Adventsgeschichte 2021

Adventsgeschichte 2021
1
Wenn es draußen dunkel wird und die Nacht hereinbricht, wollen viele Kinder nicht ins Bett gehen. Erst versuchen sie, sich möglichst unauffällig zu verhalten, während die Eltern im Wohnzimmer fernsehen, in der Hoffnung, vergessen zu werden, dann drücken sie sich vor dem Zähneputzen und am Schluss gibt es Tränen. Dann setzt sich ein Elternteil ans Bett, schaltet die Nachttischlampe ein und liest noch ein wenig vor. Die Eltern sind oft verwundert und noch öfter selbst sehr, sehr müde. Wie gern würden sie jetzt ins Bett gehen und ins Land der Träume gleiten! Sie haben keine Angst davor, das Licht in ihrem Schlafzimmer auszuschalten – warum auch? Für sie ist der Schlaf ein rares Gut geworden, schon allein der Gedanke an Schlaf macht sie müde. Doch genau hier liegt das Problem: Erwachsene Menschen sind im Alltagstrubel blind geworden für die nächtlichen Schatten. Für sie ist die Nacht zur Voraussetzung geworden, dass der nächste Tag möglich wird. Sie brauchen die ungestörten, stillen Stunden, um Kraft zu tanken. Kinder hingegen fühlen genau, dass sie sich in einem hellen Zimmer unbekümmert bewegen können, im Dunklen stattdessen schnell unter die Bettdecke flüchten. Für sie ist die Nacht etwas, das überstanden werden muss.
Woran liegt das, fragt ihr, meine lieben Leser? Könnt ihr euch denn nicht daran erinnern, als ihr selbst Kinder wart, an das ungute Gefühl, in völliger Finsternis zu erwachen? Hört ihr nicht mehr das geheimnisvolle Knistern, ein Knacken im Gebälk, Geräusche aus der Dunkelheit, die ihr nicht zuordnen konntet? Da! Ihr spürt einen leichten Luftzug auf dem Gesicht, als hätte sich eure Zimmertür geöffnet. Aufflammende Panik, in der ihr tastend den Lichtschalter sucht, schnelles Umsehen im plötzlich hellen Zimmer, ob etwas in der Ecke lauert! Fühlt ihr noch die nackte Angst bei der Vorstellung, unter das eigene Bett zu sehen? Das merkwürdige Gefühl am nächsten Morgen, dass man sich doch im Grunde schrecklich kindisch verhalten hat? Und doch fürchtet man sich jede Nacht auf’s Neue wieder und wieder und wieder vor der Dunkelheit.
Könnt ihr euch erinnern? Ich zumindest kann es. Wollt ihr nun, da ihr älter seid, denn nicht endlich wissen, was genau euch des Nachts solche Angst gemacht hat? Begeben wir uns doch gemeinsam in ein zufälliges Kinderzimmer, irgendwo auf der Welt, ganz egal, wo. Setzen wir uns in den – zugegebenermaßen etwas kleinen – Polstersessel in der Zimmerecke und warten darauf, dass die Nacht kommt.
2
„Ich will noch nicht schlafen gehen!“, tönt es aus dem Wohnzimmer, untermalt von sanften Klängen der Sandmännchen-Melodie. Kurz darauf schaltet die Mutter das Licht im Kinderzimmer an und schlägt die Bettdecke auf. Ein zermürbtes Kind betritt den Raum, sichtlich erschöpft, jedoch laut Eigenaussage kein bisschen müde. Zähneknirschend schwingt es sich ins Bett, genau darauf achtend, die Füße schnell aus den Pantoffeln zu ziehen und keine Sekunde zu lang vor dem klaffenden Spalt zwischen Bett und Boden zu lassen. „Kannst du noch etwas vorlesen?“, fragt Leo und zieht das Märchenbuch vom Nachttisch. „Na gut, aber nicht mehr so lange“, sagt Mama und schlägt das Buch auf. „Was darf es denn sein, der Herr?“ „Schneekönigin!“, ruft Leo, wohl wissend, dass dieses Märchen sehr, sehr lang ist, seine Mutter aber nie ablehnt, es zu lesen. Es ist ihr Lieblingsmärchen und sie liest es wunderbar vor. Mama murrt, aber der Plan geht auf.
Beim gelben Schein der Nachttischlampe – eine Schildkröte, deren Glaspanzer von innen heraus leuchtet – hört Leo vom Teufel und seinem zerbrochenen Spiegel, den Splittern, die in Kais Herz und Auge geraten, seiner Zeit im Eispalast der Schneekönigin, Gerdas Suche nach ihm und … da ist er schon eingeschlummert. Er hat nicht einmal gemerkt, dass Papa gekommen ist und es sich am Fußende seines Bettes bequem gemacht hat. Die Mutter schließt leise das Buch, Ziel erreicht, Kind schläft. Sie weckt ihren mittlerweile ebenfalls dösenden Ehemann und die beiden verlassen den Raum. Die Tür quietscht leicht, als sie sie heranziehen und auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer zurückschleichen. Wir, liebe Leser, sitzen immer noch im Sessel, mittlerweile in fast vollständiger Dunkelheit. Nur der Mond scheint durch die Gardinen und malt Schatten auf die Wände. Auch der Schnee vor dem Fenster reflektiert das Licht und so können wir noch genug sehen.
Leo atmet ruhig, seinen braunen Teddybären fest im Arm. Am Kopfende des Bettes wachen die anderen: Ein Elefant in einer abgewetzten Latzhose, ein Elch mit dickem Wollschal und in einem Pullover (beides hat die Großmutter ihm auf den Leib gestrickt) und eine sehr flauschige Eule. Sie alle werden morgen wieder Teil großer Abenteuer sein, doch bis dahin warten sie aufgereiht auf einem kleinen Sims auf das Ende der Nacht.
Doch was ist das? Ein Kratzen wird hörbar. Krallen, die über den Holzboden schaben. Wir richten uns in unserem Sessel auf, uns hat die nächtliche Szene auch ein wenig müde gemacht. Ist der Kater noch im Zimmer? Nein, er hat den Raum schon vor einer Weile verlassen, nachdem er lange schnurrend auf Leos Decke lag. Wieder das Kratzen. Was kann das sein – eine Maus? Aber Mäuse haben doch … keinen langen Tentakel, der sich aus den Schatten unter dem Bett hervor kringelt?
3
Wir sehen entsetzt, wie nachtschwarze Greifarme, erst einer, dann zwei, dann fünf sich nach oben bewegen, stetig auf das schlafende Kind zu. Da! Schon hat sich ein Tentakel wie ein dickes Tau um die Beine gewunden, ein anderer kriecht über den Bettgiebel und tastet nach dem Kopf. Wir wollen aufspringen, eingreifen, das Kind beschützen! Nun, wir sind stille Zuschauer, haben keine Möglichkeit, etwas anderes zu tun als das Schauspiel voller Schrecken zu beobachten. Nun hebt sich ein Kopf hinter dem Bett hervor, quetscht sich hervor aus der Lücke zwischen Matratze und Wand. Rote Augen leuchten im Pechschwarz, wir hören ein Schmatzen und der Mond schimmert silbrig auf einer Reihe scharfer Zähne. Das Kind schläft arglos, während die Kreatur wie eine dunkle Wolke über ihm aufwallt, alles mit ihren Armen umschlingt, als wollte es das Bett mitsamt dem Schlafenden darin zerdrücken.
Plötzlich kommt Bewegung in die Gesellschaft auf dem Sims. Die Eule hat ihre leuchtend gelben Augen weit aufgerissen und flattert aufgeregt mit den Flügeln. Sie rempelt den Elch an, der den gehörnten Kopf verschlafen schüttelt und damit den Elefanten weckt. Der blinzelt, richtet sich auf und gibt ein erschrecktes Tröten von sich. Nun regt sich auch der Teddy. Er erkennt die Gefahr sofort. Er windet sich sanft aus dem Griff des Kindes, kriecht unter der Decke hervor. Schnell bewegt er sich auf seinen kurzen Beinen zum Kopfende des Bettes, wo sich ein Tentakel gerade um den Hals des Jungen schlingt. Das Kind wird unruhig, wehrt sich im Schlaf und schnappt nach Luft. Doch die Tentakel ziehen sich fester. Suchend blickt sich der Bär im Zimmer um, er braucht eine Waffe. Auf dem Nachttisch liegt ein hölzernes Lineal, welches die Mutter als Lesezeichen benutzt hat. Es wird ausreichen müssen.
Das Monster bleckt die Zähne, ein schwarzer Sabberfaden läuft ihm aus dem Maul. Sein stinkender Atem verpestet die Luft, wir können ihn drüben auf unserem Sessel riechen und unser Magen verkrampft sich vor Ekel und Angst. Langsam beugt sich die Kreatur über den Kopf des Schlafenden und reißt das Maul weit auf – gleich wird sie zuschnappen! Da trifft sie ein harter Schlag mit dem Lineal. Das Monster macht ein halb überraschtes, halb schmerzerfülltes Geräusch und der Griff der Tentakel lockert sich für einen kurzen Moment. Das nutzt der Bär aus. Er schlägt kräftig auf den Arm, welcher den Hals des Jungen zudrückt. Nun zuckt die Kreatur zurück, erholt sich jedoch schnell und fixiert den Feind aus roten Schlitzen. Erst dieser lästige Kerl, denkt sie wohl, dann kann man sich in Ruhe an das Kind machen. Sie bringt sich in Stellung, richtet sich hoch über ihn auf, alle Tentakel zum Angriff bereit, das Maul halb geöffnet, leise grollend. Der Bär lässt seinen Gegner seinerseits nicht aus den Augen, die hölzerne Waffe fest im Griff. „Verschwinde“, brummt er leise und wir hören zum ersten Mal seine Stimme. Sie ist tief und warm, wie Honig aus dunklen Waben.
4
„Verschwinde dahin, wo du hergekommen bist“, sagt er ruhig, „sonst wirst du es bereuen.“ Das Monster zögert noch. Der Bär holt mit der hölzernen Waffe aus, deckt den Gegner mit Schlägen ein. Jeder Tentakel, der sich in seiner Nähe befindet, zieht sich empfindlich getroffen ins Dunkel zurück. Dann richtet er sich auf, stellt sich auf die Hinterbeine, um sich so groß zu machen, wie er nur kann. Dann brüllt er. Laut, tief röhrend, bedrohlich. Er ist ein Braunbär, immerhin. Das Geräusch geht uns durch Mark und Bein, weckt auch in uns eine schreckliche Angst. Wir fühlen uns nackt und wehrlos, zurückgeworfen in die Wildnis. Froh sind wir, nicht in der Haut seines Gegners zu stecken.
Die Drohgebärde verfehlt ihre Wirkung nicht. Auch Monster, selbst die schändlichsten, verspüren Furcht. Das Wesen zieht sich zurück. Wie schwarze Tinte, die von einem Löschpapier angezogen wird, fließen die Tentakel in den Spalt unter das Bett. Schließlich ist das Monster ganz verschwunden und dass es jemals da war, wirkt wie ein böser Traum. Der Bär lässt das Lineal sinken und blickt zu dem Kind, das bald wieder ruhig vor sich hin atmet.
