Ewan
Als Ewan erwachte, fror er. Zuerst dachte er, es wäre Nacht, weil er nichts sehen konnte, doch dann kehrte die Erinnerung zurück. Sie hatten ihm einen Sack übergezogen, der ihm noch immer die Sicht verdeckte. Außerdem war er an Händen und Füßen zusammengebunden, was den Versuch, sich aufzurichten, deutlich erschwerte. So konnte er zunächst nichts anderes tun, als hilflos dazuliegen und sich auf seine verbleibenden Sinne zu konzentrieren. Ein Luftzug und das leise Plätschern von Wellen verrieten ihm, dass er sich im Freien in der Nähe von Wasser befand. Allerdings hallte das Echo des Wassers kurz nach, woraus er schloss, dass ihn ein Gebäude umgeben musste. Fühlen konnte er zunächst nichts außer Kälte, doch dann ertasteten seine Hände harten Stein, der unter seinem Körper leicht abschüssig war.
Plötzlich spürte er etwas Feuchtes an seiner Schulter. Es musste eine Welle gewesen sein, denn nach einer kurzen Pause kehrte das Nass zurück und benetzte mehr von seinem Körper. Lag er direkt am Rand eines Gewässers? Er versuchte, sich davon wegzurollen, was der steile Boden unter ihm nahezu unmöglich machte. Wenige Minuten später lag bereits sein ganzer Arm im Wasser. Entsetzt schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Die Flut! Man musste ihn an einem Ort zurückgelassen haben, den der Tidenhub regelmäßig überschwemmte. In blinder Panik versuchte er, durch Treten und Strampeln seine Fesseln zu zerreissen, aber sie schnitten dadurch nur stärker in seine Haut. Da drückte etwas unangenehm gegen seinen Knöchel und Ewan hätte vor Glück schreien können. Sein kleines Taschenmesser, das er genau für derartige Notfälle immer im linken Stiefel versteckte, hatte er völlig vergessen, aber es hatte sich ihm im genau richtigen Moment in Erinnerung gebracht. Es erforderte einige Verrenkungen, an das Messer zu gelangen und damit die Fesseln zu durchtrennen, doch endlich befreite sich Ewan, setzte sich auf und zog den Sack vom Kopf.
Nun erkannte er, wo er sich befand: Er lag auf der Rampe eines hölzernen Bootshauses, dessen Türen offen standen und den Blick auf ein winterliches Gewässer freigaben. Ewan sah verschneite Bäume am Ufer stehen, über dem Wasser hing sanfter Nebel, doch nichts wies darauf hin, welche Tageszeit war. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Sollte er es wagen, um Hilfe zu rufen? Offenbar hatte man ihn in der vollen Absicht zurückgelassen, dass die Flut ihr Übriges tun und ihn ertränken würde. Wenn das der Fall war, wären diejenigen, die ihn hier hin gebracht hatten, nicht skrupellos oder mutig genug, um ihn eigenhändig zu ermorden, überlegte er, da sie die Drecksarbeit ja von den Naturgewalten erledigen ließen. Vielleicht wollten sie auch ihre Spuren verwischen.
Ewan stand mühsam auf, seine Muskeln schmerzten von der unnatürlichen Haltung, in der er offenbar mehrere Stunden gelegen hatte, wozu auch der kalte Boden seine Wirkung getan hatte. Zuerst lief er zum Tor des Schuppens, aber natürlich war es von außen verschlossen. Dann schaute er sich ratlos um. Hier musste es doch irgendetwas geben, das ihm helfen konnte! An den Wänden waren Regale mit Werkzeug und Materialien für Pflege und Wartung, davon war nichts zum Aufstemmen eines massiven Holztors geeignet. Da bemerkte Ewan das Boot, das vertäut in der Einfahrt lag und immer mehr von der hereinkommenden Flut umspült wurde. Es brachte ihn auf eine Idee.
Wenige Minuten später ruderte er auf das stille Wasser hinaus. Nun konnte er sehen, dass er sich auf einem kurzen Kanal zum Meer befand, denn in der Ferne öffnete sich der Firth of Forth. Je weiter er sich vom Bootshaus entfernte, desto besser konnte er auch die Umgebung erkennen. Vor ihm lag ein weitläufiger Rasen, der Teil eines großen Landschaftsparks mit Waldinseln, Alleen und künstlichen Teichen war. Am Horizont erkannte er die Umrisse eines Hauses, dessen spitze Schornsteine aus dem Nebel stachen. Ewan manövrierte seinen Kahn in Richtung Ufer und gelangte bald überwiegend trockenen Fußes an Land. Er befand sich schon auf halbem Weg in Richtung Haus, als seine Vernunft anklopfte. Was, wenn sich genau dort die Menschen befanden, die ihn überwältigt und zum Sterben zurückgelassen hatten? Gleichzeitig ergab sich hier aber auch eine einmalige Chance, herauszufinden, wer dafür verantwortlich war, überlegte er. Vorsichtig und im Schutz eines kleinen Wäldchens näherte er sich dem Gebäude.
