Dreiundzwanzigster Dezember

Josephine

Detective Officer Ruaridh MacKay stopfte seine Pfeife, zündete sie an und paffte kleine blau-graue Wölkchen in die Luft. Während dieses Rituals hatte er die beiden Personen, die auf der anderen Seite seines Schreibtisches saßen, nicht aus den Augen gelassen. Dann lehnte er sich nach vorn, nahm einen tiefen Zug und sagte mit seiner sonoren Stimme: „Bei allem Respekt – wollen Sie beide mich verarschen?“

Josephine warf einen Blick auf den Journalisten neben sich. „Ich bin der Auffassung, dafür ist unserer aller Zeit zu kostbar“, antworte sie kühl, „aber natürlich können wir auch wieder gehen, wenn die ehrwürdigen Herren von der Polizei dies für Lappalien halten.“ Mit einer resoluten Geste rückte sie ihren Hut gerade und erhob sich. „Es ist nicht so, dass wir mit leeren Händen kommen“, setzte Ewan Cunningham schnell nach und berührte sie am Arm, wie um sie wortlos zum Bleiben zu bewegen. „Schon gut, setzen Sie sich wieder, Madame“, brummte McKay, „Sie müssen meinen groben Ausbruch entschuldigen. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass man in unsere Wache hereinspaziert und eine Handvoll der höchsten Mitglieder der Edinburgher Gesellschaft der Entführung, der Sabotage und einiger weiterer schwerer Verbrechen bezichtigt.“ An Ewan gewandt sagte er: „Dann zeigen Sie mal her, was Sie da haben, Herr Journalist. In welcher Funktion ich Ihre Begleiterin ansprechen darf, hat mir ja leider noch niemand verraten.“ Josephine nahm wieder Platz und fegte vorher geziert ein paar imaginäre Staubkrümel vom Polster. „Die Funktion ‚Begleiterin‘ ist völlig adäquat und ausreichend“, sagte sie, „Sie dürfen sich unser Verhältnis aber gern nicht unter einem romantischen, sondern vielmehr professionell-kollegialen Schwerpunkt vorstellen.“ Der Polizist lachte. „Madame, sorgen Sie sich nicht – Polizisten haben eine eher beschränkte Vorstellungskraft. Ich arbeite rein auf der Basis von Logik und Vernunft.“ „Wie schön“, lächelte Josephine, „ebenso verhält es sich mit mir.“

Ewan hatte das schwarze Heft auf den Tisch gelegt und schob es mit den Fingerspitzen hinüber, sodass es vor dem älteren Mann zu liegen kam. „Wir haben es in einem Geheimraum im Haus von Sir Richard Douglas gefunden. Zusammengenommen mit den weitere Indizien und Informationen, die wir eingeholt haben, dürfte es Ihnen das Bild als großes Ganzes vor Augen führen.“ Ruaridh MacKay klemmte sich seine Pfeife in den Mundwinkel, schlug die erste Seite auf, las und paffte. Während der minutenlangen Stille, in denen er die Seiten aufmerksam studierte, zogen sich seine buschigen Augenbrauen immer mehr in der Mitte seiner Stirn zusammen. Von Zeit zu Zeit stieß er beim Lesen ein „Ah!“ oder „Na, schau da“ aus. Als er fertig war, klappte er das Notizbuch zu und warf einen langen nachdenklichen Blick aus dem Fenster.

