Zwanzigster Dezember

Ewan

Es hatte bereits angefangen zu dämmern, als Ewan im Laufschritt auf der Landstraße entlang hastete. Zwei Dörfer hatte er bereits durchquert und auch wenn er ihre Namen auf den verwitterten Schildern lesen konnte, kamen sie ihm völlig unbekannt vor. Ob er sich tatsächlich zur Stadt hinbewegte, war ihm schleierhaft. Weit und breit konnte er niemanden entdecken, den er hätte fragen können. Er wusste nur, dass er sich mit dem Wasser im Rücken Richtung Osten halten musste.

Neben der Sorge, mitten in der verschneiten Einöde von der Dunkelheit überrascht zu werden, kreisten seine Gedanken um das, was vor wenigen Stunden geschehen war. Die Waisenkinder hatten sich geweigert, mit ihm zu kommen und was Tommy ihm berichtet hatte, beschäftigte ihn noch immer. Die Puzzleteile wollten sich in seinem Kopf nicht zusammenfügen. Philipp Rowe – der Mann in extravaganter Kleidung – ein Auswahlverfahren – Unterricht – die „nächste Phase“. Dazu die merkwürdige Nachricht, die man ihm nach dem Einbruch in die Redaktion hinterlassen hatte. Die Sache wuchs ihm über den Kopf, das war klar. Mit einem Mal fühlte sich Ewan schrecklich allein. Sein Chefredakteur hatte ihm nach dem Überfall geraten, die Story auf sich beruhen zu lassen und ein paar Tage frei zu nehmen. Josephine Fairchild, die seine letzte Hoffnung gewesen war, hatte ihn abgewiesen. An wen könnte er sich sonst wenden?

Langsam senkte sich die Nacht über die verschneiten Felder rings um ihn. Am Horizont kroch ein dunkelblauer Streifen herauf, der rasch anwuchs und das letzte Tageslicht verdrängte. Zwar lief er in einer ausgefahrenen Rinne der Landstraße, doch an den Spitzen seiner Stiefel fühlte er bereits die ersten nassen Stellen, wo der Schneematsch durch die Nähte des Leders drang. Vor ihm lag ein weiteres Dorf und als er sich näherte, erkannte er den Namen auf dem Ortsschild. Sein Herz machte einen Luftsprung vor Freude. Er hatte Crewe Toll erreicht, die Kreuzung zwischen Crewe- und Ferry Road, die den Namen des einstigen Zollhäuschens trug. Mittlerweile war hier nur noch die alte Schmiede zu finden und der Grund für Ewans Euphorie: Die Haltestelle der Caledonian Railway, die ihn zurück ins Herzen der Stadt bringen würde. Ewan war schon fast beim Bahnsteig angekommen, da hörte er aus der Ferne das gleichmäßige Geräusch einer herannahenden Eisenbahn. Dann bog die Dampflokomotive um eine Kurve, gekrönt von einer Rauchsäule. Mit Erleichterung sah Ewan, dass sie Waggons hinter sich herzog, die in Purpur und Weiß gestrichen waren – das untrügliche Zeichen, dass es sich um Personenwagen handelte. Er rannte die letzten Meter und erreichte den Zug gerade noch rechtzeitig.

Erschöpft ließ er sich in die dunkelblauen Samtpolster fallen. So viel Glück konnte ein Mensch gar nicht haben, dachte er. Von Crewe Junction fuhren Züge in alle Himmelsrichtungen ab und genau dieser würde ihn bis zur Princes Street in die Neustadt von Edinburgh bringen. Von dort war es nur noch ein Katzensprung bis – nun, wohin wollte er überhaupt gehen? In die Redaktion? Nach Hause? In seiner aktuellen Verfassung würde ihm ein Besuch im Pub sicher am dienlichsten sein. Doch zunächst musste er diese Entscheidung nicht treffen, die Fahrt dauerte mindestens noch eine halbe Stunde. Mit einem Mal merkte Ewan, wie erschöpft er war. Gegenüber von ihm saß eine ältere Dame, die ihn beim Einsteigen gegrüßt und sich dann wieder in ihren Kriminalroman vertieft hatte. Er bat sie höflich, ihn zu wecken, sobald sie Princes Street erreichten und sie versprach es. Völlig entkräftet lehnte er den Kopf in die Ecke des Sitzes und während draußen die winterliche Landschaft vorbeizog, fielen ihm die Augen zu und das sanfte Wiegen des Zugs schaukelte ihn in einen tiefen Schlaf.

