Epilog
„Hast‘ das schon gelesen?“, fragte ein Mann in Arbeitskleidung seinen Kollegen, der neben ihm stand. Der warf dem Verkäufer eine Münze hin und griff nach seinem eigenen Exemplar der Tageszeitung. „Hab’s grad erst gesehen“, gab der andere zurück, „aber überraschen tut’s mich nicht. Alles Gauner, diese feinen Herrn.“ Plaudernd entfernten sie sich, während andere Kunden um das kleine Häuschen herum drängten, in dessen Schaufenstern die Schlagzeilen der aktuellen Ausgaben angeklebt waren. „Edinburghs Aristokratie erschüttert“ titelte die schottische Ausgabe der Times, der Chefredakteur des Scotsman hatte sich für „Liste der Schande veröffentlicht: Zeugnis von dunklem Geheimnis der High Society“ entschieden und die Town Topics warben im üblichen Duktus mit den Worten „Gestohlene Unschuld“.
Einige Straßen weiter wurde Sir Colin Wentworth, Inhaber einer Paraffinfabrik im Osten der Stadt, sehr unsanft bei seinem Frühstückskaffee gestört. Sein Butler war mit geröteten Wangen in den Salon geeilt und hatte ihm im Flüsterton erklärt, dass einige Herren der Polizei an der Tür seien und ihn aufforderten, sie auf die Wache zu begleiten. Sie baten ihn nicht einmal höflich, sie forderten ihn auf – ihn, treuen Steuerzahler und achten Baronet einer bis ins 17. Jahrhundert reichenden Linie. Sollten sie nur kommen! Trotzig köpfte er mit der scharfen Kante seines Messers ein gekochtes Ei und gelber Dotter spritzte über die saubere Tischdecke. Dann wurde die Tür des Esszimmers mit einem Schwung aufgestoßen und mehrere Polizeibeamte in blauen Überziehern traten herein. Einige in den hinteren Reihen hielten bereits ihre Knüppel in der Hand. Welch ein Affront! Wentworth erhob sich. „Meine Herren, was soll dieser Aufstand am frühen Morgen? Ich muss doch sehr um Einhaltung des Protokolls bitten!“ Die Gruppe teilte sich und durch den freiwerdenden Gang schritt ein schnauzbärtiger Mann mit Melone auf ihn zu. „Guten Morgen, Sir Colin“, sagte er und die Direktheit seiner Anrede traf den Baronet wie eine Ohrfeige. „Leider kann ich Ihnen nicht gestatten, Ihr Frühstück in Ruhe fortzusetzen. Wir haben ein wichtiges Gespräch miteinander zu führen.“ Wentworth verschluckte sich und hustete, dann stürzte er, um Fassung ringend, seinen Kaffee herunter. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“, keuchte er dann. „Ich bin Ruaridh MacKay, Detective Officer des Ersten Polizeidepartments der Stadt Edinburgh“, gab der andere zurück, „und wie der Großteil meiner Berufsgenossen habe ich mich weniger auf das Glauben als auf das Wissen verlegt. Ich habe heute noch einige Besuche zu machen – wenn Sie mir also bitte folgen würden?“
An der Straße vor dem burgartigen Bau des Calton Gefängnisses stand eine Frau. Ein leichter Schneefall hatte eingesetzt und Flocken bedeckten bald die Schultern ihres burgunderroten Wintermantels. Durch das offene Tor konnte sie in den Innenhof blicken und aufmerksam die ankommenden Kutschen beobachten. Einige große Namen der Edinburgher High Society erreichten nacheinander die Einrichtung: Politiker, Verwaltungsangestellte, Angehörige des niederen Adels, Unternehmer und reiche Privatiers. Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Dame, als Sir Richard Douglas, ein Mitglied des einflussreichen Clan Douglas, in Handschellen durch den Hof geführt wurde.
Da trat ein Mann an ihre Seite, gekleidet in einen pflaumenfarbenen Mantel, blau gestreifte Plumphosen, ein scharlachrotes Halstuch und einen dazu passenden samtenen Zylinder. „Schockierend, wie so manchem edlen Mann die Maske vom Antlitz gerissen wird“, sagte er. Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. „Wie schön wäre es, wenn dies nicht nur für manche, sondern alle edle Männer der Stadt gelten würde.“ Er lachte. „Wenn Sie mich damit meinen, liebe Genevieve – falls dies überhaupt Ihr echter Name ist – gehen Sie wohl fälschlicherweise davon aus, dass es sich bei mir um einen edlen Mann handelt.“ „In der Tat“, antwortete sie. „Dennoch würde mich das Detail interessieren, wie Sie es vollbracht haben, hier frei und unbehelligt neben mir stehen können, Sir Alastair. Schließlich waren Sie am Concordia Club beteiligt. Um genau zu sein, waren Sie direkt mit der Verteilung der Waisenjungen beauftragt, wie man hört.“ Alastair Wallace zuckte mit den Schultern. „Nun, die Polizei könnte mich natürlich für diese Aktivitäten einsperren. Allerdings würde sie damit einen wertvollen Kronzeugen verlieren. Man hat mich glücklicherweise als einen der Ersten unseres Clubs aufgesucht, was mir die einmalige Chance gab, mich als Informanten anzubieten.“ „Wofür Sie sicherlich einiges an Strafmilderung erwarten dürfen“, gab sie düster zurück. Er lachte jovial. „Liebe Freundin, es war mir eine Freude, ein Stück des Wegs mit Ihnen gehen zu dürfen. Nun muss ich wieder an die Arbeit. Diese Stadt sehnt eine starke Hand herbei, die sie in das Ungewisse eines neues Jahrhunderts führt. Dafür will ich vorbereitet sein.“ Mit dem Zeigefinger seiner weiß behandschuhten Hand tippte er sich an die Hutkrempe. „Denken Sie bei der nächsten Wahl an mich!“ Damit entfernte er sich.
