Neunzehnter Dezember

Josephine

Man hatte sie in die Waschküche des Hauses gebracht und dort auf einem Stuhl festgebunden. Ihren Beteuerungen, nur versehentlich in den geheimen Raum gelangt zu sein, wurde keine Beachtung geschenkt. „Sie bleibt hier, bis Sir Richard nach Hause kommt“, hatte der junge, uniformierte Mann zu der Köchin gesagt, „und sei dir sicher – das wird auch für dich ein Nachspiel haben.“ Nachdem man sie allein gelassen hatte, blickte sich Josephine um. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, sich zu befreien und zu entkommen. Der Raum war schmal und an den Seiten von hohen Wäscheschränken gesäumt. Ein mittels Handkurbel betriebener Waschzuber stand bereit, diente aber aller Wahrscheinlichkeit nur dazu, um im Notfall kleinere Wäschestücke kurzfristig reinigen zu können. Die Douglases nahmen wie alle gut gestellten Familien die Dienste einer Großwäscherei in Anspruch, von denen es in der Stadt zahlreiche gab. Am hinteren Ende erkannte Josephine eine Tür, durch deren Glaseinsätze Tageslicht hereinfiel. Wenn sie Glück hatte, war dort ein Zugang zum Garten – der Gedanke war nicht abwegig, musste man doch mit frischer Wäsche möglichst ohne Umwege zu Wäscheleine kommen.

Doch bevor sie sich der Frage widmen konnte, wie sie sich der Fesseln entledigte, wurde die Tür aufgestoßen und Richard Douglas trat in Begleitung eines anderen Mannes herein. Josephine atmete erleichtert auf: Es war Alastair Wallace, der da an Sir Richards Seite ging. Es tat gut, in dieser Situation in ihm einen stillen Verbündeten zu wissen. Wenn sie sich jetzt nichts anmerken ließ und einen Moment mit Alastair allein gewann, würde er sie sicherlich befreien. Doch zunächst richtete Douglas das Wort an sie. „Guten Tag, Miss“, sagte er in einem Tonfall, scharf wie ein Richtschwert. „Ich freue mich ja stets über Gäste in meinem Haus – nur wäre ich gern derjenige, der den Besuch herumführt. Sie hingegen haben sich ganz selbstständig eingelassen und Zutritt zu einem Raum verschafft, von dessen Existenz selbst der Großteil meiner Dienstboten nichts weiß.“ „Es tut mir aufrichtig leid, Sir“, sagte sie und legte alles an gespielter Unschuld in ihre Stimme, was sie aufbringen konnte. „Ich war auf der Suche nach meinem Ohrring. Ich muss ihn bei einer Ihrer jüngsten Abendgesellschaft hier verloren haben. Gerade suchte ich in der Bibliothek, da öffnete sich das Regal und offenbarte einen Gang.“ Sie atmete schwer und presste dann ein paar falsche Tränen heraus – eine Fähigkeit, die ihr schon oft hilfreich gewesen war. „Verurteilen Sie mich ruhig aufgrund meiner Neugier – aber bitte, Sir: Eine derartig grausame Behandlung verdiene ich nicht.“

Sir Richard kniff die Augen zusammen und ging ein paar Schritte auf sie zu. „Im Gegenteil“, sagte er dann, „ich denke, wir sind bisher noch viel zu sanft mit Ihnen umgegangen. Wie, sagen Sie, ist Ihr werter Name?“ Josephines Blick flog zu Alastair, dann traf sie eine Entscheidung. „Genevieve Stirling“, sagte sie. Richard Douglas lachte. „Ah, wie interessant – und meine Köchin schwört, dass Sie sich ihr als Evelyn Saunders vorgestellt haben. Glücklicherweise kenne ich die Ehefrau unseres Ratsherren. Auch wenn sie sich nur selten in der Öffentlichkeit zeigt, weiß ich doch, dass sie keinerlei Ähnlichkeit mit Ihnen hat.“ „Sie muss sich wohl getäuscht haben!“, sagte Josephine in gespielter Verzweiflung.