Als er in New Town den Zug verließ, fühlte er sich zerstreut und die kalte Nachtluft erschien ihm noch unangenehmer als vorher. In der Princes Street gab es keine Pubs, daher wandte er seine Schritte Richtung Old Town. Mit der Royal Scottish Academy zur Linken und dem dunklen Park zur Rechten erreichte er bald das verwinkelte Netz der Altstadtstraßen. Sein Hut war in dem ganzen Durcheinander abhanden gekommen, daher kämmte er sich das Haar mit den Fingern ins Gesicht und schlug den Mantelkragen hoch, damit ihn neugierige Augen nicht auf den ersten Blick erkannten. In der Candlemaker Row steuerte er den alten Pub an, der, wie er wusste, noch bis spät in die Nacht gutes Essen servierte. Als er an dem Trinkbrunnen vorbeiging, auf dessen Spitze ein bronzenes Hündchen saß, streichelte er ihm geistesabwesend über den Kopf. „Bobby“ hatte vierzehn Jahre lang das Grab seines Herrchens im angrenzenden Greyfriars Kirkyard bewacht, bis er selbst das Zeitliche segnete. Verzaubert von der Geschichte, hatte eine der reichsten Frauen des Vereinigten Königreichs dem kleinen Terrier jüngst ein Denkmal gesetzt.

Im Pub war es laut und voll, doch Ewan fand eine Ecke, in die er sich mit einem Ale und einer großen Schüssel Stew zurückziehen konnte. Der Eintopf schmeckte herrlich und das starke Bier brachte genau den wohligen Rauschzustand, den er sich erhofft hatte. Bald waren seine Lebensgeister wieder erwacht, damit er sich bereit fühlte, den Heimweg anzutreten. Seine kleine Wohnung war glücklicherweise nicht mehr weit entfernt.

Am nächsten Tag erwachte Ewan nicht vor dem Mittag. Als er schließlich aufstand, fühlte er ein merkwürdige Klarheit. Sollten sie ihn doch alle im Stich lassen, verprügeln, einschüchtern und entführen – er war ein Journalist, verdammt nochmal! Er würde diese Geschichte veröffentlichen, koste es, was es wolle. Großbritannien hatte 1695 als erste Nation die Pressefreiheit eingeführt und nicht weniger galt es hier und heute zu verteidigen, dachte Ewan erbittern. Nach der Drucklegung könnte er sich an die Polizei wenden, überlegte er und um Geleitschutz in den folgenden Tagen bitten – auch wenn ihm dieses Gesuch bereits jetzt aussichtslos erschien. Dennoch machte er sich nach einem kurzen Frühstück fest entschlossen auf den Weg in die Redaktion.

Schon zwei Kreuzungen vor dem ehrwürdigen Gebäude des Scotsman durchzog die Straßen der beißende Geruch von Rauch. In der Ferne tauchten mehrere Pferdegespanne auf, die Löschwagen hinter sich herzogen, während Mitglieder der Edinburgh Fire Brigade in ihren schwarzen Jacken, hellen Hosen und glänzenden Helmen eilig ans Werk gingen. Eine Kette formierte sich, gefüllte Eimer wurden von Hand zu Hand gereicht, um das Inferno in den zersplitterten Fenstern zu bekämpfen. Dickflüssiger Qualm hatte den gesamten Straßenzug erfasst und Ewan suchte das Gespräch mit einem in der Nähe stehenden Polizisten. „Entschuldigen Sie, Sir – ich arbeite bei den Evening News.“ Der Polizist zuckte mit den Schultern und entgegnete: „Tja, sieht so aus, als wären das fürs Erste vorbei.“ Unbeeindruckt von der lakonischen Antwort fragte Ewan weiter: „Wissen Sie schon, wie es passiert ist?“ „Die Brigade denkt, es war Brandstiftung“, sagte der Polizist, „die werden in der Redaktion wohl kaum so dumm sein, offenes Feuer herumstehen zu lassen, bei dem ganzen Papier. Und Elektrizität haben sie dort noch keine verlegt.“

Ewan bedankte sich und wandte sich wieder dem ausgebrannten Haus zu. Das Geschehen erschien ihm wie eine direkte Botschaft, nachdem er entkommen war: „Mag sein, dass du dich unserer Kontrolle entzogen hast – doch wir können dich überall verletzen, wo auch immer du dich versteckst.“

Ähnliche Beiträge