beinahe hätte ich ein weiteres Mal vor Empörung protestiert, doch schon fuhr er fort: „Wie ein menschlicher Schwamm, der versucht, alles aufzusaugen, was ihm seine Umgebung zu bieten hat. Sie sind ein Geschichtensammler.“ „Wie kommen Sie darauf?“, fragte ich. Nun betrachtete er mich seinerseits ausgiebig. „Nun, das ist nicht schwer“, sagte er und deutete mit einer eleganten Handbewegung auf mich. „Sie haben Tintenflecken auf den Ärmelaufschlägen, in Ihren Taschen raschelt Notizpapier, wenn Sie sich bewegen und Sie haben den unverkennbaren analytischen Blick eines Vertreters der schreibenden Zunft, als Sie mich gerade gemustert haben. Ich hätte da etwas für Sie, daher sagte ich, Sie könnten etwas Gesellschaft vertragen – nämlich meine.“

„Einen weiteren Tee, bitte“, rief ich einem vorbeieilenden Kellner zu, „und das, was der Herr hier bestellt.“ „Für mich eine Nebelmilch.“ Nun, das hätte ich mir denken können: Das cremig-weiße, nahezu transparente Getränk, das aus der Milch von Nebelhirschkühen gewonnen wird, war unter Navigatoren und Piloten sehr beliebt. Man sagte ihm nach, eine beruhigende Wirkung auf den Geist zu haben und die Sinne zu schärfen – aber vielleicht lag die Beliebtheit nur an dem süßen, leicht minzigen Geschmack, der von den Nebelblumen herrührte, die die Kühe auf den höheren Wolkeninseln fanden.

Als unsere Getränke gekommen waren, fragte ich den Fremden nach seinem Namen. „Zacharias Morgenstern“, sagte er etwas zu flink und ich sagte ihm auf den Kopf zu, dass ich gern seinen richtigen Namen erfahren wollte. Er lachte. „Man weiß nie, wem man begegnet, daher habe ich mir ein Alias zur Gewohnheit gemacht. Aber Sie kann ich wohl nicht täuschen. Nennen Sie mich Finn. Mein Nachname tut nichts zu Sache.“ „Gern“, sagte ich, „und Sie haben eine Geschichte für mich?“ „In der Tat“, sagte Finn, „es ist die beste Art von Geschichten. Sie ist nämlich wahr.“ „Dann bin ich Ihr treuer Zuhörer“, antwortete ich und zückte meinen Notizblock, „es ist doch kein Problem, wenn ich …?“ „Nein, schreiben Sie gern alles auf“, nickte er, dann wurde sein Blick plötzlich nachdenklich. „Es ist schon längst an der Zeit, dass dieser Geschichte erzählt wird.“