Da hörte er das Knirschen großer Räder auf Kies und sah eine schwarze Kutsche vom Hof rollen. Ewans Herz schlug schneller. Wer sich auch immer dort aufgehalten hatte, er reiste offenbar gerade ab. Wenn es je eine günstige Gelegenheit gegeben hatte, dann präsentierte sie sich ihm gerade. Als die Kutsche außer Sichtweite war, schlich er um das Haus herum.
Der Sandsteinbau glich eher einem Schlösschen mit seinen Treppentürmen, künstlichen Schießscharten und Zinnenkränzen am Giebel. Unter einem Vordach fand Ewan das Eingangsportal vor. Kurz hielt er den Atem an – doch die Tür war unverschlossen. Er öffnete nur einen schmalen Spalt und betrat lautlos das Innere des Schlosses. Der Duft von altem Holz, muffigen Teppichen und verblichenem Leinen umgab ihn, als er durch die Räume der unteren Etage wanderte. In einem der Zimmer entdeckte er antike Möbel und Gemälde, in einem anderen eine Küche mit einem offenen Kamin, in der es nach kaltem Essen roch. Anhaltspunkte, wer hier lebte, fand er jedoch keine. Nachdem er alle Räume des Erdgeschosses ohne Ergebnis durchkämmt hatte, fand er die Treppe, die zum ersten Stock führte. Die Stufen knarrten leise unter seinen Stiefeln, als er sie hinaufstieg. Im oberen Flur angekommen, öffnete er behutsam eine Tür. Dahinter erwartete ihn ein Schlafsaal, der aus einem Dickens-Roman hätte stammen können und dessen schäbige Aufmachung in keiner Weise zum Rest des so altehrwürdigen Hauses passte. Noch überraschender aber war, dass der Raum nicht leer war.
Auf den Betten saßen gut zwanzig Jungen unterschiedlichen Alters. Einige von ihnen lasen, andere unterhielten sich leise. Als der fremde Mann eintrat, hoben sie den Kopf und in vielen Augen stand ein Ausdruck von Angst. Ewan war fassungslos. Konnte das wirklich möglich sein? Sein Blick flog über die Gesichtern und blieb an einem hängen, das er kannte. „Tommy?“, fragte er verdutzt. Thomas Murphy war ebenso überrumpelt: „Mr Cunningham? Was tun Sie denn hier?“ „Das könnte ich dich genauso fragen. Was macht ihr hier? Was hat es mit diesem Ort auf sich?“ Der rothaarige Junge legte das Buch zur Seite, dass er gelesen hatte und erhob sich vom Bett. „Sir, ich denke, es wäre besser, wenn Sie so schnell wie möglich von hier verschwinden.“ Ewan schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber ich werde hier auf keinen Fall fortgehen, bevor ihr mir nicht gesagt habt, was hier los ist.“ Tommy blickte fragend im Raum umher, doch die anderen Jungen machten keine Anstalten, sie zu unterbrechen. Dann seufzte er. „Gut. Aber Sie müssen versprechen, dass Sie danach verschwinden.“ Ewan nickte. „Also Sir, es ist so: Man hat uns alle nach und nach hierher gebracht. Kurz nach unserer Ankunft hat man ein Auswahlverfahren durchgeführt.“ „Was soll das heißen?“, unterbrach Ewan aufgeregt. „Sie wollten wissen, was wir gut können – wer gut reden kann, wer Ahnung von Technik hat, wer schon mal in einem feinen Haushalt gearbeitet hat. Danach wurden wir sortiert und erhalten seitdem Unterricht in Gruppen.“ „Unterricht?“
Tommy nickte. „Sie sagen, es ist Teil der Vorbereitung auf das, was sie als ’nächste Phase‘ bezeichnen. Leider weiß hier keiner, was das ist. Immer wieder erreichen das einige von uns und werden abgeholt. Zurückgekommen ist noch keiner.“ Ewan konnte sich auf das Gehörte keinen Reim machen. „Tommy, kannst du mir noch irgendwas sagen? Einen der Männer beschreiben, die euch hier her gebracht haben oder die euch unterrichten?“ Der Junge überlegte. „Nein“, sagte er dann, „sie sehen im Grunde alle gleich aus und wir kennen keinen derjenigen, die uns unterrichten.“ Da meldete sich eines der anderen Kinder, ein Blonder, der höchstens zehn Jahre alt sein mochte: „Tommy, was ist mit dem Gockel?“ „Stimmt, der Gockel unterscheidet sich von den anderen.“ Ewan blickte ihn fragend an und er fuhr fort. „Wir nennen ihn so, weil er sich immer anzieht wie ein Gockel. So bunt und schräg. Er trägt immer ein Halstuch in bunten Farben, aber das Lustigste an ihm ist sein Zylinderhut, den er selbst im Haus nicht vom Kopf nimmt.“