Da erhebt sich die Eule in die Luft. Sie gleitet auf weiten Schwingen lautlos nach unten und landet, ohne ein Geräusch zu verursachen, auf dem Federbett. „Hervorragend!“, flötet sie und klickt mit dem Schnabel. Der Bär lässt sich neben den Vogel nieder und verschränkt die Pranken vor der Brust. Er runzelt nachdenklich die Stirn. „Das war bereits das dritte Monster diese Woche“, knurrt er, „die Angriffe werden häufiger.“ Die Eule nickt. „Zumindest hat unsere Wache dieses Mal gut geklappt“, gibt sie zurück. „Gut geklappt?“ Der Bär wirkt verärgert. „Das nennst du „gut geklappt“, Hula? Ole verpennt den Angriff und Priya hat viel zu leise getrötet!“ Er zeigt anklagend nach oben zum Sims. Die Elefantin hat ihn nicht gehört und winkt ihm fröhlich mit dem Rüssel zu, der Elch liegt hingegen schon wieder auf der Seite und schnarcht. Die Eule rollt mit den Augen und plustert sich auf. „Du bist ein elender Schwarzmaler“, murrt sie, „du könntest ruhig mal anfangen, die Dinge positiv zu betrachten.“ Sie beginnt sich das Gefieder zu putzen. Einige Minuten vergehen, dann hält sie die Stille nicht mehr aus. „Jetzt sag schon, was ist los mit dir?“ Der Bär lässt seinen Blick lange durch das dunkle Zimmer schweifen, dann schaut er auf das schlafende Kind. „Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem ich Leo nicht mehr beschützen kann“, brummt er leise. „Dieser Tag wird niemals kommen, Halvor“, sagt die Eule, „aber du hast Recht. Was wir bisher getan haben, reicht nicht. Wir brauchen einen Plan, um das Gesindel ein für alle Mal aus diesem Zimmer zu vertreiben.“
Und so, meine lieben Leser, beginnt die Saga von Halvor, dem mutigen Bären – obwohl, sind wir denn nicht schon mittendrin?
5
Für jeden Bären, der irgendwann zu einem Kind gelangt, nimmt die Geschichte am selben Ort ihren Anfang. Man kann ihn auf keiner Landkarte finden und doch ist er ganz real.
Halvors Bärenleben begann mit Kälte. Er erwachte, wie so viele vor ihm, in einer Kuhle im Schnee. Er streckte sich, richtete sich auf und schüttelte den Pelz. Verwirrt blickte er sich um. Um ihn herum Fichten und Tannen, er befand sich tief im Wald. Kein Windhauch war zu spüren, nur weiße Flocken rieselten von den Ästen der Bäume sanft auf ihn nieder. Sein Atem stob in Wölkchen in die kalte Luft. Wo war er? Vor sich nahm er einen schwachen Geruch wahr, der ihm vertraut vorkam. Es roch nach … Zuhause. Zuhause? Der junge Bär konnte kein Zuhause kennen, war er doch eben erst in diese Welt gekommen und doch erschien es ihm, als läge irgendwo zwischen den Bäumen ein Ort, der ihn mit unerbittlicher Kraft an sich zog. Da entdeckte er im Schnee eine Spur.
Es waren große Tatzenabdrücke, die direkt an der Stelle begannen, wo er gelegen hatte. Er setzte vorsichtig seine Pfote daneben. Die Spuren glichen sich aufs Haar – zugegeben, seine waren etwas kleiner. Doch sie führten von ihm weg, schlängelten sich zwischen den Stämmen hindurch und verliefen sich in der weißen Ferne.
Zögerlich folgte er der Spur und als er eine Weile gegangen war, konnte er weit entfernt den Eingang zu einer Höhle erkennen. Ihr Eingang wurde von einem steinernen Torbogen umrahmt. Je näher er kam, desto besser sah er die beiden Statuen, die links und rechts der Öffnung aufgestellt waren. Riesige Bären, aufgerichtet, mit Äxten und Helmen, die Mäuler aufgerissen und bereit zum Angriff. Ohne ein Wort sprachen sie zu ihm: „Kehr um, wenn du Böses im Schilde führst!“ Aber Halvor wollte nur ins Warme und was das Böse war, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. So passierte er das Tor. Dahinter eröffnete sich ihm ein düsterer Gang. Aus den Wänden ragten Wurzeln, der Boden war uneben und man musste aufpassen, wo man seine Tatze hinsetzte. Immer wieder erschrak er vor weiteren Steinfiguren, mächtige Bären, die eindrucksvolle Waffen trugen. Ganz am Ende des Gangs leuchtete ihm aus einer gebogenen Öffnung der warme Widerschein eines Feuers entgegen.
Bevor Halvor den Raum betrat, schnupperte er erneut. Es roch nun sehr vertraut, dazu mischte sich verbranntes Holz, der Duft nach gebratenem Fleisch und eine süßliche Note, die er noch nicht zuordnen konnte. So fasste er allen Mut zusammen, durchschritt den Bogen und staunte. Vor ihm lag eine große Halle – oder doch eher Höhle? An die Wände reihten sich noch mehr Statuen, allesamt bewaffnete und bewehrte Bären. Auch hoch oben auf einer Galerie standen sie und blickten grimmig ihn herab. Hier und da öffnete sich ein Feuerloch in der Wand, in dem es loderte und prasselte. Der Raum hatte eine hohe Kuppel, die schwarz von Ruß war und weit hinauf reichte, sodass der kleine Bär seinen Kopf in den Nacken legen musste und doch kein Ende sah. Das Herzstück der Halle bildete jedoch ein mächtiger, runder Tisch. An diesem saßen zu Halvors Überraschung keine steinernen, sondern lebendige Bären. Braun, schwarz, grau, sogar einige Eisbären waren dort versammelt und alle trugen Rüstungen. Auf einem besonders prachtvoll geschnitzten Thron saß ein grauer, einäugiger Bär, der größer war als alle anderen. Nun merkte Halvor plötzlich, dass bei seinem Eintreten alle verstummt waren und der Große ihn mit seinem verbliebenen Auge direkt ansah. „Willkommen, Halvor“, dröhnte seine Stimme und hallte bis in die höchsten Höhen der Kuppel nach, „wir haben dich schon erwartet.“
6
Halvor stand wie erstarrt, doch es blieb ihm keine Zeit, sich zu fürchten. Ein junger Schwarzbär war auf ein Zeichen des Großen aufgesprungen und kam zu ihm geeilt. „Hab keine Angst“, sagte er fröhlich und klopfte ihm mit der Tatze auf die Schulter. „Du bist jetzt zuhause. Ich bringe dich zu deinem Platz an der Kleinen Tafel.“ Er tollte vor ihm her und als er dem anderen folgte, sah Halvor, dass sich hinter dem großen Tisch noch ein weiterer befand, an dem andere Bären saßen. Sie trugen keine Rüstungen und alle waren noch ebenso klein wie er. Da diese Tafel niedriger war, erkannte er, dass sie voller Essen war – daher rührte der verlockende Duft also her. Zwei Plätze waren noch frei und der Schwarzbär wies auf einen von ihnen. „Hier sitzt du“, erklärte er, „neben mir.“ Dann schwang er sich auf den hölzernen Stuhl und wartete, bis auch sein Sitznachbar Platz genommen hatte. „Wo sind wir hier?“, wollte Halvor wissen, doch der Schwarzbär bedeutete ihm, still zu sein. „Wirst du gleich erfahren“, flüsterte er beschwichtigend.
Der große Bär erhob sich und richtete sich in seinem Thronsessel auf. Sein Fell glänzt silbrig im Schein des Feuers und das blinde Auge schimmerte ungewöhnlich hell darin. Mit dem anderen fixierte er die Versammlung. „Brüder und Schwestern, ich bitte euch, begrüßt Halvor in unserer Runde!“ Nun brach ein Lärm los, der den kleinen Bären fast vor Schreck von seinem Platz getrieben hätte. Die mächtigen Tiere schlugen mit den Pranken auf die Tische und skandierten „Halvor! Halvor! Halvor!“ Nur ein Wink des Großen brauchte es, da verstummten sie sofort. Dieser schlug nun einen sanften Ton an: „Halvor, du fragst dich bestimmt, was das hier für ein Ort ist. Mit Stolz kann ich dir berichten: Du befindest dich in der Halle der Helden. Zahlreiche Bären haben vor dir an diesem Platz gesessen und zahlreiche Bären nach dir werden dort sitzen. Du reihst dich als Perle in eine lange Kette von Ahnen, die heldenhafte Taten vollbracht haben und auch du wirst am Ende deiner Ausbildung heldenhafte Taten vollbringen. Sieh zu uns herüber an den Großen Tisch der Krieger! Eines Tages wirst du den Platz an ihrer Seite einnehmen. Doch nun speise mit uns Halvor, denn dein Weg ist noch lang und du wirst dich stärken müssen!“ Das Festmahl war köstlich. Vor Fett triefendes Fleisch, gebratene Wurzeln, frische Pilze und Beeren, so viel, wie sich ein Bär nur wünschen konnte. Zu trinken gab es Quellwasser und einen merkwürdig schmeckenden Trunk, der einen leicht benommen machte. „Trink nicht zu viel davon“, warnte ihn der Schwarzbär, der sich ihm als Kenai vorgestellt hatte. Halvor hatte sich von ihm das Konzept der Namen erklären lassen müssen und erfahren, dass jeder Bär einen trug. „Nur der Große nicht, wir nennen ihn nur den Grauen.“
„Und warum gibt es zwei unterschiedliche Tische?“, wollte Halvor wissen, als Kenai und er sich einen Topf mit einer klebrigen, köstlich-süßen Masse teilten, die der Schwarzbär Honig nannte. „Am Großen Tisch dürfen die gestandenen Krieger sitzen“, schmatzte Kenai und schleckte seine Tatze ab. „Durch ihre Heldentaten haben sie ihren Platz an der Seite des Grauen verdient. Wir aber sind noch nicht so weit. Wir müssen noch lernen.“ „Aber wofür?“, fragte Halvor, doch Kenai winkte ab. „Das wirst du noch früh genug erfahren und wenn ich ehrlich bin, zöge ich es vor, noch einige Zeit unbehelligt bei diesen herrlichen Festmählern bleiben zu können. Aber unsere Ausbildung beginnt bald und danach werden wir lange Zeit nicht mehr an diesen Ort zurückkehren können.“
7
Und wie die Ausbildung begann! Schon früh am nächsten Morgen wurde Halvor, der in seiner gemütlichen Schlafhöhle schlummerte, unsanft geweckt. Nach einem kargen Frühstück scheuchte man die kleinen Bären nach draußen. Dauerlauf im Schnee, Fechttraining mit hölzernen Schwertern, Selbstverteidigung mit Klauen und Zähnen, all das übten sie täglich bis spät in den Abend hinein. Gelegentlich, wenn draußen ein Sturm tobte, sperrte man sie in einen langweiligen Unterrichtsraum und ein strenger Brillenbär brachte ihnen die Feinheiten der Fellpflege bei oder quälte sie mit den Namen und Daten großer Schlachten.
Die Abende waren Halvor am liebsten. Nach dem Festmahl drängten sich die Bären um die Feuer und die Jungen lauschten den Geschichten zu den Füßen der alten, gestandenen Krieger. Einmal berichtete eine kräftige Bärin mit schneeweißem Fell, wie sie nur mit einem Zahnstocher bewaffnet eine ganze Horde Feinde abgewehrt hatte. „Was ist ein Zahnstocher?“, wisperte Halvor seinem Freund Kenai zu, der ihm pantomimisch die Antwort zu geben versuchte und dabei so albern aussah, dass Halvor lachen musste. Ein anderes Mal geriet ein schon ergrauter Pandabär bei seiner Erzählung so in Wallung, dass er aufsprang, sich seinen kurzen Säbel von der Wand griff und gegen unsichtbare Gegner die Schlacht nachspielte, aus der er heldenhaft hervorgegangen war. Seine trotz seines fortgeschrittenen Alters makellose Kampftechnik beeindruckte Halvor. Vor zwei mächtigen Grizzlys, die auch in der Halle ihre gehörnten Helme und Morgensterne trugen und dadurch sehr martialisch aussahen, hatte er Angst, jedoch nur bis zu dem Tag, an dem sie ihn einluden, mit ihnen einen Honigtopf zu teilen und sich dabei als ziemlich redselige Klatschtanten herausstellten.
