Ewan
Diese unverschämte Person! Wütend trat er gegen eine Kiste, die den Fehler begangen hatte, zu viel Platz auf dem Bürgersteig einzunehmen. Sie musste bis zum Rand gefüllt sein und bewegte sich daher keinen Zentimeter. Statt das befriedigende Splittern von Holz hörte er nur ein Knacken und ein stechender Schmerz schoss ihm durch den Fuß. Fluchend und humpelnd setzte er seinen Weg fort. Wenn er sich wegen Josephine Fairchild nun auch die Zehen gebrochen hatte, würde er erst ihr großflächiges Portrait auf die Titelseite der Evening News drucken und danach ihr Haus anzünden, dachte er außer sich vor Zorn.
Sein Fuß schmerzte noch immer, als er das Hafenkontor von Philip Rowe erreichte, was seine miserable Stimmung weiter befeuerte. Daher stieß er die Tür etwas heftiger auf als beabsichtigt und löste damit einen Sturm unter den Glöckchen aus, die den Eintritt eines neuen Kunden ankündigen sollten. Erschrocken blickte ihn die Sekretärin an und Ewan atmete tief durch, um sich zu beruhigen, als er auf den Tresen zuschritt. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er und wurde sich plötzlich seines ramponierten Äußeren gewahr. „Mein Name ist Abraham Smithers. Ich habe einen Termin mit Mr Rowe.“ Das stimmte nicht, aber war eine Taktik, der er sich schon häufiger erfolgreich bedient hatte. Das Alias hatte er sich zurecht gelegt, da er hier keinesfalls unter seinem echten Namen auftreten konnte. Die Frau warf einen Blick auf ihre Unterlagen. „Wie war Ihr Name – Smithereen?“ „Smithers“, korrigierte Ewan. „Hier ist leider nichts notiert“, sagte sie bedauernd, nachdem sie mehrere Seiten durchgeblättert hatte. „Wir sind uns gestern zufällig begegnet und er hat mich gebeten, heute um diese Uhrzeit vorbeizukommen“, erklärte er, „vielleicht hat er vergessen, es Ihnen mitzuteilen.“ Sie nickte verständnisvoll und seufzte. „Ja, das kommt leider häufiger vor. Man darf nicht schlecht über seinen Arbeitgeber sprechen, aber verraten Sie mir doch, wie ich unter diesen Umständen ein zuverlässiges Sekretariat führen soll?“ „Man muss immer das Beste wollen – und ich finde, Sie machen das ganz hervorragend“, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln und sie wies ihm strahlend den Weg zu Rowes Büro.
Philip Rowe saß hinter einem mächtigen Schreibtisch aus Eichenholz und war gerade mit der Lektüre einiger Papiere beschäftigt, als Ewan klopfte und einen Augenblick später eintrat. „Guten Tag, Mr Rowe“, grüßte er höflich. Der Mann sah ihn erstaunt an, wies aber dann auf den freien Stuhl vor seinem Tisch. „Guten Tag, Sir! Was kann ich für Sie tun?“ Ewan setzte sich und versuchte, seine schlechte Laune beiseite zu schieben. Eigentlich bräuchte er volle Konzentration, doch seine Gedanken schweiften immer wieder zu den frustrierenden Ereignissen des Morgens zurück. „Ich komme mit einigen Fragen zu Ihnen, in der Hoffnung, dass Sie mir dabei weiterhelfen können“, sagte er. Rowe lachte jovial. „Nun, ich bin glücklicherweise heute in der Stimmung, Fremden, die unangekündigt in meinem Kontor auftauchen, weiterzuhelfen!“, sagte er. „Schießen Sie los.“ „Ich komme im Auftrag der Stadt“, log Ewan. „Man hat mir die Aufgabe übertragen, mich nach dem Verschwinden mehrerer Kinder zu erkundigen.“ Die Miene des Anderen verfinsterte sich augenblicklich. „Und was kommen Sie da zu mir? Wegen diesem schändlichen Zeitungsartikel, richtig? Passen Sie mal auf: Das ist das Werk skrupelloser Dilettanten, die zu wenig Wahrheiten haben und ihre Schmierenblätter stattdessen mit Lügen füllen müssen.“ Er zündete sich eine Zigarre an, doch seine Tirade war noch nicht beendet. „Sie kommen vom City Council, sagen Sie? Da stellt man wohl Menschen an, die diesen Schund lesen?“
Mit aller Kraft versuchte Ewan, Ruhe zu bewahren. Er zuckte mit den Achseln: „Nun, es ist eine Spur, die man mich gebeten hat, zu verfolgen. Ihr Name wird erwähnt und es wird nahegelegt, dass Sie zuletzt mit Thomas Murphy gesehen wurden.“ Rowe schlug mit der Faust auf den Tisch. „Sehe ich aus wie ein gewöhnlicher Kerl, der sich mit Waisenkindern abgibt?“, donnerte er, „Was wollen Sie mir hier eigentlich unterstellen?“ „Ich unterstelle nichts“, erwiderte Ewan, „ich hätte nur gern ein paar Antworten.“ Wütend drückte Rowe seine Zigarre aus und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Dann ließ er den Blick über das Gesicht seines Gegenübers wandern und blieb an den Wunden hängen. Plötzlich bemerkte Ewan eine Veränderung in seinem Ausdruck, die so schnell wieder verflog, wie sie gekommen war. Statt Zorn legte sich nun ein Lächeln über das Gesicht des Mannes, das vor Genugtuung nur so triefte.
