Fünfzehnter Dezember

Josephine

Sie saß gerade beim Frühstück, da klopfte es an der Tür. Ihre Hauswirtschafterin ging auf ihre Bitte nachsehen und kam mit einem schlanken Mann im Tweedmantel zurück. Josephine seufzte, erhob sich und schenkte eine zweite Tasse Kaffee ein. „Guten Morgen, Miss Fairchild“, sagte Ewan Cunningham, „gestatten Sie, dass ich mich setze?“ Sein Tonfall war nüchtern, das fiel ihr sofort auf. Sie stellte den Becher vor ihm ab und betrachtete prüfend sein Gesicht. „Ich wusste nicht, dass der Beruf des Journalisten so gefährlich ist“, sagte sie dann und wies mit der Hand auf den Stuhl gegenüber von ihr. Er nahm Platz und nun konnte sie die frischen Blessuren auf seiner Stirn und die verwundete, geschwollenen Wange besser sehen. „Sind Sie in eine Pubschlägerei geraten oder unter eine Kutsche?“

Der Reporter trank einen Schluck und blickte sie dann mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. „Ich bin heute nicht zum Scherzen aufgelegt. Eigentlich will ich überhaupt nicht hier sein. Aber ich weiß mir nicht mehr zu helfen.“ Er lehnte sich ein Stück nach vorn und wies auf sein Gesicht. „Zurzeit recherchiere ich an einer Geschichte und bin wohl jemandem zu nahe gekommen.“ „Die Waisen-Sache?“ Sie hatte es in der Zeitung gelesen. Ewan nickte. Oh lieber Himmel – der nächste Mensch, der ihr damit auf die Nerven ging! Josephine griff nach einem Apfel, der noch vom Frühstück auf dem Tisch lag und biss hinein, um nicht sprechen zu müssen. Der Mann fuhr unbeirrt fort: „Sie können mir eines glauben: Sie sind von den ganzen Britischen Inseln die letzte Person, die ich um Hilfe bitten würde. Aber ich vermute, es steckt mehr dahinter und man kann Ihnen vieles vorwerfen, aber nicht, dass Sie den weichen Unterbauch der Edinburgher Gesellschaft nicht in- und auswendig kennen würden. Es ist so: Man hat mich in meiner Redaktion überfallen und mir eine Botschaft hinterlassen. Bitte sehen Sie sich dies einmal an“ – und er zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Tasche.

Doch Josephine hatte sich erhoben. „Nun“, sagte sie, „ich denke nicht, dass ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein kann.“ Ewan sah sie irritiert an: „Sie haben ja noch nicht einmal gelesen, was da steht!“ Sie machte eine abweisende Geste. „Das muss ich auch nicht. Um ehrlich zu sein, habe ich unsere letzte Begegnung noch allzu gut vor Augen. Wie nannten Sie mich noch gleich? Rücksichtslos und … selbstgefällig?“ Nun war der Moment gekommen, ihm seine Dreistigkeit vor Augen zu führen und diesen süßen Moment der Rache würde sie auskosten.

Zu den bisherigen Adjektiven hatten sich einige mehr gesellt, als er schimpfend ihre Wohnung verließ. Aufgewühlt setzte sich Josephine an den Tisch. Was maßte sich dieser Mensch überhaupt an, über sie zu urteilen? Immerhin hatte er selbst viele Male von ihrer Tätigkeit profitiert. Erst beschimpfte er sie, obwohl sie ihm gegenüber keinerlei Rechenschaft ablegen musste und nun drang er – ohne ein Wort der Entschuldigung! – am frühen Morgen bei ihr ein und forderte ihre Hilfe? Sie hatte ihre eigenen Probleme. Ein geheimer Club, von dem sie bis vor einigen Tagen noch nicht einmal gehört hatte, war ihr auf den Fersen und drohte, ihr das gesamte Geschäftsmodell zunichte zu machen. Mit einem heißen Schluck Kaffee versuchte sie, ihre Fassung wiederzuerlangen. Heute würde sie alles an Konzentration, Charme und Redegewandtheit benötigen, was sie aufbringen konnte.

Gehüllt in ein dunkelblaues Wintercape stieg sie einige Stunden später aus der Tram. Für den Hinweg hatte sie sich entschlossen, die Linie nach Morningside zu nehmen, die den Osten der Princes Street mit dem südlichen Rand der Stadt verband. Beim Einstieg hatte sie eines der schäbigen Plakate bemerkt, die sich gegen die angekündigte Umstellung von Pferdegespannen auf Strom richtete. Regelmäßig entfernten die Bobbies solche Zettel, die verkündeten, dass eine Fahrt mit der Tram unfruchtbar, schwachsinnig oder hysterisch machte. Sie war sich sicher: Jene, für die die Stadtverwaltung dieses günstige Fortbewegungsmittel einrichtete, würden es vorziehen, weiterhin zu Fuß gehen, anstatt damit aufzuhören, an diesen Unsinn zu glauben.