Was das Kämpfen betraf, machte Halvor schnell Fortschritte. Jeder Bär zeigte in einer bestimmten Kampftechnik ein besonderes Talent und seine Begabung war eindeutig der Schwertkampf. Keine Strohpuppe war vor seiner Klinge sicher und bald machte er sich einen Ruf als gefürchteter Trainingsgegner. Doch im Nahkampf, ohne Waffe, konnte er gegen Kenai nicht bestehen. Überwand der Schwarzbär erstmal seine Angst und stellte sich auf seine Hinterbeine, um die Pranken frei zu haben, half nur noch Ausweichen. So wuchsen die jungen Bären rasch zu begabten Kämpfern heran und bald konnten ihre Lehrer ihnen nichts Neues mehr beibringen. Halvor spürte, dass seine Tage in der Großen Halle gezählt waren und es überraschte ihn nicht, als er und seine Altersgenossen eines Abends statt zum Festmahl hinaus in den Schnee geführt wurden.
8
Es war Nacht und zwischen den Kronen der hohen Bäume blinzelten bereits die ersten Sterne hervor. Halvor sah überrascht, dass den Weg, den er einst zur Höhle hinaufgekommen war, nun Fackeln säumten. Nun muss ich Abschied nehmen, dachte er und ein Anflug von Traurigkeit überkam ihn. Doch er verscheuchte das Gefühl sofort. Er war doch ein tapferer Bär – und lagen denn nicht unheimlich viele Abenteuer vor ihm? Nun hatte er die Möglichkeit, ein Held zu werden, so wie all die anderen mächtigen Krieger vor ihm. Was sollte die Traurigkeit? Er konnte es kaum erwarten! Er bemerkte, dass Kenai bedrückt neben ihm herschlurfte und warf seinem Freund einen aufmunternden Blick zu.
Bald erreichten sie eine Waldlichtung, auf der sie noch nie zuvor gewesen waren. Alle Augen richteten sich zunächst auf die große steinerne Statue in der Mitte des Platzes. Sie stellte eine kräftige, auf den Hinterbeinen stehende Bärin dar und sie war handwerklich so gut gearbeitet, dass man doppelt hinsehen musste, um sicherzugehen, dass sie sich nicht doch bewegte. Jemand hatte den Stein mit Tannenzweigen, Hagebutten und weißen Christrosen geschmückt. Zu ihren Füßen standen Schalen mit Honig und Beeren und alles war getaucht in den flackernden Schein der Fackeln. Da erkannte Halvor den Grauen, der von einer Gruppe Bärinnen umzingelt war. Sie trugen Kränze aus Christrosen auf den Köpfen und setzten dem Grauen gerade eine eiserne Krone auf, dann reichten sie ihm einen mächtigen Speer in die Pranke. Als die Jungen die Lichtung betraten, drehte sich der Graue zu ihnen um und mit einem Wink eilten die anderen Bären zu ihnen, begannen sie vom Schneematsch der kurzen Wanderung zu reinigen, ordneten ihnen den Pelz und wiesen sie an, sich in einem Halbkreis aufzustellen. Dann erhob der Graue das Wort.
„Brüder und Schwestern“, donnerte seine Stimme laut durch den stillen Wald, „für euch bricht nun eine andere Zeit an. Wir haben uns hier, so wie es Brauch ist, am Platz der Göttin versammelt, um unseren heiligsten Eid zu schwören. Nun frage ich euch: Seid ihr bereit, euch im Namen der Göttin draußen in der Welt einen Namen zu machen? Seid ihr bereit, euch, allen Bären vor und nach euch durch eure Taten nichts als Ehre zu machen? Ich frage euch: Schwört ihr, dass ihr die Helden seid, zu denen wir euch erzogen haben?“ Halvor und alle anderen stimmten ein röhrendes „Ja!“ an, dass die Bäume im Umkreis erzitterten. Eis und Schnee regneten in großen Brocken auf sie nieder. Nun gingen die Bärinnen herum und malten ihnen mit einem Gemisch aus Honig und roter Erde ein Zeichen auf die Stirn – in Kenais schwarzem Fell war es kaum sichtbar, bei den Eisbären wiederum sah es sehr eindrucksvoll aus. Dann musste jeder der Jungen vortreten und durfte für einen Moment den Speer des Grauen halten, während dieser ihm seine Pranke auf den Kopf legte. Als er Halvor berührte, durchzuckte diesen das Gefühl, dass nichts auf der Welt ihn aufhalten könne. Er fühlte sich stark, mächtig, unbesiegbar.
Mit einem Zeichen seiner Pranke bedeutete der Graue ihnen, sich in einem engen Halbkreis um ihn zu versammeln. „Die Göttin wird bei euch sein, selbst in eurer dunkelsten Stunde“, beschwor er sie, „und wird euch schützen und beistehen, so wir ihr ab sofort schützen und beistehen werdet.“ Er stieß seinen Speer kraftvoll in den schneebedeckten Boden, ein weißes Licht flammte vor Halvors Augen auf und er fiel rückwärts in die Dunkelheit.
9
„Mama?“ Eine helle Stimme drang in Halvors Bewusstsein, doch er wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Der Bär fühlte, wie etwas nach ihm tastete und spürte aufgeregten Atem in seinem Pelz. „Mama?“, wiederholte die Stimme, „da da – Teddy!“ Dann wurde er plötzlich in die Luft gehoben. Halvor blinzelte und schlug die Augen auf. Über ihm ragte ein strahlendes Kindergesicht auf und eine winzige Hand befühlte das Fell an seinem Kopf. „Weich“ sagte der Junge und blickte ihn liebevoll an.
Im Nachhinein wunderte es Halvor, wie schnell Leo und er Freunde wurden. Das Kind hatte ihn seit dem ersten Augenblick in sein Herz geschlossen und von dem Tag an musste Halvor ihm überall hin folgen, das war Gesetz. Einige Male wurde der Bär zwar im Kindergarten vergessen, doch spielten sich wohl derartige Dramen ab, dass die genervten Eltern jedes Mal zurückkehrten, um ihn abzuholen und ihn einem verheulten, schniefenden Leo in den Arm zu drücken. Anfangs interessierte sich der Junge hauptsächlich für Bauklötze und Halvor musste quälende Stunden neben immer wieder einstürzenden Neubauten verbringen. Schnell stellte er fest, dass er sich, wenn die Erwachsenen in der Nähe waren, aus einer plötzlich eintretenden, unerklärlichen Starre nicht lösen konnte. Doch sobald die Großen weg waren, machte er sich einen Spaß daraus wegzulaufen und sich in einiger Entfernung zu verstecken, sobald sich Leo umdrehte. „Teddy!“, quietschte Leo dann und erhob sich, um auf unsicheren Beinen hinter ihm her zu wackeln und ihn einzufangen. Dadurch konnte der kleine Junge bald sicher laufen und schnell wurden die Spiele ausgefeilter.
Eines Tages stand eine große Ritterburg im Kinderzimmer und Halvor wurde zum Ritter von der prächtigen Gestalt, mit einer speziell für ihn angefertigten Rüstung und hölzernem Schwert. Leo und Halvor besiegten Drachen, befreiten das Schlossvolk von Tyrannen, richteten Turniere aus und versuchten immer wieder, die defekte Zugbrücke zu reparieren, allerdings ohne großen Erfolg.
Als Leo in die Vorschule kam, waren die Tage zunächst sehr einsam. Doch wie als hätte es der kleine Junge gespürt, setzte er Halvor einen Freund vor. „Also, pass auf“, sagte er und positionierte den Bären am Kopfende der Rittertafel. „Bitte begrüßen Sie“, rief er und ahmte eine Fanfare nach, „Ritter Ole von Örebrö!“ Ein freundlicher Elch wurde neben dem Bären in einen Stuhl platziert, er trug ein mächtiges Geweih und einen kuscheligen Norwegerpullover.
„Hallöchen und söchen“, sagte der Elch und grinste, nachdem Leo zum Abendessen gerufen wurde. Halvor blickte ihn fragend an. „Ja ja, man hat’s nicht leicht, doch leicht hat’s einen – was verschlägt dich in diese Gefilde, Hilde?“ „Ich heiße Halvor“, gab Halvor verdutzt zurück, doch der andere plapperte schon weiter. „Na Mensch, das ist mir doch Igel, Kollege – ohne Planung keine Ahnung. Ich will doch nur wissen, is’ hier alles Roger in Kambodscha? Oder sach ich gleich tschau Kakao, wir sehn uns am Nil, Krokodil?“ „Ich bin ein Bär …“ „Ah ja, ich seh‘ schon, der Laie staunt und der Fachmann wundert sich. Mensch mein Bester, ich mach doch nur ‘n Späsken – mitgedacht und Spaß gehabt heißt bei mir die Devise.“ Er lachte röhrend und trommelte mit den Hufen auf den Tisch. Halvor verdrehte die Augen.
10
Abgesehen von seiner Vorliebe für Wortwitze war Ole jedoch ein feiner Kerl, das merkte Halvor schnell und bald freundeten sich die beiden an. Die nächste in der Runde war die Eule Hula. Sie saß eines Tages auf dem Bettgiebel, schüttelte ihr Gefieder und nahm in einer leeren Pralinenschachtel Platz, von der aus sie das ganze Zimmer im Blick hatte. Sie erklärte nie, woher sie kam, doch sie zeigte sich als fantastische Zuhörerin und einfühlsame Freundin, die sogar über Oles Witze lachen konnte. Zuletzt stieß Priya zur Gruppe, sie war ein Geschenk von Leos bester Freundin, die mit ihren Eltern in den Sommerferien nach Indien gereist war. Priya war eine hübsche Elefantin in einer hellblauen Latzhose und hatte eine Vorliebe für Abenteuergeschichten. Damit konnte Halvor, der davon reichlich an den Feuern der Großen Halle gehört hatte, dienen und so saßen die Kuscheltierfreunde oft an ihrer Tafel zusammen und alle lauschten gespannt dem Bären, der von den heldenhaften Taten berichtete.
Natürlich gab es auch andere Akteure im Kinderzimmer, aber sie spielten für die Gruppe keine große Rolle. Da gab es ein Krokodil, das meistens philosophierend auf dem Regal hockte und trotz seiner Größe zu nichts zu gebrauchen war und mehrere hochnäsige Puppen, die Leos Schwester immer wieder in seinem Zimmer vergaß. Mit den Ritterfiguren war überhaupt nichts anzufangen. Bereits bei ihrer ersten Begegnung forderten sie Halvor zum Kampf heraus, der Bär hatte sie natürlich vernichtend geschlagen. Seitdem hockten sie beleidigt im Bergfried und warfen mit Papierkügelchen nach ihm, sobald er vorbeiging. Am schlimmsten aber war Hörnle, ein rotes Eichhörnchen, das Leos Eltern aus dem Schwarzwald mitgebracht hatten. Es sprach in einem grässlichen Dialekt, den niemand verstand und stahl alles, was es in die Pfoten bekam, um es irgendwo zu verstecken. Darunter befanden sich auch nicht selten Leos Schlüssel, was ihm immer wieder Ärger einbrachte – „wie kann man nur so vergesslich sein!“, schimpfte Mama – und irgendwann musste Halvor ein Machtwort sprechen.