Einige Tage später saßen im alten Pub The World’s End ein Mann und ein Junge beim Lunch. Vor ihnen standen Fleischpasteten und zwei Gläser Limonade. Sie blickten vom Essen auf, als eine elegant gekleidete Frau sich zu ihnen an den Tisch setzte. „Schön, dass Sie gekommen sind, Miss Fairchild“, begrüßte sie Ewan Cunningham. „Ich bin hier, weil ich noch eine Entschuldigung schuldig bin“, sagte Josephine. Der Reporter lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann lassen Sie mal hören.“ Sie funkelte ihn an. „Die gilt nicht Ihnen. Sie können gern in der Zwischenzeit zum Tresen gehen und mir ein Glas Wein holen.“ Damit drückte sie ihm eine Münze in die Hand und schwieg so lange, bis der Mann seufzte und sich mit einem „gut, bin gleich wieder da“ erhob.
William warf ihr einen Blick zu und sagte mit vollem Mund: „Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin so hungrig.“ „Ich verstehe – und wie gesagt bin ich diejenige, die sich entschuldigen muss“, gab Josephine zurück. „Du bist mir stets ein treuer Helfer gewesen und als du mich gebeten hast, nicht mehr bei den Douglases arbeiten zu müssen, habe ich dir nicht zugehört. Das war nicht richtig von mir.“ Der Junge wischte sich den Mund mit seinem Jackenärmel ab und nahm einen Schluck Limonade. „Schon gut, Miss Fairchild. Aber vielleicht geben Sie mir in der nächsten Zeit ein paar simple Aufträge, bei denen ich nicht Gefahr laufe, am helllichten Tag von irgendwelchen Ganoven in eine Kutsche gezerrt und entführt zu werden.“ Als sie schwieg, lehnte er sich nach vorn. „Was ist denn?“ Josephines Blick war aus dem Fenster gewandert, eine nachdenkliche Falte hatte sich zwischen ihre Augenbrauen gegraben. „Das ist der andere Grund, aus dem ich gekommen bin“, sagte sie dann. „Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch Aufträge für dich haben werde. Die Polizei und meine Kontaktleute bei den Zeitungen wissen jetzt, wer ich bin.“
„Ist das wirklich so schlimm?“, sagte der Reporter, der sich wieder zu ihnen setzte und den verlangten Wein vor ihr abstellte. Josephine seufzte und nahm einen Schluck, bevor sie antwortete. „Ja, das ist wirklich schlimm, Mr Cunningham. Mein gesamtes Geschäft basiert auf meiner Anonymität. Doch nun, da ich aus dem Schatten getreten bin, zweifle ich daran, dass ich mich weiterhin so freizügig in den feinen Gesellschaften bewegen kann, wie ich es bisher getan habe.“ „Das habe ich schon verstanden“, antwortete Ewan, „aber meinte vielmehr, ob es so schlimm wäre, wenn Sie Ihr Geschäft nun von den Skandalen und Enthüllungsgeschichten auf etwas Ehrenhafteres verlegen müssten? Wie ein stadtbekannter Geheimclub zu sagen pflegte: ‚Nichts passiert ohne Grund.'“ Josephine setzte an, dann schwieg sie und überlegte. Dann kehrte ihr übliches, gewinnendes Lächeln in ihr Gesicht zurück: „Was auch immer ich tun werde, Sie werden es mit Sicherheit als Erster erfahren.“
Nachdem er sein Essen beendet hatte, erhob sich der Junge. „Herzlichen Dank für die Einladung zum Lunch, Mr Cunningham“, sagte er. „Leider muss ich los, ich bin mit Tommy verabredet. Wir wollen uns anschauen, wie sie vor St Giles den Weihnachtsbaum aufstellen. War schön Sie zu sehen, Miss Fairchild. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie mich brauchen.“ „Wir haben die Sache tatsächlich aufgeklärt“, sagte Josephine, als William gegangen war. „Die Jungen sind frei, eine Menge mächtiger Männer wartet im Calton Gefängnis auf ihre Anklage und an allen Zeitungsständen der Stadt kann man von den Machenschaften des Concordia Clubs lesen. Diese Geheimgesellschaft müsste schon ordentlich in weitere Geheimhaltung investieren, um wieder zu alter Stärke aufzuerstehen.“ Ewan nickte. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das sage, aber ohne Sie wäre das nicht möglich gewesen.“ Sie nippte an ihrem Wein und sah ihn nachdenklich an. „Gehen wir nun zurück zu unserer eingeübten Antipathie? Oder wollen Sie vorher von mir immer noch die Rechtfertigung zum Fall Malcolm Murray hören – diesem Hund, der mich um mehrere tausend Pfund betrogen hat, während ich ihn eigentlich dafür bezahlt habe, meine Bücher zu führen?“ „Nein“, sagte Ewan nachdenklich, „es ist zwar gut zu wissen, aber dass Sie doch ein Herz besitzen, haben Sie in den letzten Tagen gezeigt.“ Dann leerte er seine Limonade und ergriff ihren Arm. „Trinken Sie aus, Miss Fairchild – wollen wir doch mal sehen, wie dieser Baum aufgestellt wird.“