Da meldete sich Alastair Wallace zu Wort. „Nun, Saunders und Stirling – die Namen klingen durchaus ähnlich. Vielleicht liegt tatsächlich eine Verwechslung vor.“ Sir Richard warf ihm stirnrunzelnd einen Seitenblick zu. „Gut, ich werde die Frau fragen gehen. Dann muss ich mir nicht vorwerfen lassen, Menschen ungerechtfertigterweise zu verurteilen – auch wenn diese sich freizügig in meinen privaten Gemächern bewegen, als wäre es ihr eigenes Heim.“ Damit verließ er den Raum. Josephine atmete auf. „Mein liebster Alastair!“, brach es aus ihr heraus, nachdem sie sicher sein konnte, dass Douglas außer Hörweite war. „Bitte helfen Sie mir – schauen Sie nur, man hat mich gefesselt! Es war eben jene Abendgesellschaft, bei der wir uns kennenlernten, wo ich meinen Ohrring verloren habe! Ich versichere Ihnen, es ist alles nur ein böses Missverständnis.“ Doch Alastair machte keine Anstalten, sie loszubinden und begann, im Raum auf und abzugehen. Dann kam er zu ihr, hockte sich vor ihr auf den Boden und studierte eingehend ihr Gesicht. „Meine Liebe“, sagte er, „Sie müssen mich wirklich für einen besonders dummen Mann halten.“

Josephine schluckte, doch ließ sich nichts anmerken. „Wie bitte? In keinster Weise, wieso sollte ich…?“ Er schaute sie mitleidig an. „Nun ja, ich kann es Ihnen nicht verdenken. Viele Menschen schauen nur meine oberflächliche Erscheinung an und halten mich für nicht mehr als einen eingebildeten Dandy, der dank des Gelds seiner Familie in Tagträumen längst vergangenen Zeiten schwelgt. Manch einer wäre vielleicht beleidigt – doch ich habe schnell erkannt, dass es gewinnbringender sein kann, unterschätzt zu werden, als überschätzt. Ein Fehler, den offenbar auch Sie begangen haben.“ Langsam beschlich Josephine die Ahnung, dass er damit Recht hatte. Es war wohl besser, sie schwieg und ließ ihn sprechen, solange der andere Mann noch nicht zurückgekehrt war. „Bei unserer ersten Begegnung hegte ich natürlich noch keinen Verdacht“, fuhr Alastair fort, „doch dann fragten Sie mich im Botanischen Garten ein wenig zu abgeklärt nach meinen Zielen und Ambitionen. Eine Frau wie Sie weiß, dass Männer gern über solche Themen sprechen. Ihre ständigen Beteuerungen, dass Sie nur eine einfältige Gesellschaftsdame seien, habe ich Ihnen nicht abgekauft. Weiterhin fiel mir auf, dass während ich immer mehr von meinem Innersten offenbaren sollte, Sie die Mauer um sich selbst aufrecht erhielten.“ Josephines Herz schlug schneller, doch Wallace ließ ihr keine Zeit, einen klaren Gedanken zu fassen. „Nun, die letzte Bestätigung brachte mir der heutige Nachmittag: Einen Ohrring mit welchem Stein sagten Sie, suchen Sie?“ „Es ist ein Saphir“, murmelte sie. Er grinste. „Sie behaupten, blauen Schmuck getragen zu haben – zu einem grünen Tartan-Kleid? Meine Liebe, jeden anderen Mann können Sie damit täuschen, aber mich ganz bestimmt nicht.“

Nun gab es nur noch die Flucht nach vorn. „Gut, ich habe gelogen“, fauchte sie – „ich wollte mich hier umsehen.“ „Zu welchem Zweck, meine Teure?“ Sie überlegte, dann setzte sie alles auf eine Karte. „Sie haben mir vom dem Geheimclub erzählt. Tatsächlich habe ich in anderen Gesellschaften auch schon davon gehört und mehrere Indizien führten zu Sir Richard. Wie ich sagte – es war reine Neugier.“ „Haben Sie denn etwas in dem Raum gefunden?“ „Nein“, sagte sie und legte einen Hauch von Bedauern hinein. „Leider nichts. Man hat mich wenige Minuten, nachdem ich die Geheimtür gefunden hatte, ertappt.“ Alastair hob eine Augenbraue, schwieg aber. „Aber Alastair“, redete sie weiter und senkte die Stimme für den Fall, dass jemand sie belauschte, „haben Sie mir nicht erzählt, dass Sie den Club stürzen wollen? Vielleicht können wir zusammenarbeiten. Bitte binden Sie mich los – dann werde ich zu Ihrer Verbündeten im Schatten und gemeinsam können wir, wenn Sie Ihre Ziele erreicht haben …“