Doch eines Tages brachen die Monster in das so friedliche Kinderzimmer. Für jedes Kind kommt irgendwann der Moment, an dem es anfängt, das Böse zu fürchten. An einer Stelle gibt es einen Riss in ihrer heilen Welt und hindurch dringen, wenn man nicht aufpasst, die Schatten. Schon beim ersten Angriff war Halvor bereit und schlug die Kreaturen zurück in die Dunkelheit, aus der sie gekommen waren. Als er danach schwer atmend auf der Bettdecke hockte und Hula seine Wunden versorgte, schloss sich für ihn der Kreis. Seine Bestimmung im Leben war es, auf diesen Jungen achtzugeben – koste es, was es wolle! Seine Ausbildung, die Worte des Grauen, sie ergaben plötzlich Sinn und standen im Einklang mit dem, was er bereits die ganze Zeit tief im Inneren gespürt hatte. Leo war seine Bestimmung und Halvor war sein erster, sein einziger Bär.
11
„Hula, das klingt ja so, als hättest du einen Plan?“ Halvor blickte seine Freundin fragend an. Die putzte sich am Rücken und vollführte dabei mit ihrem Kopf beinahe eine vollständige Drehung. Der Bär verzog das Gesicht. „Und hör bitte auf mit diesem Kopfgedrehe, das sieht schrecklich aus!“ Blitzschnell wandte die Eule den Kopf zurück. „Wenn es mich doch am Rücken kratzt“, klagte sie, „ich glaube, ich komme in die Mauser.“ „Ach was, Mauser!“, brummte Halvor, „Konzentration bitte! Dritter Monsterangriff in dieser Woche? Bist du wieder auf der Höhe?“ Hula nickte. „Ich denke, es wäre gut, den Attacken im Schutz der Ritterburg begegnen zu können“, sagte sie nachdenklich, „dann können wir die Monster vom Bett weglocken und haben auch die Waffen zur Hand. Vielleicht unterstützen uns sogar die Ritter.“ Halvor wollte schon abwinken, doch dann besann er sich. Sie konnten jede Hilfe gebrauchen. „Wir sollten auch einen Wall bauen“, trötete Priya von oben, „das haben sie in den Geschichten auch immer so gemacht!“ Hula und Halvor streckten Flügel und Tatze befürwortend nach oben. „Am besten, wir verlieren keine Zeit und beginnen sofort mit den Vorbereitungen“, beschloss der Bär die Überlegungen.
In den nächsten Stunden gab es keine Verschnaufpause. Ole und Priya dichteten die Wand unter dem Bett mit Bauklötzen ab, um die Monster zu zwingen, ihren Weg durch das Zimmer und somit an der Burg vorbei nehmen zu müssen. Dabei waren sie peinlich darauf bedacht, keinen der hölzernen Würfel fallen zu lassen, um nicht durch Unachtsamkeit den schlafenden Leo zu wecken. Dann musste ein Wall gebaut werden, der guten Schutz bot, aber zugleich keine elterlichen Aufräumaktivitäten provozierte. Dafür entschied die Gruppe, Bücher hinter einer Sporttasche aufzustapeln und aus den Schienen der Spielzeugeisenbahn eine Rinne zu bauen, in der sie die Feinde einkesseln konnten.
Als Hula auf einer ihrer unzähligen Touren vom Bücherregal herab segelte, ein Buch im Schnabel, verließen sie plötzlich ihre Kräfte und sie blieb an einer Zinne der Burg hängen. Sie verlor das Gleichgewicht, stürzte und – wurde im letzten Moment mitsamt ihrer schweren Fracht von Ole aufgefangen. „Obacht geben, länger leben“, wieherte der Elch und setzte sie sanft ab. „Dankeschön!“, prustete sie und bekam ein „Schittebön!“ zurück. Eine Rast war aber nicht möglich, denn es fehlten noch Stücke, um den Wall auch von den Seiten zu befestigen und so erhob sie sich gleich wieder in die Luft.
Halvor verbrachte seine Zeit hauptsächlich mit der Sichtung der Waffen und Rüstungen in der Burg. Er prüfte Holzschwerter, stattete die immer noch schmollenden Ritter aus, testete mit einer zusammengerollten Socke die Katapulte und versuchte erneut die Zugbrücke zu reparieren. Vergebens, das Tor musste unten bleiben.
Als der Morgen vor dem Fenster graute, hockten die vier Helden müde auf dem Sims und blickten herab auf das vorbereitete Gelände. Halvor klopfte Priya auf die Schulter, die kleine Elefantin hatte wirklich schwer tragen müssen, war dementsprechend erschöpft und trötete leise vor sich hin. „Wir müssen uns ausruhen“, sagte er in die Runde, „das wird morgen eine harte Nacht.“ „Nee, eine harte Schlacht“, röhrte Ole, „da werden noch Generatoren von sprechen!“
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Aber die kommende Nacht blieb ruhig. Bis an die Zähne bewaffnet hockten Halvor und seine Ritter hinter den Burgzinnen, doch es ließ sich kein Monster blicken, nicht mal ein winziges. „Vielleicht hast du mit deiner Linealattacke schon ganze Arbeit geleistet“, schlug Hula vor, als die dritte ruhige Nacht in Folge verstrichen war und es draußen bereits dämmerte. Halvor schnaubte. „Das ist doch lächerlich.“ Er überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf und sagte mit Nachdruck: „Wir dürfen jetzt nicht nachlassen. Es ist erschöpfend, jede Nacht Wache zu halten, aber es geht nicht anders.“ Sein Blick fiel auf Ole. Der Elch war im Sitzen eingeschlafen und murmelte mit geschlossenen Augen: „Ja, Halvor. Find‘ ich auch, Halvor. Is‘ richtig so, Halvor.“ Das Gesicht des Bären verfinsterte sich. „Mit so einer Leibwache ist Leo verloren!“, brummte er. Priya grinste, führte ihren Rüssel nah an das Ohr des Elches und trötete laut hinein. Der Schlafende war mit einem Schlag hellwach und röhrte: „Sach‘ ma, noch so’n Dreck, Rüssel weg! Ich glaub, du hast wohl mit Peter Lustig geduscht!“ „Wir haben hier eine wichtige Lagebesprechung“, gab die Elefantendame zurück, „und du pennst ein!“
Da hörten sie aus der Zimmerecke ein schabendes, kratzendes Geräusch. „Sie kommen“, flüsterte Halvor, doch Hula hielt ihn durch eine lautlose Bewegung ihres Flügels zurück. Ihre Augen leuchteten groß und gelb in der Dunkelheit, die Federn um ihre Ohren sträubten sich und sie fixierte den Bereich, aus dem das Geräusch kam. „Das ist kein Monster“, sagte sie dann und schon wurde eine leise Stimme hörbar, die vor sich hinmurmelte. „Mensch, wo han i noh diese bleeda Sach hingelegd? Des gohd doch uff koi Kuahhaud nedd!“ Die vier blickten sich an und alle sagten gleichzeitig: „Oh nein – Hörnle!“ „Schnell, tun wir so, als ob wir schlafen!“, wisperte Priya, doch es war zu spät. Wie ein roter Blitz kam das Eichhörnchen über die Regale zu ihnen herübergelaufen. „Muss i die Lumbenbagasch au no fraga“, murmelte es dabei, laut sagte es dann: „Schöna gudde Abend wünsch i, hädded ihr wohl einen Momend Zeid, um oi Frag zu bandworda? “ Halvor schaute in die Runde, doch die anderen waren ebenso ratlos wie er. „Hallo Hörnle“, versuchte er dann, „wie können wir –“ „I han oi wichdig Sache verlegd, die i wirklich brauche“, fuhr das Eichhörnchen fort, ohne ihn zu beachten, „habd ihr die vielleichd gseha? Ach, was frag i überhaubt, ihr könnd ja ned bis drei zähla, abbr ab vier wolld ihr wiedr midschwädza!“ Der unverständliche Schwall an Worten brachte für Hula das Fass zum Überlaufen. „Wir verstehen dich nicht, wenn du so komisch sprichst!“, unterbracht sie ihn und klickte genervt mit dem Schnabel. „Wie oft mussten wir das schon sagen und du änderst dich einfach nicht – obwohl du so sprechen kannst wie wir, du willst es nur nicht! Und unfreundlich bist du obendrein, seit dem ersten Tag! Ganz ehrlich, Leo ist in großer Gefahr und du machst keine Anstalten uns zu helfen! Was kann denn bitte wichtiger sein, als sich gegen Monster zu wehren?“ Das Eichhörnchen stemmte die kleinen Pfötchen wütend in die Seiten und bauschte den buschigen Schwanz auf: „Godd Verdammich Heidabimbam Saggzemend abbr au! Du bisch au domm gebora, daggelhafd uffgwachsa, hosch d’Hälfde vrgessa und nix drzuglernd! Adele, Hörnle over änd aut! … Du Fledrawisch mit dainr Daggelversammlung!“ Dann drehte es sich auf dem Absatz um und verschwand schimpfend dahin, wo es hergekommen war.
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Gerade wollte Ole ansetzen, um dem frechen roten Kerl etwas hinterherzurufen, doch da hörten sie im Zimmer der Eltern den Wecker klingeln. „Los, schnell auf die Plätze!“, rief Halvor und beeilte sich, am Nachttisch hochzuklettern und sich schnell zu Leo ins Bett zu kuscheln. Hula schnappte erst Priya an den Trägern ihrer Latzhose und trug sie auf den Sims, dann kam sie zurück, um Ole zu helfen, der sich mit seinem Geweih am Griff einer Schublade verkeilt hatte und feststeckte. Der Elch machte es ihr nicht leicht, schüttelte sich und zerzauste seiner Freundin dabei das Gefieder. Schon wurde ein schmaler Streifen Licht unter der Tür sichtbar und Schritte näherten sich. „Pass auf, Hula!“, wisperte Halvor so laut er konnte, denn er lag schon in den Armen des Jungen. Die Eule mühte sich, schlug mit den Flügeln, doch zu spät – sie würde es nicht mehr rechtzeitig in ihre Pralinenschachtel zurückschaffen. Schon wurde die Klinke herabgedrückt, für eine vernünftige Landung blieb keine Zeit mehr. So ließ sie sich mitten aus dem Flug fallen und plumpste wie tot auf den Teppichboden. „Das war ja eine Bruchlandung“, dachte Halvor bei sich und verzog mitleiderfüllt das Gesicht. „Alles okay“, hörte er Hula leise piepsen, dann öffnete sich die Tür und Mama kam herein. Sie knipste das Licht auf dem Nachttisch an und weckte Leo vorsichtig. Dann bemerkte sie die Eule auf dem Fußboden. „Warum liegt denn Hula mitten im Zimmer?“, fragte sie, während ihr Sohn sich blinzelnd und gähnend aus der Decke schälte. „Was?“, fragte er müde und streckte sich. „Deine Eule“, antwortete Mama lächelnd, „müsste sie nicht eigentlich in ihrer Kiste sein?“ Leo platzierte Halvor ordentlich auf seinem Kopfkissen, dann sprang er aus dem Bett. „Mama – Eulen sind doch nachtaktiv! Hula ist die ganze Nacht geflogen und jetzt ist sie total erschöpft.“ Er hob den kleine Eule auf, strich ihre Flügel glatt und drückte sie fest an sich. „Du darfst dich ausruhen, Hula“, sagte er sanft und setzte sie in ihre Pralinenschachtel, sodass sie wieder über seinem Bett thronen konnte, „heute Nacht musst du noch viel herumfliegen.“ Mama lächelte und schüttelte den Kopf. „Ich denke, Hula wird nachts genauso müde sein wie du.“ Und wie wir, ergänzte sie im Stillen.