Fast eine Dreiviertelstunde hatte sie sich durchrütteln lassen, um her zu gelangen. Als sie die Altstadt Richtung Marchmont verlassen hatten, standen die neugotischen Sandsteinbauten mit ihren verspielten Türmchen und Zinnenkränzen noch im verblassenden Abendlicht. In Greenhill wichen die mehrstöckigen Bauten kleineren Villen, Parks und Gärten drängten sich dazwischen. Trotz der einsetzenden Dunkelheit konnte Josephine zahlreiche Baustellen erkennen. Hier wuchs die Stadt mit den wohlhabenden Dörfern zusammen und Herrenhäuser schossen wie Pilze aus dem Boden. Auch das Ziel ihrer Fahrt, Morningside, bestand noch vor hundert Jahren aus einer Zeile reetgedeckter Häuschen, einer Schmiede und einer kargen Gruppe von Bäumen. Sollte jemand aus dieser Zeit noch leben, er würde sein Dorf nicht wiedererkennen. Die großen Höfe und Anwesen, die sich hier aufgrund der günstigen Lage an der Handelsstraße Richtung Norden angesiedelt hatten, sahen bald ein besseres Geschäft darin, Teile ihres Lands nicht mehr zu bewirtschaften, sondern an wohlhabende Städter abzutreten. Nun baute jeder, der es sich leisten konnte, auf einem Hektar eifrig an seinem Stück des Paradieses – oder ließ eher bauen, denn Josephine bezweifelte, dass einer dieser feinen Herren je eine Arbeit auf sich nehmen würde, die ihn zum Schwitzen brachte.

Von der Haltestelle waren es nur noch ein paar Meter bis zu dem Ort, den ihr Alastair Wallace als Treffpunkt genannt hatte. In ihrem letzten Gespräch hatte er sie gebeten, sich eine halbe Stunde vor sechs Uhr an der Kreuzung im Zentrum einzufinden. Als sie darauf zuschritt, sah sie bereits eine schwarze Kutsche, die auf sie wartete. Er hatte angeboten, sie an ihrem Zuhause abzuholen, doch dem war sie elegant ausgewichen. Unter keinen Umständen durfte er wissen, wer sie war und wo sie wohnte. Nur wenige Schritte trennten sie von dem Gefährt, da öffnete sich die Tür und ein lächelnder Alastair stieg aus. Er trug heute eine schwarze Pelerine, die ihn aussehen ließ wie ein Bestatter. Höflich bat er sie, einzusteigen und die Kutsche ratterte los. „Es ist nicht weit“, erklärte er und in der Tat war die Fahrt nach wenigen Minuten beendet. In einer überflüssigen Geste wischte er mit dem Taschentuch den Schnee von der Trittstufe der Kutsche, bevor sie darauf trat – Josephine unterdrückte das Augenrollen und dankte ihm stattdessen mit einem schüchternen Lächeln.

Ihre Kutsche hatte vor einem prächtigen Landhaus gehalten, das einsam zwischen einem Wäldchen und einem Bachlauf stand. Es war kastellartig gebaut, mit stilisierten Zinnen und kleinen Türmen. Ein sanfter Schneefall hatte begonnen und überzog die Wiesen vor dem Anwesen mit einer weißen Decke, auf die das Licht hinter den Fenstern lange gelbe Streifen malte. „Herzlich willkommen in der Hermitage of Braid!“, verkündete Alastair, nahm ihren Arm und führte sie die drei Stufen hinauf zur roten Haustür. Ein edel gekleideter Butler öffnete nur wenige Sekunden, nachdem er geklopft hatte, wie als hätte er bereits hinter der Tür gewartet. Nachdem man ihr aus dem Mantel geholfen hatte und sie sich zu ihrem Begleiter umdrehte, sah sie seine Augen aufleuchten. Heute hatte sie sich für ein lachsfarbenes Kleid entschieden, das ihre Schultern unbedeckt ließ. Es war nicht ganz das ausgehende 18. Jahrhundert, doch der Clou war das Perlenhalsband mit kleiner Schleife, die sie wie eine Elizabeth Bennet oder Emma Woodhouse aussehen ließ. Außerdem war der Stoff mit Stickereien und Perlen verziert, die im Kerzenschein wunderbar funkeln würden – augenscheinlich taten sie das bereits und verfehlten nicht die beabsichtigte Wirkung.

Die folgende Abendgesellschaft war zum Sterben langweilig. Vom aufgeblasenen Hausherren, einem Erben der Gordon-Familie, bis hin zu seiner gackernden Frau und den unerzogenen Kindern weckten vor allem die anderen Gäste in ihr den Wunsch, sich im nahen Bach zu ertränken, nur um den aufgedunsenen Gesichtern und belanglosen Gesprächen zu entkommen. Vor der Kulisse dieses Gruselkabinettes vollführte Alastair Wallace eine wundersame Wandlung hin zu einem in der Tat attraktiven Gesprächspartner. Als er nach dem Essen vorschlug, ihr auf den beleuchteten Pfaden des Gartens den historischen Taubenschlag zu zeigen, willigte sie fast zu bereitwillig ein.