Die folgenden Aufzeichnungen sind zwar durch meine Hand in eine gewisse „Form“ gebracht worden. Wie ein jeder Geschichtenerzähler habe ich es mir erlaubt, meinen Figuren Worte, Gedanken und vielleicht auch die ein oder andere Tat anzudichten. Aber die Geschichte als solche speist sich aus der Quelle der Wirklichkeit. Ich bin zwar Schriftsteller und daher vor allem meiner eigenen schöpferischen Geisteskraft verpflichtet. Dennoch verfolge ich gleichzeitig den Anspruch, die Erlebnisse meiner vielen Reisen möglichst wahrheitsgetreu zu dokumentieren. Ich weiß nicht, was es ist, das wahre Geschichten für meine Leserschaft so reizvoll macht, aber sie trotzen sie meiner Feder mit einer Leidenschaft ab wie ein Bauer, der seinen gefrorenen Boden pflügen muss. Aus diesem Grund liegt dem hier Geschriebenen nicht nur das Zeugnis des Navigators Finn zugrunde, ich traf auf seinen Hinweis auch weitere seiner Weggefährten und las im Zentral-Archiv der Tempelinsel die Geburtsnachweise der Beteiligten nach. So konnte ich zumindest verifizieren, dass all jene Protagonisten, die auf den nächsten Seiten die absonderlichsten Abenteuer erleben, tatsächlich zur gleichen Zeit die Wolkeninseln bevölkerten. Auch die Wahrscheinlichkeit des Erzählten versuchte ich nachzuprüfen und schulte mich im Bereich der Aeronautik, so gut, wie es ging: So hörte ich ein Semester lang Vorlesungen an der Universität für Angewandte Flugkünste, trieb mich in den Luftfahrerkneipen beim Hafen herum und nahm an den öffentlichen Sitzungen der Inselverwaltung teil, die sich mit der Luftpiraterie auseinandersetzten. Bei einem Besuch der Großen Bibliothek von Nimbusheim, um dort in einem strategischen Handbuch die Taktiken und Manöver der Luftkampfführung nachzulesen, entdeckte ich in den staubigen Regalen eine beeindruckende Sammlung an Werken: Die Kunst des Himmels erläuterte die Regeln und Etikette der Luftschifffahrt, während das Kompendium der Navigatoren die Grundlagen der Luftnavigation vermittelte und vor allem Vorschriften und Verhaltensregeln, die alle Piloten und Navigatoren kennen müssen, enthielt. Das augenscheinlich eher dünne Heftchen Kompass des Windes tauchte erstaunlich tief in das Thema Strömungen und Sturmzonen ein und der Wälzer Zeppelins Erbe offenbarte mir die Geschichte der Himmelsfahrer. Neben einem Atlas der Himmelsrouten, der Handelsstrecken beschrieb, fand ich auch Die Geheimnisse der Schwebenden Gärten, ein einzigartiges Werk über die Pflanzenwelt der Wolkeninseln, das besonders für Luftschiffbesatzungen nützlich ist, die mit exotischen Pflanzen oder Kräutern handeln. Tagelang vergrub ich mich in den Seiten und roch irgendwann selbst nach einer Mischung aus Ledereinbänden, altem Papier und Bücherstaub.

Da ich nicht weiß, wie es um Deine Reiselust bestellt ist, verehrter Leser, will ich an dieser Stelle einige Worte über die Wolkeninseln verlieren. Falls Du sie noch nicht selbst gesehen hast, sei Dir hiermit eine wärmste Empfehlung ausgesprochen. Ihre Vielseitigkeit ist dazu angetan, dem Reisenden den Atem zu verschlagen. Die goldenen Felder von Hochsaat erstrecken sich wie ein lebendiger Teppich in der Luft, die prächtige Windfeste ragt mit ihren scharfen Zinnen stolz über den Wolken und auf dem Flugfels sind der größte Markt, die besten Händler und exotischsten Waren zu finden. Die mächtige Burg Sturmwacht thront als Bollwerk gegen aufziehende Gewitter, ihr gegenüber ihre Zwillingsinsel mit der Festung Donnerhall, wo die Sturmbändiger ausgebildet werden. Die Schwebenden Gärten der Friedhofsinsel Himmelsruh sind ebenso sehenswert wie die Kapellen und Klöster der dortigen Windpriester und Fratres Caelestis, die sich mit den besonderen Bestattungsriten der Wolkeninseln auskennen. Die Piratensiedlung Seelauer und die Blutbucht haben einen rauen Charme, sollten jedoch nur im Überflug und mit genügend Abstand betrachtet werden – ebenso die verlassene Nachtstadt. Wer den Nervenkitzel nicht scheut, kann das Dorf Trübsen besuchen und sich mit dessen trauriger Geschichte vertraut machen. Schließlich ist da Nimbusheim, die unbestrittene Hauptstadt der Inseln, ein Labyrinth aus zahllosen Türen, Türmen und verwinkelten Gassen.

Eine Karte der größten Wolkeninseln.