Wie zutreffend Leos Bemerkung war, das sollte den Freunden in der kommenden Nacht klar werden. Inzwischen war Halvor sehr geübt im Anlegen seiner Rüstung, auch die anderen machten sich, sobald die Eltern das Kinderzimmer verlassen hatten, zu ihren Posten auf. Draußen tobte ein Wintersturm, der Wind pfiff um das Haus und ließ die Dachbalken knirschen. Der kleine Junge schlief unruhig, murmelte im Traum und klammerte sich an der Bettdecke fest. Die Bühne für die Monster hätte nicht günstiger bereitet sein können, dachte Halvor grimmig, als der Schatten, den das Mondlicht in der Zimmerecke warf, plötzlich anfing, sich zu bewegen.
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Halvor hob sein Schwert in die Luft. Sofort richteten sich alle Augen auf ihn. Die Ritter, die an seiner Seite auf den Zinnen der Burg standen, nahmen Haltung an und klappten die Visiere ihrer Helme herunter. Ole nickte ihm grimmig zu – der Elch stand am Katapult bereit und auch Priya, welche den Burgeingang bewachte, hatte das vereinbarte Zeichen bemerkt und wackelte mit den Segelohren. Sie trat ungeduldig von einem Bein auf das andere und für einen kurzen Moment bereute Halvor, dass er ihr mit all den Abenteuergeschichten das Gefühl gegeben hatte, dass alles nur ein großer Spaß sei, aus dem sie selbstverständlich siegreich hervorgehen würden.
Nun löste sich eine Gestalt aus dem Schatten und er erkannte einen Gnom, der nur aus Dunkelheit zu bestehen schien. In seinem Gesicht loderten anstelle von Augen zwei rote Feuer und an den Händen hatte er lange Krallen, die metallisch glänzten. Schon wollte Halvor seiner Freundin Hula Bescheid geben, doch die Eule, die auf dem Regal hockte und von ihrer hohen Warte aus den ganzen Raum überschauen konnte, hatte die Bewegung schon bemerkt. Das vereinbarte Zeichen war nicht nötig, sie hopste bereits vom Regal und glitt durch das Zimmer. Ihre Flügel verursachten dabei kein Geräusch. Beeindruckt beobachtete Halvor, wie sie über dem Feind in der Luft zum Stehen kam, ihre Schwingen weit ausgebreitet. „Wunderschön sieht das aus“, dachte er, „aber auch unheimlich. Ein Glück stecke ich nicht in seiner Haut.“ Dann stieß die Eule zu, die Beine nach vorn gestreckt und ihre krallenbewehrten Zehen, die sie normalerweise in plüschigen Füßen verbarg, schlugen sich in das Genick des Gnoms. Er hatte keine Chance, an Gegenwehr war nicht zu denken. Die Eule biss kräftig mit ihrem Schnabel zu und der Wicht zerstob in dunklen Rauch, der wie Asche zu Boden rieselte. „Juhu“, trompetete Priya, die nicht an sich halten konnte, „Hula, du bist eine Super-Eule!“ „Pssst!“, machte Halvor, doch es war zu spät. Die Eule war für einen kurzen Augenblick abgelenkt und hatte sich nicht, wie vereinbart, gleich wieder in die Luft erhoben. Plötzlich warf sich ein dunkles Netz über sie und hüllte sie vollständig ein. So wild sie auch flatterte und zappelte, sie konnte sich nicht befreien.
Da stakste aus dem Schatten ein haariges Bein hervor, dann ein zweites und drittes. Schließlich krabbelte die ganze Spinne über den Teppich, monströs und geifernd. In ihrem Gefolge hatte sie, das erkannte Halvor nun mit Schrecken, eine Armee weiterer Gnome. Auch andere Monster waren darunter: dünne, gestreifte Schlangen mit langen Fangzähnen, gehörnte pelzige Wesen und irgendetwas Schleimiges, das wie pechschwarzer Glibber über den Boden glitt. Glücklicherweise schienen die Kreaturen nicht an seiner Freundin interessiert zu sein, sondern folgten ihrem achtbeinigen Anführer durch den Hohlweg, den der vorbereitete Wall bildete. Ihr Ziel war das Kinderbett, das war offensichtlich.
Auf den Mauern der Ritterburg kam nun Bewegung auf. Halvor packte seinen Rundschild, den ein brüllender Bärenkopf zierte (Leo hatte eine ganze Woche daran gebastelt) und richtete sich zu voller Größe auf. Er trug einen offenen Helm mit Nasenstück und über einem Kettenhemd glänzte seine Rüstung mit prächtig verziertem Brustpanzer silbrig im Mondlicht. Der Bär stieß sein Schwert erneut in die Luft und sein Ruf schallte durch das Zimmer: „Für Leo!“ So begann die Schlacht.
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Die große Schlacht um das Kinderzimmer würde in verschiedenen Phasen ablaufen, das hatten Halvor und seine Freunde im Vorfeld genauestens geplant. Nach seinem Kommando würde ein Hagel aus Murmeln und angespitzten Buntstiften auf die nahenden Feinde niederregnen, während Ole am Katapult mit den schweren Boule-Kugeln die größeren Gegner ausschalten sollte. Es gab keine Möglichkeit, das Bett zu erreichen, ohne vorher die Burg zu passieren, so hatten sie allerlei Hindernisse aufgebaut, die zunächst umständlich überwunden werden mussten, ohne dass sie zugleich Schutz boten. So ergab sich für die Verteidiger genug Zeit, von oben die Reihen auszudünnen. Sobald dies geschehen war, sollte Priya die Brücke öffnen – die Elefantin hielt die Klappe gerade noch mithilfe eines Seilzugs geschlossen – und die Ritter, allen voran Halvor, würden herausstürmen. „Der Überraschungseffekt wird sie glatt umhauen!“, trötete Priya bei der Strategiebesprechung begeistert.
Ein wichtiger Faktor fehlte jedoch, dachte Halvor, während er nun vor der Ritterburg stand und um ihn herum das Schlachtgetümmel tobte. Der Plan hatte bis hier hin funktioniert, doch jetzt fehlte Hula. Die Eule war ein unverzichtbarer Teil des Plans, sollte sie doch als Kundschafterin über den Kämpfenden kreisen und sie warnen, falls jemand aus dem Hohlweg ausbrechen und in Leos Richtung gelangen sollte. „Ich gehe zu Hula“, rief er dem Elch zu, der gerade einen schweren Flummi aus hartem Kunststoff auf das Katapult hievte. „Mach das“, rief er zurück und Halvor war verwundert, dass er diesmal gar keinen flotten Spruch auf Lager hatte. Er sah, wie Ole mit den Vorderhufen auf den Hebel sprang und der Ball in hohem Bogen von der Mauer flog, geradewegs in eine Gruppe Gnome hinein, die zu schwarzem Rauch verpufften. „Er hat da wirklich ein Händchen .. äh, einen Huf dafür“, dachte Halvor und nickte seinem Freund anerkennend zu. Dann schob er sich seinen Rundschild schützend über die Nase und packte sein Schwert, bereit zum Angriff.
Eine solche Schlacht hatte der Bär noch nie schlagen müssen – denn die Anzahl seiner Gegner war bisher überschaubar gewesen und diese hatten auch nicht so erbittert gekämpft. Doch Halvor fühlte sich nicht unvorbereitet. Im Gegenteil, ganz instinktiv wusste er, was er zu tun hatte, den Kopf erfüllt von den Geschichten, die in der Großen Halle erzählt worden waren und das Herz voller Sorge um Leo und seine Freunde. Ganz hinten in der Zimmerecke konnte er Hula entdecken, die immer noch gefangen in dem Netz lag und wild strampelte. Halvor setzte einen Fuß vor den anderen, streng darauf bedacht, sich von den seitlichen Attacken nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. „Es ist ein Tanz“, hatten ihm seine Fechtlehrer während der Ausbildung beigebracht, „und du musst deinen Rhythmus finden.“ Halvor schlug, wich aus, stach blitzschnell zu, watschte einen anderen mit der flachen Klinge und schützte sich immer wieder mit seinem Schild. „Eins, zwei, drei“, zählte er und im Takt gingen wieder drei Schreckensgestalten in Rauch auf. So schlug er eine Schneise durch das Schlachtfeld, räumte Gegner aus dem Weg und ließ dabei seine Freundin nicht aus den Augen. Hula konnte ihn nun schon kommen sehen, sie hatte die Gegenwehr aufgegeben und wartete geduldig ab, bis er näherkam.
Plötzlich sauste eine metallene Boule-Kugel knapp an seinem Ohr vorbei und schlug mit einem widerlichen Schmatzgeräusch in das glibberige Schleimwesen ein. Halvor verzog das Gesicht, doch sein Ekel wich der Überraschung, als er erkannte, dass die Masse von Oles Angriff völlig unversehrt geblieben war. Nun begann es unter der glänzenden Oberfläche zu brodeln, das Wesen schien zu kochen, es dehnte sich aus und verformte sich schließlich zu einer großen schwarzen Faust, welche die Kugel in der Handfläche hielt. Die Hand bog sich – und schleuderte das Geschoss mit Macht zurück in die Richtung, aus der es gekommen war.
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Der Bär sah entsetzt, wie die Kugel durch die Luft zischte. Dann traf das Metall auf die hölzerne Außenwand der Ritterburg. Es krachte, doch das Geschoss blieb in der massiven Platte stecken und ließ nur die Mauern erbeben. Halvors Ritter schrien, purzelten durcheinander und einige fielen von der Zinne mitten in die Gruppe der Gegner hinein. Besorgt schaute der Bär nach Ole und fand ihn zunächst im Getümmel nicht. Für einen kurzen Moment verkrampfte sich sein Magen vor Sorge, doch dann tauchte hinter dem Katapult ein mächtiges Geweih auf. „Na, da rüttelt aber einer am Ohrfeigenbaum!“, hörte er die röhrende Stimme. „Noch so ‘ne Aktion und ruckzuck hängt der Kiefer tiefer!“ Ein Grinsen flog über Halvors Lippen – scheinbar war der Elch zu alter Form zurückgekehrt.
Ihm blieb jedoch keine Zeit, sich das Schauspiel weiter anzusehen, er musste weiter. Seine Freundin brauchte ihn. Doch zunächst war dieses Schleimmonster an der Reihe. Er zückte sein Schwert und wandte sich der Hand zu, die sich, als er sich näherte, in einen pechschwarzen Morgenstern verwandelte. „Ein Morgenstern aus Glibber“, dachte Halvor, „was kann der schon groß ausrichten?“ Er kannte diese Waffe aus der Großen Halle. Vielen Bären baumelte der zackige Stern, der an einer Kette befestigt war, vom Gürtel herab und das martialische Mordgerät hatte in zahlreichen Heldengeschichten eine wichtige Rolle gespielt. Bei den ersten Kampftrainings hatte Halvor mit einem Morgenstern geliebäugelt, doch bald gemerkt, wie gefährlich diese Waffe auch für den sein konnte, der sie trug. Man musste präzise damit umgehen, sonst wickelte man sich die Kette schnell um die eigenen Beine und schlug sich selbst mit der schweren Kugel ohnmächtig – oder Schlimmeres. Aber dafür musste sie schon aus Metall sein und nicht aus Schleim.