„Entschuldigen Sie bitte meinen Ausbruch“, sagte Rowe und langte nach einer neuen Zigarre. „Es ist sind sehr emotionale Tage für mich. Sie müssen verstehen, Sie sind nicht der Erste, der zu mir kommt.“ „Ach wirklich?“, fragte Ewan. „Nein, durch diese unbedachte Erwähnung in einem Blatt, das die ganze Stadt liest, werde ich ständig belästigt. Die Sache hat eine einfache Erklärung, die ich aber nicht jedem dahergelaufenen Nichtsnutz preisgebe. Sie sind von der Stadt, sagen Sie? Wie war Ihr Name noch gleich?“ „City Clerk Smithers“, gab Ewan zurück. „City Clerk Smithers!“, rief Rowe aus, „Nun, Ihnen, lieber Freund, kann ich reinen Wein einschenken. Es ist nämlich so: Ich habe einen Bruder, über den kaum gesprochen wird. Ja, die Eskapaden meiner Schwestern sind jede Woche in den Town Topics zu lesen, doch die Existenz meines Bruders ist ein wohlgehütetes Familiengeheimnis. Wir kamen gemeinsam auf die Welt, doch anscheinend habe ich ihm im Mutterleib das Leben so schwer gemacht, dass bald nach der Geburt seine Schwachsinnigkeit offenkundig wurde. Er ist nicht so unfähig, dass er nicht gelegentlich alleine Ausflüge machen kann und wir haben lange vermutet, dass er sich mit einfachem Volk abgibt. Dass er sich Kinder als Spielgefährten wählt, ist nicht verwunderlich, schließlich ist er im Geiste selbst immer ein Kind geblieben.“ Ewan nickte zögernd. Er war sich sicher, dass Rowe ihn belog. „Und als ihr Zwillingsbruder ist er Ihnen vermutlich wie aus dem Gesicht geschnitten?“ „Wie ein Ei dem anderen!“, lachte Rowe. „Von daher sehen Sie nun die Stricke, die mich halten, ganz klar vor sich: Ich kann mich nicht verteidigen, ohne die Ehre meiner Familie zu kompromittieren.“ Welche Ehre, dachte Ewan, du bist ein neureicher Emporkömmling, dessen Familie nur von öffentlicher Relevanz ist, weil sie ihren obszönen Reichtum zur Schau stellt und die Schwestern sich von einer peinlichen Liaison in die andere stürzen. Laut sagte er: „Ah, das erklärt natürlich einiges. Wäre wohl ein Gespräch mit Ihrem Bruder möglich? Selbstverständlich bleibt diese Information für einen ausgewählten Kreis von Verwaltungsmitarbeitern vorbehalten.“ Der Unternehmer zögerte, dann nickte er. „Kennen Sie die Jakobsleiter östlich des Bahnhofs? Von dort hat man einen hervorragenden Blick auf den Zugverkehr. Da müssten Sie ihn antreffen – wenn er dort nicht ist, ist er ganz hinaufgestiegen. Kenneth liebt den Anblick der Lichter in der Dämmerung. Ich werde dem Personal ausrichten, dass Sie jede Unterstützung verdient haben.“
Als er schnaufend die Stufen von Jacob’s Ladder nach oben auf den Calton Hill hinaufstieg, war er sich sicher, dass Rowe ihn an der Nase herumführte. Zwillingsbruder, von wegen! Aber was blieb ihm anderes übrig. Die steile Treppe, die in den vulkanischen Fels gehauen worden war, lag verlassen vor ihm. So folgte er dem Weg bis nach oben auf die Hügelkuppe. Zumindest was die Aussicht anbelangte, hatte der Mann nicht gelogen. Sie war phänomenal. Ewan fragte sich, warum er so selten herkam – beantwortete sich die Frage aber gleich selbst. Hier oben gab es eher wenig Gesprächspartner für gute Geschichten. Dafür aber einen herrlichen Weitblick über die Stadt, über deren Straßen mächtig der Schlossberg thronte. Die Dämmerung war herangerückt und Ewan fröstelte. Nun, wo steckte dieser Bruder? Zu Füßen des Dugald Stewart Monument mit seinen korinthischen Säulen trieben sich lediglich ein paar verirrte Liebespaare herum.
Da sprach ihn jemand an. „Schön‘ Abend, Sir!“ Ewan drehte sich um und vor ihm stand ein sommersprossiger junger Mann in einer abgewetzten Uniformjacke. Ohne weitere Worte zu verlieren, deutete er auf einen Pfad, der sich um die Hügelkuppe wand. „Zur Royal Terrace“, sagte er, als würde dies etwas erklären und fügte hinzu: „Nun komm‘ Sie schon.“ Der Reporter folgte dem Jungen zögernd. Er bereute, seinen Gehstock zuhause gelassen zu haben, der zur Selbstverteidigung nützlich hätte sein können. Sie gingen schweigend in Richtung der abschüssigen Straße, die auf einer Seite von schicken Neubauten, auf der anderern Seiten von einer weitläufigen Parkanlage gesäumt wurde. Entgegen ihres pompösen Namens, der an höchste Kreise der Aristokratie denken ließ, wohnten in der „Whiskey Row“, wie sie im Volksmund genannt wurde, vor allem Kaufleute, die sich hier für den ungehinderten Blick auf den Hafen und die einlaufenden Schiffe angesiedelt hatten – und diese verdienten ihr Geld nicht selten mit Hochprozentigem aus den nördlichen Brennereien.
Kurz bevor sie die Parkanlage von Calton Hill verließen und auf die Straße traten, drehte sich der Junge um. „Bin untröstlich, Kumpel“, sagte er – da packten Ewan starke Hände, ein Sack wurde über seinen Kopf gestülpt und Schwärze umfing ihn.