Ewan
„Hast schon die Evening News gelesen?“ Ewan verlangsamte seine Schritte. Dieses Gespräch würde er nur zu gern mit anhören. Um nicht als Lauscher erkannt zu werden, tat er so, als würde er die Auslage eines nahen Schaufensters betrachten.
„Klar hab‘ ich“, erwiderte der andere Mann. Die beiden Kutscher standen in dicke, schwarze Fellmäntel gehüllt neben ihren Fahrzeugen. Der Angesprochene rauchte eine Zigarette und blies kleine Wölkchen in die kalte Luft: „Worauf willst du hinaus?“ „Auf was will ich wohl hinaus, Hohlkopf“, grunzte der andere Mann. Er striegelte gerade einen seiner belgischen Kaltblüter „Ich red‘ von dem Aufmacher über die Waisenkinder. Die an allen Ecken verschwinden. Was da für’n Unfug hinter steckt, das würd‘ ich gern wissen.“ Sein Gesprächspartner warf die aufgerauchte Zigarette in den Schnee. „Wen kümmern schon ein paar Waisen? Weniger Mäuler zu stopfen und mehr Geld für ehrliche Arbeiter, is‘ meine Meinung.“ Der erste Mann blickte ihn lange an, dann schüttelte er verächtlich den Kopf. „Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt mit dir red‘ … hast absolut nichts zwischen den Ohren.“ Er bückte sich, um den verklumpten Schnee aus dem Behang an den Beinen des Pferdes zu bürsten und brummte dabei: „Wozu der Zeitung liest, was ’ne Verschwendung…“ Der andere lachte nur und zündete sich einen weiteren Glimmstängel an.
Da das Gespräch offenbar beendet war, setzte Ewan seinen Weg unauffällig fort. Er war unterwegs zur Redaktion und wollte sich vor der Spätschicht noch etwas Essbares besorgen. An der Tafel des World’s End war eine braune Windsor-Suppe als Tagesgericht ausgeschrieben, was ihm zusagte und er beschloss, hier zu Abend zu essen. Als er den Pub wieder verließ, ergriff ihn ein kalter Wind und zerrte an seinem Mantel. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, obwohl es noch nicht einmal fünf geschlagen hatte und die Gaslaternen tauchten die Straße in ein schwaches gelbes Licht. Plötzlich fühlte er sich unwohl. Ohne darüber nachzudenken, griff er sich in den Nacken, als wollte er mit dieser Geste einen Blick abwehren, der sich auf ihn gerichtet hatte. Er wandte sich um, doch die Straße hinter ihm war leer. Er schüttelte den Kopf über sich selbst und setzte seinen Weg fort.
Da huschte vor ihm ein Schatten über das Pflaster, Ewan keuchte vor Schreck – und lachte über sich selbst. Es war nur eine Katze gewesen. Schon lag die Gasse wieder still und verlassen vor ihm, nur in der Ferne sah er ein paar Gestalten, die durch das Dämmerlicht eilten. Da! Das waren doch Schritte hinter ihm! Eindeutig hatte er es gehört, das Knirschen loser Steine unter den Schuhsohlen. Ewan beschleunigte seinen Schritt, lief, rannte fast, bis er die rettende Eingangspforte des Redaktionshauses erreichte. Dort drehte er sich um, doch wieder war niemand zu sehen.
Als er später bei Pfeife und einer Kanne Kaffee an seinem Schreibtisch saß, kam er sich albern vor. Vielleicht hatte das Ale, das er sich zum Abendessen genehmigt hatte, ihm die Sinne vernebelt. Es war möglich, denn er trank selten und wenn überhaupt, dann keinen starken Alkohol. Aber die Schritte … er war sich noch immer sicher, dass er sie deutlich hinter sich gehört hatte. Angestrengt verscheuchte Ewan den Gedanken. Anstatt sich über einen eingebildeten Verfolger verrückt zu machen, sollte er sich lieber an die Arbeit machen. Die bezahlte das Dach über seinem Kopf und das Essen in seinem Bauch. Er nahm sich eine besonders knifflige Recherche vor, die er vor einiger Zeit angefertigt hatte. Für den Artikel hatte er immer noch keinen guten Einstieg gefunden. Bald sprang sein Verstand auf die Herausforderung an und als sein Kollege ihm ein „Ich bin dann weg“ zurief und die Redaktion verließ, steckte er bis zur Nasenspitze in seinen Notizen und nahm ihn kaum wahr. Vor der Fensterscheibe der Redaktion herrschte Finsternis und wenn er versuchte hinauszusehen, sah er nur sein eigenes blasses Gesicht in der Spiegelung der Scheibe.
Wenig später – er konnte nicht sagen, wieviel – ließ ihn das Geräusch der Vordertür aufhorchen. „Sam, bist du das?“, rief er seinem Kollegen zu, der anscheinend etwas vergessen hatte, wofür er noch einmal zurückgekehrt war. Schweigen war die Antwort. Ewan blickte verwundert von seinen Papieren hoch – und erhielt einen heftigen Schlag auf den Kopf.
Als er wieder wach wurde, sah er nur verschwommen. Drei Menschen standen um ihn herum, ihn hatte man mitsamt dem Stuhl von seinem Schreibtisch weg in die Mitte des Raumes geschleift. Ein Vierter durchsuchte die Unterlagen auf dem Tisch. „Hier ist nichts“, hörte er jemanden dumpf sagen. „Dann lass uns verschwinden“, sprach ein anderer, „er sieht aus, als hätte er seine Lektion gelernt.“ Eine untersetzte Gestalt ging auf ihn zu und kam nah an ihn heran. Ewan versuchte, die Augenlider mehr zu öffnen, doch sie waren schwer und schmerzten. Dennoch erkannte er mit Entsetzen, dass die Person, die nun fast sein Gesicht berührte, ein Junge von nicht einmal zwölf Jahren war. „Ich denke, da geht noch was“, sagte dieser und eine Faust traf Ewan im Gesicht, die ihm die Besinnung raubte.
Stunden später, es wurde langsam hell, wurde Ewan davon geweckt, dass ihn jemand an den Schultern schüttelte. „Mr Cunningham! Mr Cunningham!“ Es war einer der Zeitungsjungen, die jeden Morgen das Blatt von gestern Abend für die Frühaufsteher abholen kamen. „Ich … ich kann nicht“, stöhnte Ewan. Der Junge stützte ihn, als er sich im Stuhl aufrichtete. „Mr Cunningham, Sir … ich hole sofort einen Arzt“, sagte er dann und rannte hinaus. Ewan betastete vorsichtig Gesicht und Kopf. Das könnte durchaus eine schmerzhafte und unansehnliche Heilung werden. Als sein Blick auf den Schreibtisch fiel, stockte ihm der Atem. Nicht nur war ein heilloses Durcheinander von Papieren, Heften und Notizen entstanden, der Besuch von gestern Abend hatte ihm eine Nachricht hinterlassen. In schwarzer Plakatfarbe hatte jemand quer über die Tischplatte in großen Lettern drei Worte geschmiert.
Stöhnend erhob sich Ewan, um einen besseren Blick darauf erhaschen zu können. Dort stand: „nihil sine causa“.