So dachte unser Held und in dem Moment fegte ihn der Morgenstern von den Füßen. Kurz bekam Halvor keine Luft, so hart war er getroffen. Dann rappelte er sich auf. Den nächsten Schlag parierter er mit seinem Schild – es knackte, doch es brach nicht. Er tauchte unter einem weiteren Angriff durch, erledigte unterwegs einen frechen Gnom, der meinte, ihn hinterrücks angreifen zu müssen und stach dann mit einem gezielten Schwerthieb mitten in die schwarze Masse. Als er die Waffe herausziehen wollte, blieb sie stecken und der Griff rutschte ihm aus der Hand. Er wurde zurückgeschleudert, segelte über den Boden und blieb in einiger Entfernung liegen. Doch der Hieb hatte gesessen. Das Schleimmonster begann an den Rändern zu bröckeln und schließlich lag nur noch die Waffe auf dem Boden, während sich um sie herum schwarzer Schleim in Rauch auflöste.
Was für ein Sieg! Halvor rappelte sich auf, griff sich sein Schwert – nun musste er Hula retten, nichts konnte ihn mehr aufhalten! Er rannte zu seiner Freundin, links und rechts flogen die Feinde durch seine Schläge zu Seite und verdampften zu schwarzem Qualm. Hula lag immer noch gefangen am Boden, doch es schien, als wären die Schatten näher an sie heran gekommen. Eine groteske Kreatur mit verfilzten Haaren, glühenden Augen und schwarzen Fangzähnen stellte sich ihm in den Weg, er rannte sie nieder.
Da bemerkte Halvor voller Entsetzen, das etwas aus der Finsternis gekrochen kam und sich in das Netz gehakt hatte. Es zerrte daran und zog. Hula kreischte vor Schrecken, als sie bemerkte, dass eine fremde Kraft sie zu sich in die Dunkelheit riss.
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Dann ging alles blitzschnell. Halvor warf sich nach vorn, stürzte zu seiner Freundin. Er packte das Netz und zerriss es mit den Krallen. Das schwarze Tau war dick und fest, doch seinen Bärenpranken konnte es nicht standhalten. Schon war Hula frei und rappelte sich auf. „Danke“, prustete sie und schüttelte sich, „ich verspreche, das passiert mir nie wieder.“ „Ist schon gut“, beschwichtigte er sie, „es war nicht deine Schuld. Lass uns weiterkämpfen. Es sind immer noch zu viele Feinde hier.“ Die Eule nickte und machte einen kleinen Hüpfer nach vorn, dann schwang sie sich in die Luft. Halvor beobachtete noch einen kurzen Moment, wie sie über dem Schlachtfeld kreiste, dann sah er sich nach seinem Schwert um. Er hatte es in der Eile, um zu seiner Freundin zu kommen, achtlos fallen gelassen.
Plötzlich wurde er von den Füßen gerissen. Ein loses Ende des Netzes war zum Leben erwacht und hatte sich um seine Hinterpfote geschlungen. Mit einem kräftigen Ruck brachte es den starken Bären aus dem Gleichgewicht und ohne, dass er etwas dagegen tun konnte, zog es ihn davon. Panisch versuchte er, nach dem Schwert zu greifen, doch nein, es lag unerreichbar weit entfernt. „Hula!“, rief er verzweifelt, aber seine Freundin konnte ihn nicht hören. Halvor rutschte über den Teppich und dann verschlang ihn die Dunkelheit.
Plötzlich fiel er. Fiel tief, fiel ins Bodenlose, so lange, dass er sich während des Fallens darüber Gedanken machen konnte. „Ich sehe absolut nichts“, dachte Halvor, „höre nichts und riechen kann ich auch nichts. Hier ist nur Leere.“ So plötzlich, wie er gefallen war, kam auch der Aufprall – obwohl dieser weicher war, als erwartet. Der Bär plumpste in ein schier endloses Meer aus schwarzen Federn, sank wie ein Stein und anstatt einen Grund zu erreichen, rutschte er immer tiefer. Auf einmal spürte er Boden unter sich und ertastete eine enge Röhre, die steil abwärts führte. An Halten war nicht zu denken, er schlitterte über die spiegelglatte Oberfläche und schließlich, als er dachte, dieses Hinab würde niemals enden, spuckte ihn der Tunnel aus.
Halvor rappelte sich auf und sah sich um. Endlich war die völlige Finsternis einem dämmrigen, grünlichen Licht gewichen. Blinzelnd erkannte er, dass er mitten in einer weitläufigen Halle gelandet war. Massive Säulen reichten bis hinauf zur Decke, an deren Stelle sich ein sternenloser Nachthimmel erstreckte. Am Boden waberte schwarzer Nebel und dämpfte seine Schritte auf dem Steinboden. Ganz am Ende des Säulengangs war in der Ferne ein Podest zu erkennen. Langsam schritt er darauf zu und je näher er kam, desto mehr Details wurden sichtbar. Sein Blick fiel zuerst auf den mächtigen Thron aus schwarzem Gestein. Auf den Treppenstufen und um ihn herum waren Feuerschalen verteilt, doch darin loderte kein goldenes Licht, sondern kalte, grüne Flammen.
„Was ist das für ein Ort?“, fragte er sich im Stillen. „Du bist im Herz der Nacht, mein guter Halvor“, antwortete ihm da eine leise Stimme. Der Bär fuhr erschrocken herum, so nah hatte der andere an seinem Ohr gesprochen. Doch da war niemand. „Huhu“, sagte die Stimme erneut und als Halvor sich zu dem Thron umdrehte, saß dort jemand und winkte ihm zu.
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„Wer bist du?“, entfuhr es Halvor. Mit großen Schritten lief er auf den Thron zu. Nun konnte er den Anderen immer besser erkennen. Ein blasser Kerl war das, der lümmelte bequem über der Lehne und baumelte mit den kurzen Beinchen. An seinem kahlen Kopf saßen zwei spitze Ohren und die Augen saßen tief in ihren Höhlen, wie als hätte er schon seit hundert Nächten nicht mehr geschlafen. Er war in ein langes Gewand gekleidet, das aus schwarzem Rauch zu bestehen schien und über die Stufen des Podestes nach unten floss. „Wer bist du?“, rief der Bär erneut. Der Glatzkopf runzelte die Stirn und rollte mit den Augen – zumindest wirkte es so, denn sie waren vollständig schwarz. Dem mutigen Halvor, der sich üblicherweise vor nichts fürchtete, lief es bei dem Anblick kalt den Rücken herunter.
„Wer bist du?“, äffte der Andere ihn mit schneidender Stimme nach, „immer diese langweiligen Fragen! Wo bin ich? Wer bist du? Warum bin ich hier? Es ist so … öde!“ Theatralisch warf er die Hände nach oben, wobei er den Rauch seines Mantels in der Luft verwirbelte. „Niemand kommt hier hinein und stellt mir eine philosophische Frage. Oder gibt mal etwas ansatzweise Interessantes von sich.“ Als Halvor nicht antwortete, fuhr er fort, vor sich hin zu plappern. „Ich zum Beispiel bin da ganz anders. Mir würde das nie passieren. Ich weiß durch geistreiche Kommentare und intelligente Wortspiele zu überzeugen. Damit würde ich jedem schon bei der Begrüßung den Atem verschlagen.“ Er erhob sich und trippelte auf erstaunlich kurzen Beinen auf Halvor zu. „Ich käme hier herein, würde mich verbeugen, in etwa so“ – er machte einen Kratzfuß – „und dann sagte ich-“
„Guten Tacho“, rutschte es Halvor heraus. Im gleichen Moment hätte er sich auf die Zunge beißen können. Wie konnte ihm genau jetzt einer von Oles blöden Sprüchen einfallen – und warum hatte er ihn darüber hinaus auch noch laut gesagt? Der Kahlkopf riss erstaunt die Augen auf, dann kicherte er. „Nicht schlecht, nicht schlecht …“ Dann schien er sich zu besinnen. „Aber du bist nicht hier, um über solche Dinge mit mir zu sprechen. Nun kommen wir also doch zum langweiligen Teil: Warum bin ich hier?“ Er tappte vor Halvor her, dem er mit dem Wink seiner kleinen Hand bedeutete, ihm durch die Halle zu folgen. Während sie gingen, schnatterte er vor sich hin. „Deine Aktivitäten sind nicht unbemerkt geblieben, guter Halvor. Leider muss ich dir mitteilen, dass du uns schon seit längerer Zeit ein Dorn im Auge bist.“
„Wer sind „wir“? Und wer bist du überhaupt?“, wollte der Bär nun mit Nachdruck wissen. Der Gnom blieb stehen und sah ihn lange an, ohne ein Wort zu sagen. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich. Dann verwandelte er sich plötzlich in ein blasses Pferd mit glühenden Augen, aus dessen Nüstern Feuer quoll. Halvor wich zurück, doch schon stand wieder der vergleichsweise harmlose Glatzkopf vor ihm. „Wie du siehst, kann ich vieles sein“, sagte er dann mit tonloser Stimme, „aber du kannst mich gern Pavor nennen.“ „Pavor?“, fragte Halvor – „soll das ein Scherz sein?“ „Meinst du, du bist die einzige Kreatur, die einen Namen mit dieser Silbe haben darf? Überschätze mal nicht deine Lage!“, fauchte der Andere zurück. „Nein, aber …“ – „Gut, dann können wir uns vielleicht darauf einigen, dass ich zuerst da war und wenn, dann du mich nachgemacht hast! Wie ich sagte, du bist uns aufgefallen. Und nicht sonderlich positiv. Zugegeben, du bist nicht der Erste deiner Art. Aber ein Besuch in meinen heiligen Hallen hat bisher noch jeden überzeugt, uns nicht weiter in die Quere zu kommen. Folge mir.“
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Er watschelte voran und Halvor ging hinterdrein. So durchschritten sie die Säulenallee und gelangten durch einen steinernen Bogen in eine weitere Halle, die dem Bären vom ersten Moment an merkwürdig bekannt vorkam. Hier gab es keine Säulen, sondern eine runde Kuppel, die weit in die Höhe reichte. An den Wänden lief eine Galerie entlang und hier und da flackerte in einem Feuerloch ein blasses, grünes Feuer. „Das ist –“, stieß Halvor aus, doch die Worte blieben ihm im Mund stecken, als er die große Tafel in der Mitte der Raumes erkannte. „Ja, in der Tat, das ist sie – eure so heißgeliebte Große Halle“, schnarrte der Kahlköpfige. „Hier hat für dich alles angefangen, oder? An diesem Ort haben sie dich zum Helden“ – er spuckte das Wort förmlich aus – „herangezogen.“
Unterdessen war Halvor an den leeren Stühlen vorbeigegangen und suchte den Raum mit den Augen ab. Ihm fiel auf, dass die Statuen fehlten. Die Halle war bis auf die Möbel leer und hatte nichts von ihrer gewohnten Wärme und Behaglichkeit. „Warum ist sie so … anders?“, fragte er zögerlich. Der Andere antwortete nicht sofort, sondern trat hinter den Platz, an dem – Halvor sah es in seiner Erinnerung noch klar vor sich, als wäre es gestern gewesen – der Graue gesessen und sie jeden Abend zum Essen, Trinken und Geschichtenerzählen eingeladen hatte. Nun befingerte er mit langen, knochigen Händen die Lehne. Ein Sturm braute sich in Halvor zusammen. Was bildete sich dieser Kerl ein, was sollte das alles hier und warum diese Andeutungen, ohne dabei tatsächlich etwas zu sagen? „Ich will jetzt wissen, was das für ein Ort ist – es sieht aus wie die Große Halle, aber warum ist sie so verlassen?“ Der Kahlköpfige kicherte. „Mein Lieber, weil sie das ist!“ Er schwang sich auf den Platz des Grauen und warf sich entspannt in die Lehne. „Das ist die Realität, Halvor! Die Vorstellung, dass altgediente Bären am Ende ihrer Heldenreise an den Feuern der Halle sitzen und ihre Geschichten erzählen können, ist eine Traumwelt. Und glaub‘ mir bitte, mit Träumen kenne ich mich sehr gut aus. Das glückliche Ende ist nichts als ein Märchen, dass ihr euch einredet. Die Wirklichkeit – die nackte und zugegeben hässliche Wirklichkeit sieht so aus wie das, was du vor dir siehst. Nichts als Leere. Nichts als Vergessen.“
Halvor starrte ihn an. „Ich … verstehe nicht …“ Der Andere warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Es klang eher wie ein Gackern und es lag keine echte Freude darin. „Die Bären werden von ihren Kindern vergessen. Man entsorgt sie, lässt sie absichtlich oder unabsichtlich irgendwo zurück oder verstauben sie in der Ecke eines Zimmers, das für lange Zeit nicht mehr betreten wird. Keine eurer heldenhaften Taten hat irgendeinen höheren Zweck, denn am Ende werdet ihr langweilig, ausgesondert, gegen Spannenderes ausgetauscht!“
Während er sprach, wischte er mit der Hand durch die Luft und vor Halvors Augen lief ein Film aus Bildern ab, die er noch nie zuvor gesehen hatte: Ein einsamer Teddybär am Rand einer Autobahn, aus dem Fenster geworfen und liegen gelassen, mehrere Bären mit großen Löchern im Pelz und keiner, der sich die Mühe machte, sie zu reparieren, dann ein Kind, dass seinen Teddy achtlos in eine Tüte mit anderen Kuscheltieren stopfte. Halvor schlug sich die Tatzen vors Gesicht, doch die Bilder liefen auch auf der Innenseite seiner Lider weiter.
