Prolog
„Meine Liebe, das darf doch nicht wahr sein!“
Octavia Winthrop war außer sich. Eine braune Locke hatte sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst und fiel ihr in die Stirn, sie atmete schwer und warf einen entgeisterten Blick über den Rand ihrer Teetasse auf ihre Gesprächspartnerin. “Oh doch”, gab Priscilla zurück. Wie ihre Freundin die Fassung verlor, widerte sie ein wenig an, doch sie ließ sich nichts anmerken. Immerhin war sie eine geborene Pembroke, die brachte nichts so schnell aus der Ruhe. Nicht einmal der grässlichste Klatsch und Tratsch, der wie üblich zentraler Gegenstand dieser ansonsten so feinen Teegesellschaft war.
Priscilla schaute kurz über die Schulter zu ihren Tischnachbarinnen, doch die waren in ihre Handarbeiten vertieft oder taten zumindest überzeugend so, als ob. Dann beugte sie sich vor und setzte ihre Erzählung mit gesenkter Stimme fort. “Du kannst mir gern glauben, Tavi – ich habe es heute Morgen im Town Topics gelesen.” Octavia schüttelte ungläubig den Kopf. “Wir waren letztes Jahr auf der Hochzeit, erinnerst du dich nicht mehr? Wie verliebt sie waren? Und nun soll sie nicht nur einen, sondern gleich drei Geliebte gleichzeitig haben?” Priscilla zuckte mit den Achseln. Ja, sie erinnerte sich an die Hochzeit. Die Unmengen weißer Rosen, die auf den Stufen von St Margaret Marys gelegen hatten und durch die es beinahe zu peinlichen – und gefährlichen! – Stürzen unter der Brautgesellschaft gekommen wäre. Wie kann man nur so fahrlässig sein, dachte sie bei sich. Ihre Hochzeit würde bei weitem nicht so kitschig und verschwenderisch sein, dafür hatte sie Sorge getragen. Ein schlichtes weißes Kleid, ein Strauß Hyazinthen und wenn sie gemeinsam mit Connor aus der Kirche treten und die herrliche Blütenpracht der Bäume um sie her leuchten würde … ihr Blick glitt zum Fenster, das vom Dunst der warmen Stube angelaufen war und nach draußen, wo sich dick der Schnee auf den Straßen häufte. Es war noch zu früh, um vom Frühling zu träumen. Erst einmal stand Weihnachten vor der Tür.
Ihre Freundin nahm keine Notiz von ihren Tagträumen. Sie hatte sich mittlerweile beruhigt und steckte sich ein Stück Zitronenkuchen in den Mund. “Drei Geliebte!”, sagte sie, nachdem sie sich mit einer Serviette geziert die Lippen abgetupft hatte. “Kannst du dir das vorstellen?” “Mir reicht ein Mann schon völlig aus”, antwortete Priscilla trocken. “Und dabei seid ihr noch nicht einmal verheiratet!”, lachte ihre Freundin, “warte nur ab, bis du die Abende wartend am Kamin verbringst, während er im Pub ein Bier nach dem anderen trinkt. Aber etwas anderes – ich habe Neues über unseren Abgeordneten gehört, der aus London zurückgekehrt ist.” Priscilla blickte neugierig auf. Politik, das interessierte sie mehr als der alberne Klatsch über Affären. “Man hat herausgefunden, dass er viel Geld bei illegalen Pferdewetten verdient hat”, holte Octavia aus – mit einem überlegenen Unterton, da sie der Freundin dieses kostbare Wissen nun zuteil werden lassen konnte. “Regelmäßig hat er sich an der Rennbahn in Musselburgh herumgetrieben, sich dort mit dem schäbigsten Volk gemein gemacht. Ein ehemaliger Abgeordneter des House of Commons, kann man so etwas glauben! Illegale Wetten ist nun wirklich eine sehr lächerliche Art, Geld zu verdienen, meinst du nicht? – Priscilla?”
Priscilla hatte abwesend auf den Rand ihrer Untertasse geschaut, doch diesmal träumte sie nicht von weißen Kleidern und Hyazinthensträußen. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. “Ich finde eher spannend, dass uns in letzter Zeit so viele dieser Nachrichten unterhalten”, sagte sie nach einer kurzen Pause. “Findest du nicht auch, dass uns der Klatsch nicht mehr ausgeht? Ständig kommt ein neuer Skandal, ein neuer Grund zum Aufschreien oder Spotten ans Licht. Da muss doch jemand seine Finger im Spiel haben.” Nun war es Octavia, die den Kopf schüttelte. “Du liest eindeutig zu viele Spionageromane, liebe Prissa. Wer sollte denn so etwas tun?”
Zur gleichen Zeit saß Malcolm Murray in seinem Kontor. Draußen dämmerte es bereits, es war der erste Dezember. Die dunkle Jahreszeit, dachte er. Die Gaslampen taten ihr Bestes, seine mit Akten vollgestopfte Stube zu erhellen. Eines der großen Geschäftsbücher lag aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch. In die schmalen Spalte trug er sorgfältig die Beträge ein, die er sich zuvor auf einem kleinen Stück Papier notiert hatte. Hier da etwas, dort da etwas. Nicht zuviel, damit es nicht auffiel.
Die Tür zu seinem Kontor wurde mit einem Ruck aufgerissen und ein kräftiger Winterwind fegte herein. Murrays Federhalter rutschte über das Papier, gerade konnte er ihn noch auffangen, sonst wäre die ganze Buchseite ruiniert gewesen. Schimpfend warf er das Löschpapier auf den Tintenfleck. Dann blickte er auf, denn eine fremde Gestalt war nah an seinen Schreibtisch herangetreten.
Wenige Stunden später stand Malcolm Murray zitternd auf der Cannonmills Bridge. Unter ihm rauschte das Water of Leith, kalt und dunkel. Er blickte sich um, dann kletterte er über die Brüstung und sprang.
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