Am Arm ihres Begleiters schritt sie über einen geschaufelten Pfad durch den hinteren Teil des Parks, der terrassenartig angelegt war. Hier lag der Schnee höher als vor dem Haus und unter seiner dicken Schicht ließen sich die Umrisse von Beeten, Hecken und kleinen Büschen ausmachen. Hier und da stakte ein mit einem Jutesack umwickeltes Bäumchen aus dem Weiß. Bevor sie das Taubenhaus erreichten, wies Alastair auf das Eishaus aus dem 18. Jahrhundert hin, das den feinen Herrschaften auch im Sommer ausschweifende Feste mit gekühlten Drinks, Eiscreme und Sorbet ermöglichte. „Das ist eine sehr feine Gesellschaft, Alastair“, merkte Josephine im Gehen sanft an. „Werden Sie auf ihre Unterstützung zählen können, wenn Sie Ihren Vorstoß wagen?“ Alastair zuckte mit den Schultern. „Wir werden sehen, geschätzte Genevieve, wer sich als treuer Freund und wer als Judas herausstellen wird.“ Josephine wagte sich vor. „Mein lieber Alastair – nennen Sie mich gern eine einfältige Frau, die nichts von Politik versteht. Aber ein Mann von Ihrem Format, der muss sich doch auch ohne die Hilfe Dritter die Unterstützung der Massen versichern können, einfach weil er den unbedingten Willen zum Guten hat!“

„Liebste Genevieve, Sie schmeicheln mir“, gab Alastair zurück und sie konnte in seinem Gesicht eine Mischung aus Genugtuung und Herablassung sehen, „aber die feine Gesellschaft spielt nach ihren eigenen Regeln.“ „Komm mein Lieber, erkläre mir die Welt“, dachte sie herausfordernd. „Wirklich?“, sagte sie laut, „Ich war immer der Auffassung, dass nachhaltiger Reichtum nur auf ehrlichem Boden gedeihen kann.“ Der Mann musterte sie, doch begegnete nur einem geziert-naiven Wimpernaufschlag. „Sie machen sich ja gar keine Vorstellung“, sagte er dann, „welche Ränke in den feinsten Salons der Stadt geschmiedet werden. Hätten Sie beispielsweise gedacht, dass es eine Vereinigung gibt, die im Verborgenen agiert und mehr Einfluss hat, als die meisten sich vorstellen können?“ Josephine setzte ein überraschtes Gesicht auf. „Wie außerordentlich faszinierend! Können Sie mehr darüber verraten oder ist die Verbindung so geheim?“

Alastair sah sich um, dass ihnen niemand vom Haus gefolgt war und senkte die Stimme. „Es ist ein geheimer Gentlemen’s Club, der seit Generationen in den Schatten agiert. Die Mitglieder beeinflussen politische Entscheidungen, Wirtschaftsangelegenheiten und mehr. Niemand spricht je darüber, aber ihr Einfluss erstreckt sich weit.“ Sie tat, als ob sie noch nie davon gehört hätte. „Das klingt ja fast wie eine Geschichte aus einem Roman, Alastair. Glauben Sie wirklich, dass diese Vereinigung Ihre politische Karriere positiv beeinflussen könnte – wenn doch niemand weiß, dass sie existiert?“ Er nickte ernst. „Oh ja. Ihr Einfluss ist größer, als die meisten ahnen. Sie ziehen die Fäden im Hintergrund, lenken Entscheidungen und orchestrieren ganze Machtverschiebungen, wenn es sein muss. Ich habe Grund zu glauben, dass meine politische Zukunft von ihrer Unterstützung abhängt.“

Nun keinen Fehler begehen, sich nicht zu weit vorwagen. „Oh, das klingt ja fast gefährlich!“, rief sie aus. „Aber wenn Sie ihre Unterstützung haben, könnten Sie wirklich viel erreichen. Haben Sie vor, sich ihnen anzuschließen?“ Alastair zögerte einen Moment, bevor er antwortete. „Das ist bereits geschehen. Aber ich verrate Ihnen heute noch ein Geheimnis, treue Freundin: Ich plane, ihre Macht zu nutzen, um meine Ziele zu erreichen. Wenn ich erst einmal Lord Provost bin, werde ich die Dinge so drehen, dass ihre Geheimnisse ans Licht kommen. Der Club wird zerfallen und ich befreie die Stadt aus seinem unsichtbaren Griff.“ Josephine packte in einer dramatischen Geste seinen Arm: „Ein gewagter Plan, Alastair – da sorge ich mich um Sie! Haben Sie denn Vertraute, auf die Sie zählen können?“ Alastair schenkte ihr ein Lächeln. „Bisher nur Sie, Liebste. Aber ich muss mich Ihrer unbedingten Verschwiegenheit versichern. Wissen Sie, die besten Pläne sind jene, die im Dunkeln gedeihen.“

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