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„Nein“, rief Halvor, der es nicht mehr aushielt, „das würde Leo niemals tun!“ „Oh du armes Wesen … wenn ich für jedes Mal belohnt werden würde, sobald mir einer von euch diesen Satz erwidert, dann wäre ich inzwischen wohl ziemlich reich. Mein Kind ist was ganz Besonderes, mein Kind ist die Ausnahme … Sie alle mussten es irgendwann einsehen, dass dem nicht so ist. Kriechen in die Große Halle zurück und sprechen von Heldentum … in Wirklichkeit sind sie Verstoßene, die nichts mehr zu bieten haben und verzweifelt versuchen, sich mit Erinnerungen zu trösten. Erbärmlich.“ „Du täuscht mich nur“, gab Halvor zurück, „genauso, wie du deine Gestalt wandeln kannst, hast du mir diese Bilder gezeigt. Das ist nichts als eine Illusion.“
Der Kahlköpfige zuckte mit den Schultern. „Gut, dann glaub mir nicht. Aber das, was du hier siehst, ist alles wahr. An deiner Stelle würde ich mich langsam fragen, warum ich mir das alles antue? Der Kampf, den ihr gegen uns führt, ist nichts als Asche, die der Wind verweht. Gerade steht sie noch für einen Moment in der Luft, dann braucht es nur einen Hauch und sie ist fort.“ Er blies sich imaginären Staub von den Fingernägeln. In Halvors Magen ballte sich die Wut zusammen wie ein schwerer Klumpen. „Und was willst du dann von mir? Soll ich Leo nicht mehr beschützen?“ „Tja, das wäre ein Anfang. Du wirst es sowieso nicht verhindern können, dass er erwachsen wird. Erspar dir den Schmerz, lass einfach los, zieh in deine Große Halle“ – er fuchtelte grinsend mit den Ärmchen in der Luft herum – „und sonne dich mit den anderen im Abglanz eurer heldenhaften Tage. Tust du das nicht, wird deine Zukunft schon bald aussehen wie dieser Ort hier.“
Für einen Moment kroch der Zweifel in Halvors Herzen. Verzweifelt flog sein Blick über die leeren Stühle. Dann schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Es war ein Sprüchlein, das ihm sein Freund Kenai beigebracht hatte, als sie noch am Anfang der Bärenschule standen. Der Schwarzbär war oft schreckhaft, fürchtete sich vor scharfen Klingen und ließ sich schnell entmutigen, doch dieses Sprüchlein hatte ihn, so vertraute er Halvor an, schon oft durch schwere Zeiten gebracht. Es lautete: „Große Bärin, sei mein Licht in der Dunkelheit.“ Genau diese Formel fiel Halvor in diesem Moment wieder ein. „Große Bärin, ich habe einen Eid geleistet“, dachte er verzweifelt weiter bei sich, „Bitte hilf mir – ich bin in Bedrängnis. Bist du bei mir? Was soll ich tun?“
Da hörte er eine sanfte Stimme, ebenso nah, wie auch Pavor vorhin zu ihm gesprochen hatte. Doch den Bären überkam nicht das gleiche unangenehme Gefühl, sondern mit einem Mal fühlte er sich warm, wie in eine weiche Decke gehüllt. Vor seinen Augen füllte sich die Halle mit einem Schlag wieder mit Leben: Die Feuer tauchten alles in ein goldenes Licht, die Tische bogen sich unter der Vielzahl an Speisen und überall saßen gepanzerte Bären, die miteinander sprachen. Er konnte sogar den Grauen sehen, die Krone auf dem Kopf und die Augen direkt auf ihn geheftet. Der alte Bär lächelte und nickte ihm zu. „Ich bin doch da, mein Halvor“, flüsterte die Stimme da liebevoll an seinem Ohr. „du weißt, was du zu tun hast. Leo braucht dich, gib ihn nicht auf – dann wird er dich auch nicht aufgeben.“
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So plötzlich, wie die Stimme gekommen war, so plötzlich war sie wieder verschwunden. Auch das freundliche Bild wich wieder der kalten Leere und an der Stelle des Grauen tauchte wieder der kahlköpfige Kerl auf.
„Willst du die Zukunft sehen, du närrischer Bär?“, fragte er und ein lauernder Unterton legte sich in seine Stimme. „Ich kann sie dir zeigen, denn ich habe sie gesehen. Leo wird dich – “
„Genug jetzt!“, brüllte Halvor und richtete sich zu voller Größe auf. Der tiefe Klang seines Rufs hallte von den Wänden der Großen Halle wider und mit einem leichten Anflug von Genugtuung registrierte er, wie sein Gegenüber für einen kurzen Moment zurückschrak. „Kein Wort mehr“, fuhr er fort, „ich lasse nicht zu, dass du Leo weiter verleumdest. Du kennst ihn nicht und du kennst mich nicht! Aber eines kann ich dir versprechen: Du wirst mich kennenlernen, wenn du noch ein Wort sagst.“ Der Andere gackerte, jedoch nicht so selbstbewusst, wie zuvor: „Ha – na, da bin ich ja zum Zerreißen gespannt, wie das ohne dein Schwert gehen soll …“ Dann blieben ihm die Worte im Hals stecken, denn Halvor hatte die Zähne gefletscht und präsentierte sein bedrohliches Gebiss, dann gab er ein wütendes Röhren von sich und nun erzitterte Pavor sichtbar in seinem Stuhl. „Fordere mich doch heraus“, sagte er drohend, „ich bin immer noch ein Bär. Und mit dir nacktem Zwerg werde ich drei Mal fertig.“
Der Kahlkopf erhob sich und sprang schwungvoll auf die Große Tafel. „Nun gut, ich wollte es vermeiden, aber du lässt mir keine Wahl. Schade, dass du keine Einsicht zeigst. Was dagegen, wenn ich meine Freunde zum Spielen einlade?“ Er schnippte mit den Fingern und aus den seitlichen Gängen stürzte ein Heer von Gnomen hervor. Ein heftiger Windstoß fegte die grünen Feuer aus und so waren ihre glühenden Augen und silbrig glitzernden Krallen das Einzige, was in der plötzlichen Finsternis noch sichtbar war.
Doch Halvor kannte nur ein Ziel. „Diese schwarze Magie hat nur ein Ende, wenn ich mir diesen Kerl greife“, dachte er und sprang auf die Tafel. Es blieb keine Zeit, lange im Trüben zu fischen. Von den Seiten drängten sich die Gegner heran, doch der Bär machte einen Satz ins Dunkel und schlug mit den Tatzen dorthin, wo er Pavor zuletzt gesehen hatte. Seine Schläge zischten durch die Luft, ohne etwas zu treffen. Da, plötzlich, schlugen sich seine Krallen in etwas Weiches. Instinktiv schloss er die Pranke, zog den Anderen zu sich heran und biss kräftig zu. Ein markerschütternder Schrei durchschnitt die Stille, riss jäh ab, Halvors Maul füllte sich mit Qualm und plötzlich flammten rote Feuer auf.
Durch das Licht geblendet blinzelte unser heldenhafter Bär. Etwas Feuchtes benetzte seine Füße und ein Gemurmel war um ihn her, das mit einem Schlag verstummte. Als er endlich wieder sehen konnte, blickte er in freundliche, bekannte Gesichter. Er befand sich in der Großen Halle, soviel war klar, um ihn herum drängten sich neugierige Bären, direkt vor ihm thronte der Graue in seinem Lehnstuhl – und er, Halvor, hockte vor ihm auf der reich gedeckten Tafel, die Füße rot vom Saft frischer Beeren.
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Erschöpft und verwirrt wurde Halvor auf einem Stuhl platziert und mit einem Krug Met versorgt. Um ihn scharten sich die Bären und wollten am liebsten auf einen Schlag alles erfahren. Aus ihrem Blickwinkel war er plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, hatte mit den Füßen in den Schüsseln gestanden und sie verwirrt angeblinzelt. Sie schwiegen, während er trank, etwas gebratenes Fleisch aß und sich mit einer Tatze Honig stärkte. Dann berichtete er, was passiert war. Alle lauschten gespannt, doch als er begann, von Pavor zu erzählen, blickte er in fragende Gesichter. Ihnen waren die Schatten wohlbekannt, doch mit diesem kahlköpfigen Kerl konnten sie nichts anfangen. Da ergriff der Graue plötzlich das Wort.