Fliegen ist in dieser Welt nicht nur eine Notwendigkeit, sondern eine Kunst, die den Himmel über den Wolkeninseln mit einer faszinierenden Vielfalt an Maschinen und Konstruktionen füllt. Große Handelsschiffe, majestätisch und träge, ziehen über die Lüfte und transportieren die Ernten der Felder von Hochsaat in die Städte. Dazwischen durchkreuzen Pendelschiffe die Luftwege, robust und flink, um die Bewohner sicher und zuverlässig von Insel zu Insel zu bringen. Für Passagiere, die das Besondere suchen, bieten luxuriöse Zeppeline mit Kabinen und Panoramafenstern eine stilvolle Möglichkeit, durch den Himmel zu reisen. Neben diesen Kolossen schweben leise Heißluftballons, gemächlich von den Winden getragen, die vor allem von Reisenden genutzt werden, die sich Zeit nehmen wollen, um die Schönheit der Wolkenlandschaften zu genießen.

Doch das Himmelsmeer wird auch von kleineren, wendigen Maschinen belebt, für die es nur auf den Wolkeninseln Namen gibt. Flink wie Schwalben gleiten die Windreiter durch die Luft, leichte Einsitzer mit beweglichen Flügeln, die besonders unter Boten und den Hafenwächtern beliebt sind. Die Sturmsegler, spezielle Gleiter mit robustem Segeltuch, trotzen den Turbulenzen der Sturmzonen und werden vor allem von den Tempestarii, der Gilde der Sturmbändiger, genutzt. Zudem gibt es Leviathane – schwer gepanzerte, massive Kampfmaschinen, die für den Schutz der Luftwege und zur Verteidigung der Inseln gegen Piratenübergriffe im Einsatz sind. An jeder Ecke trifft man auf Flitzkisten, kleine, handbetriebene Flugapparate verschiedener Formen und Farben, die von Kindern genutzt werden, um rasch durch die belebten Flugkorridore zu schlüpfen. Die schönsten sind aber unbestritten die Sternenfalter, zierliche Doppeldecker mit gläsernen Flügeln, die durch ein spezielles Gewebe in der Dämmerung glühen und den Himmel nachts in ein Meer aus tanzenden Lichtern verwandeln.

Ich könnte dir, verehrter Leser, der du unerfahren in der Welt der Wolkeninseln bist, noch so viel mehr erzählen: Von den komplizierten Bräuchen der Begrüßung, die von Insel zu Insel unterschiedlich sind und bei falscher Ausführung schnell zum Eklat führen können. Von den exotischen Stoffen und Webmustern, die die Mode der Wolkeninseln prägen, vom zarten Dunstgewebe bis zum dichten Sturmleder. Von den seltsamen Aberglauben, die den Piloten anhaften – wie das Vermeiden bestimmter Routen an Vollmondnächten oder das Werfen einer Hand von Sand in den Wind, um die Götter für eine glückliche Überfahrt günstig zu stimmen. Von den streng gehüteten Rezepturen für Heilmittel, die aus den Pflanzen des Hochnebels gebraut werden und Wunden schneller heilen oder Flugangst lindern sollen. Von den prunkvollen Festen, die einmal im Jahr zu Ehren des Windgottes Zephyros gefeiert werden, bei denen tagsüber Freifallsprünge von den Docks der Wolkeninseln stattfinden und abends der Himmel von fliegenden Feuern erleuchtet wird. Von den außergewöhnlichen Tierarten wie schimmernden Zwielichtfüchsen oder scheuen Nachtschemen. Von den Geschichten der Alten, die erzählen, dass die Wolkeninseln einst fester Boden waren, bevor die Lüfte sie emporhoben – und dass sie eines Tages vielleicht wieder sinken werden.

Doch Erklärungen dieser Art vermögen allemal ein abstraktes Bild zu zeichnen – lassen wir die Welt der Wolkeninseln lebendig werden!

Ähnliche Beiträge