Sie verstummte, denn Richard Douglas betrat den Raum. Alastair wandte sich zu ihm um. „Was hat die Befragung ergeben, Sir Richard?“ „Nichts, was wir nicht schon wussten, lieber Alastair. Meine Köchin schwört felsenfest, den Namen Saunders gehört zu haben. Was haben Sie in der Zwischenzeit herausgefunden?“ Alastair räusperte sich und Josephine klammerte sich am Sitz ihres Stuhls fest. „Diese Dame ist eine Betrügerin“, sagte er dann. „Nicht nur hat sie sich ohne Erlaubnis in Ihren privaten Gemächern aufgehalten, sie tat es auch noch zu einem bestimmten Zweck. Gestatten Sie, Sir Richard, dass ich eine gewagte Vermutung aufstelle: Vor uns sitzt jene Person, die versucht, unseren Club zu Fall zu bringen.“ Sir Richard riss die Augen auf. „Diese Frau war in die Sache mit Murray verstrickt, sagen Sie?“ Alastair nickte: „Wie Sie wissen, hatten Sie mich zum Vorsitzenden der Kommission berufen. Umso mehr Freude verspüre ich, diesen Fall erfolgreich vor Ihnen ausrollen zu können.“

Jetzt war ihr alles klar. Dieser gemeine Hund versuchte, über ihre Leiche die Karriereleiter weiter nach oben zu steigen. Doch sie hatte noch ein letztes Ass im Ärmel, womit keiner der beiden rechnen würde. Das hatte sie zwar noch nie ausgespielt, aber wenn es einen günstigen Moment dafür gab, war er nun gekommen. Josephine beschleunigte ihre Atmung, stöhnte und begann, wild zu zucken. Dann verkrampfte sie die Arme vor der Brust, wie sie es damals bei dem Fallsüchtigen auf der Straße beobachtet hattet. Das Schauspiel erzeugte den erwünschten Effekt und aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, dass beide Männer sie entsetzt anstarrten. Josephine verstärkte ihr Zucken noch und schaffte es schließlich, den Stuhl zum Umstürzen zu bringen. „Personal!“, rief Sir Richard, warf einen abschätzigen Blick auf sie und eilte hinaus. Sir Alastair hingegen hockte sich neben sie auf den Boden und beobachtete sie mit prüfendem Blick. „Du denkst, du kannst mich ertappen“, dachte Josephine, „dann schau dir das mal an.“ Sie verzerrte ihr Gesicht zu einer grässlichen Fratze und begann, wild mit den Zähnen zu klappern, sodass ihr Schaum vor den Mund trat. Angeekelt wich Alastair zurück und verließ ebenfalls den Raum.

Kurz darauf war man bei ihr und band sie los. Mühevoll hielt sie das Zucken aufrecht, auch als man sie auf den Boden legte und ein Stück Holz zwischen ihre Zähne klemmte. „Wir brauchen einen Arzt!“, hörte sie eine Frauenstimme rufen. „Kein Arzt“, kam die Antwort von Sir Richard aus einiger Entfernung zurück. „Lasst sie dort liegen, bis sie ausgezuckt hat. Dann gebe ich weitere Anweisungen. Bis dahin soll der Junge auf sie aufpassen.“

Der Junge? Josephines Herz klopfte aufgeregt. Nein, konnte sie wirklich so großes Glück haben? Als nach ein paar Augenblicken William den Raum betrat, hätte sie vor Freude schreien können. Glücklicherweise ließ er sich nichts anmerken und setzte sich auf den Stuhl neben ihren Kopf. „Sie sind alle fort“, sagte er wenig später im Flüsterton zu ihr. Augenblicklich beruhigte sie sich, setzte sich vorsichtig auf und nahm das Holz aus dem Mund. „William! Noch nie habe ich mich so gefreut, dein Gesicht zu sehen!“ Er lächelte. „Lassen Sie uns endlich hier verschwinden, Miss Fairchild.“

Ähnliche Beiträge