„Halvor, du bist auf einen sehr bösen Geist gestoßen.“ „Wer ist er?“, wollte Halvor wissen. Sein Gegenüber neigte besorgt den Kopf. „Er ist der König der Schatten. Ein Puppenspieler, Geistermaler und Alptraumbeschwörer. Seine Macht ist die Angst und diese ist unsterblich. Du hast ihn heute nicht getötet – sorge dich nicht, das wäre unmöglich. Aber du hast ihn in die Schatten zurückgestoßen, wovon er sich erst erholen muss. Auch ich habe gegen ihn gekämpft und mir ist es gelungen, ihn zu schlagen. Allerdings nicht für sehr lange, wie ich jetzt begreife.“ Halvor verstand nicht und obwohl er nichts erwiderte, sprach sein Gesicht laut genug. „Ich werde es dir nicht erklären können“, antwortete der Graue auf die unausgesprochene Frage, „aber das macht nichts, es spielt keine Rolle. Besinne dich auf deinen Eid. Deine Aufgabe ist noch nicht erfüllt. Du wirst nun deine Pflicht tun, wie es all die Bären vor dir getan haben.“ Halvor sah ihn fragend an, doch er schüttelte den Kopf. „Du suchst bei mir nach Antworten, doch ich kann es dir nicht erklären. Das Einzige, was ich weiß ist, dass Pavor verstanden hat, wie man Angst weckt – in jedem von uns. Mach dir immer klar, dass für jeden von uns einmal der Tag kommt, an dem wir zweifeln. Daran ist nichts Schlechtes – doch der Zweifel darf uns nicht lähmen. Lebe, Halvor – und dann kehre eines fernen Tages als Held in die Große Halle zurück, wärme deinen Pelz an unseren Feuern und lass uns an deiner Saga teilhaben. Aber sie ist ja noch nicht einmal zu Ende geschrieben.“
Bevor Halvor etwas erwidern konnte, hatte der Graue sich nach vorn gelehnt und seine Stirn berührt. Wie als wäre das sanfte Tippen ein starker Stoß, kippte er nach hinten und fiel, doch plötzlich stürzte er nach oben. Die Welt war auf den Kopf gestellt worden und spuckte ihn nach wenigen Atemzügen hinaus auf das Schlachtfeld in Leos Kinderzimmer, wo es, wie Halvor bemerkte, sehr ruhig war. Kein Schlachtenlärm war zu hören, in der Luft stand nur noch der schwarze Qualm und verflüchtigte sich langsam. Hier und da rappelten sich Ritter auf, richteten ihre Rüstung und als sie ihn erblickten, verfielen sie in böses Gezischel.
„Was ist hier passiert?“ Halvor war auf eine Gruppe zugegangen, doch sie straften ihn mit Ignoranz und unverständlichem Gemurmel. „Wo sind meine Freunde?“, versuchte er es erneut. Keine Antwort. Sie stellten sich taub. Da erklang auf einmal aus der Ferne eine vertraute Stimme. „Eieiei, da sehe i do diese Vollpfoschda von Bär – bei dem schaffd au bloß dr Moschd im Källr. Hoggt da bleed rum, älles muss man selbschd macha!“
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Instinktiv ging Halvor in Deckung, doch dann schaltete sich sein Verstand wieder ein. Hörnle konnte ihm vielleicht helfen, er durfte das Tier nicht abweisen. „Hörnle!“ Er trat dem anderen entgegen. „Sag mal, was ist hier passiert?“ Im gleichen Moment bereute er es, denn das Eichhörnchen setzte zu einem seiner bekannten, aber dennoch unverständlichen Vorträge an. „Sag mol, sehe i wie a Zeidung aus? Noi, i bin Hörnle! Du kannsch mi gern Reddr vom Kinderzimmrs odr Leos guder Geischd nenne, wenn du willschd, abr – “
„Halvor!“ Jemand unterbrach den unverständlichen Redefluss und rief ihn, ganz nah und so vertraut. „Halvor! Da bist du ja, wir haben dich überall gesucht!“ Ehe er sich versah, trompetete ihm ein lautes „Törööö“ ins Ohr, ein Flügel warf sich um seine Schultern und sein Gesicht war in einen Norwegerpulli vergraben, während ihn seine drei Freunde an sich drückten. „Leute“, sagte Halvor und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, „schön, dass es euch gut geht!“
Es gab viel zu erzählen. Der Bär wurde mit Fragen bestürmt und musste wie zuvor in der Großen Halle Rede und Antwort stehen. Seinerseits wollte er aber auch einiges wissen: „Wie habt ihr die Schlacht gewonnen?“, fragte er und ließ seinen Blick erneut über den rauchenden Teppich schweifen. „Nur durch mei Leischdung!“, krähte da das Eichhörnchen, dass sich bis eben noch im Hintergrund gehalten hatte. Es hopste auf die Freunde zu und blieb in lauernder Stellung vor ihnen sitzen, die Pfötchen rieb es aufgeregt aneinander und der buschige Schweif zitterte in der Luft. „Ja klar, deine Leistung“, stöhnte Ole und als auch Priya und Hula ihm beipflichteten, ergoss sich ein Schwall aus Worten über sie, von denen sie nur einen Bruchteil verstanden. „Hemml Arsch und Wolgabruch! So a grandademäßige Sauerei, so a vrkommene! I han eich älle gredded, jawohl – und wo isch bidde die Dankbarkeid?“
Hula flatterte aufgebracht auf ihn zu. „Dankbarkeit willst du? Du brauchst gar nicht hier aufzutauchen! Ja, du hast uns alle gerettet, aber es wäre überhaupt nicht nötig gewesen!“ Halvor blickte seine Freunde fragend an. „Er hat uns wirklich gerettet?“ „Naja, das ist was ganz Andreas“, warf der Elch ein. „Sagen wir mal so: Du warst verschwunden, sie haben uns immer weiter zurückgedrängt, bis wir uns nur noch in der Burg verschanzen konnten. Es gab aber keine Möglichkeit, ihnen von oben ordentlich einzuheizen, weil die Zugbrücke gehalten werden musste. Auf den letzten Drücker kommt dieser Kerl mit dem fehlenden Teil um die Ecke – hatte es einfach irgendwo versteckt und vergessen, wo es lag.“ „Na und? Damid han i ja wohl droddzdem den Dag gredded, des kosch do mol zugeba?“ Als alle nur resigniert schwiegen, sprang Hörnle triumphierend in die Luft. „Voila, hadde i mol wiedr Rechd. Abr’s isch dybisch mid dene Daggelband. Wenn’es selbr mach, muss i nedd Dankschee saga. Mer siehtsch halt widdr: Äbbas Domms isch schnell rausgschwäddzd! Abr amma nondrgschluggda Word isch no koinr gschdorbe.“ Damit sprang es pfeilschnell auf das Regal und verschwand vor sich hin schimpfend in der düsteren Zimmerecke. „Tschö mit Ö!“, rief ihm Ole hinterher, „erst die Rechte, dann die Linke, beide machen Winke Winke, San Frantschüssico sage ich nur!“ Die anderen sahen sich an und Hula kicherte. „… San Frantschüssico?“ Der Elche zuckte mit den Schultern und grinste.
Gemeinsam saßen sie noch ein wenig zwischen den umgestürzten Bücherstapeln und Bauklötzen, während es vor dem Fenster langsam Tag wurde. Sie tauschten Erzählungen aus und immer wieder klopften sie sich gegenseitig auf die Schultern. Schließlich zogen sich Priya und Ole auf den Sims zurück, den beiden fielen schon beim Reden immer wieder die Augen zu. Als sie allein waren, überwand Halvor seine Scheu und vertraute Hula etwas an, was ihm immer noch auf der Seele brannte. Pavors Worte hatten in ihm eine Saat gelegt, die trotz aller Bekräftigung aufgegangen war. „Denkst du, Leo wird uns eines Tages vergessen?“ Die Eule blickte ihn traurig aus ihren großen Augen an. „Ich würde dir gern sagen, dass er das niemals tun wird. Aber ich weiß so wenig wie du, was die Zukunft bringt.“ „Aber irgendetwas muss ich doch – “, setzte Halvor an, da hörte er auf einmal einen Laut vom Kinderbett aus, der ihn in Schockstarre versetzte. Es war Leos Stimme und er rief seinen Namen.
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Halvor schloss die Augen. „Nicht rühren“, dachte er, „vielleicht sucht er mich nur und schläft gleich wieder ein.“ Da hörte er Leo erneut leise rufen: „Halvor?“ Der kleine Junge schwang die Füße aus dem Bett und ehe sich der Bär versah, war er zu ihm hinübergetapst. „Was machst du denn hier mit Hula?“, fragte er leise und kniete sich neben die beiden Freunde. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste sich totstellen – so dachte Halvor und rührte sich nicht. Leo lächelte ihn liebevoll an. „Hast du was gesagt?“, hörte er das Kind fragen, „Ich habe Stimmen gehört.“ Halvor nahm all seinen Mut zusammen. Noch nie zuvor hatte er in Leos Gegenwart gesprochen oder sich lebendig gezeigt. Er hob den Kopf: „Leo …“, begann er dann, doch plötzlich quietschte der kleine Junge vor Vergnügen, nahm ihn auf, wirbelte ihn in der Luft umher und drückte ihn fest an sich. „Du kannst sprechen!“, rief er dabei, „Ich habe es nicht geträumt!“ Als er ihn wieder abgesetzt hatte, blickte er ihn aufgeregt an. „Sag mal, was ist denn hier passiert? Warum ist alles durcheinander?“ Doch Halvor war nicht in der Lage, ihm zu antworten. So lange hatte er sich gewünscht, mit Leo sprechen zu können und nun, da der Moment gekommen war, verknäulten sich die Worte in seinem Kopf. Da flatterte Hula an seine Seite. „Halvor hat dich beschützt, Leo – wir alle haben das.“
Während sie berichtete und der Bär immer noch nach den rechten Worten suchte, wurde es in dem kleinen Kinderzimmer immer heller. Von draußen klangen plötzlich die sanften Klänge von Weihnachtsmusik herein und der süße Geruch von Plätzchen und Kakao kroch unter der Tür durch. „Wir haben nicht mehr viel Zeit“, sagte die Eule und klopfte Halvor auf die Schulter. „Nun bist du dran.“ Sie erhob sich in die Luft und segelte auf den Sims, wo sie sich in ihrer Pralinenschachtel niederließ. Leo blickte seinen Bären an. „Was ist denn los, Halvor? Du hast noch gar nichts gesagt.“ Er druckste herum, dann überwand er sich. „Als ich in dem Schattenschloss war, da hat mir dieser Kerl gesagt, dass du mich irgendwann nicht mehr brauchen würdest. Dass, wenn du erwachsen wirst, wir in deinem Leben keine Rolle mehr spielen und du mich vergisst. Ich will nur, dass du weißt, dass ich trotzdem weiter auf dich aufpassen werde, doch ich kann nicht anders, das Wissen macht mich traurig.“ Leo nahm ihn in den Arm und drückte ihn an sich. „Du alter Bär“, erwiderte er, „ich werde dich nie vergessen und du wirst immer an meiner Seite sein. Das verspreche ich dir.“ „Und die anderen?“, fragte Halvor vorsichtig. „Die anderen natürlich auch“, lachte Leo und als Priya, die wieder nichts verstanden hatte, fröhlich trötete und ihnen mit dem Rüssel zuwinkte, winkten sie zurück.
Als Leo mit seinen Eltern im geschmückten Wohnzimmer Waffeln und Plätzchen aß und warme Schokolade schlürfte, fiel sein Blick auf seine Freunde, die aufgereiht unter dem Weihnachtsbaum saßen. Ein kleiner Elefant in einer abgewetzten Latzhose, ein Elch mit imposantem Geweih im Norwegerpulli, eine flauschige Eule, die in einer Pralinenschachtel hockte und ein brauner Bär mit freundlich blinkenden Augen.
Epilog

Das Mondlicht zum Geleite
In silberfarbner Pracht
Hält stets an Kindes Seite
Der treue Bär die Wacht.
Tapfer streckt er wieder
Sein hölzern Schwert hinaus.
Die Schatten ringt er nieder
Behütet Bett und Haus.
Bewahrt euch eure Bären!
Was haben sie vollbracht.
Beschützen euch und wachen
Leise in der Nacht.