Dann wandte er sich an seine beiden Besucher. „Lassen Sie mich einmal zusammenfassen, was hieraus“ – er stach mit dem Zeigefinger auf den schwarzen Einband, als wollte er ihn aufspießen – „hervorgeht. Es gibt in Edinburgh eine geheime Gesellschaft, die seit Jahrzehnten im Verborgenen agiert und der es vor allem um die Vermehrung des eigenen Vermögens geht.“ „Sie nennen sich der Concordia Club“, ergänzte Josephine, „und Sir Richard Douglas hat den Vorsitz inne.“ MacKay nickte und fuhr fort: „Neben Nebenabsprachen, Schwarzgeschäften und Korruption hat sich diese Organisation aber in letzter Zeit darauf verlegt, junge Männer in bestimmte Positionen einzuschleusen und dort zu ihrem Vorteil zu nutzen.“ „Nachdem sie die Jungen entführt haben, ermitteln sie, wo ihre Stärken liegen und bilden sie weiter aus“, warf Ewan ein. „Ist einer beispielsweise einer ein guter Kellner, wird er bei Gastgesellschaften eingesetzt, um dort privaten Gesprächen zu lauschen. Ist einer geschickt an der Maschine, spioniert er beim Konkurrenten Betriebsgeheimnisse aus. Andere setzen sie als Handlanger, Schläger und Diebe ein. In dem Heft sind alle Betriebe, Wirtschaften und sogar mehrere private Haushalte aufgeführt, in denen der Club seine Puppen eingesetzt hat.“ Ewan schlug das Buch auf und wies auf die Listen: „Und bei jedem Eintrag steht der Zweck des Einsatzes – also um welche Zielperson es geht oder welche Aufgabe zu erfüllen ist.“

Der Detektiv nickte, dann klopfte er den verbrannten Inhalt seiner Pfeife in den Aschenbecher. „Gut, ich danke Ihnen für die Informationen. Ich leite nun alle Schritte ein, die weiter nötig sind und setzte kompetente Kräfte auf den Fall an.“ Entrüstet blickte Josephine ihn an. „Was soll das heißen? Ein paar helmtragende Affen übernehmen und wir sollen nun abwarten und Tee trinken?“ „Ja, das heißt es“, sagte MacKay und zwinkerte ihr zu. „Mehr müssen wir vorerst nicht besprechen.“ Wut stieg in Josephine auf. „Mit Verlaub, aber ist die Polizei überhaupt entsprechend aufgestellt, um eine solche Operation zum Ende zu bringen?“, fragte sie mit schneidendem Unterton. „Sicher!“, gab MacKay grob zurück. „Wenn Sie davon überzeugt sind, wird Sie eine Sache sicherlich interessieren“, entgegnete sie. In einer katzenhaften Bewegung riss sie ihm das Heft aus der Hand und suchte blätternd nach einer Seite. „Haben Sie das gelesen?“ Damit warf sie es aufgeschlagen vor ihm hin und sah ihn herausfordernd an.

Ruaridh MacKay beugte sich vor und studierte mit zusammengekniffenen Augen die Schrift. Plötzlich weiteten sich seine Augen. „Das kann ja wohl nicht wahr sein! Tulloch ist seit mehreren Monaten bei uns und hat bisher immer vorbildlich …“ Er verstummte und blickte in Josephines selbstzufriedenes Gesicht. „Gut Madame – ein weiterer Punkt, der an Sie geht. Es birgt wohl ein gewisses Risiko, diesen Augiasstall auszumisten, wenn wir noch nicht einmal sicher sein können, ob unsere Gegner nicht Schulter an Schulter mit uns stehen.“ „Genau das haben wir uns auch gedacht“, warf Ewan ein, „daher haben wir eine Idee.“ MacKay seufzte. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal zu Zivilisten sage: Was ist unser Plan?“

Nach dem Gespräch in der Polizeistation machten sich Josephine und Ewan in entgegengesetzte Richtungen auf den Weg. Jeder trug in der Tasche eine Liste, die es noch am heutigen Tag abzuarbeiten galt. Besonders wichtig war, jene zuletzt zu informieren, die noch an den Abendausgaben saßen, damit diese nicht auf dumme Gedanken kamen. Ihr Ziel war es nicht, jemanden zu warnen. Sie hatten die Blätter im Sinn, die morgen früh an allen Zeitungsständen, in allen Briefkästen und auf allen Frühstückstischen der Stadt liegen würden.

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