ADVENTSGESCHICHTE 2019


1. Dezember

„Mensch, was hab‘ ich für ein Glück!“, denkt Pelle und kratzt sich an der Nase. Die fängt gerade wie wild an zu kribbeln, das ist immer so, wenn er sich besonders freut. Aber jetzt nicht zu sehr aufregen, nicht zu sehr überstürzen, sonst kann gleich alles vorbei sein. Ganz langsam macht Pelle einen unsicheren Schritt in den Raum hinein. Vor ihm liegt ein stilvoll eingerichtetes Wohnzimmer, in dessen Mitte ein Esstisch steht. Der ist dermaßen mit Speisen beladen, dass er sich fast durchbiegt. Pelle läuft bei diesem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Heringssalat, Buttergemüse, gebratener Fisch, süßer Pudding – herrlich! Doch was ist das? Das darf doch nicht – ist das etwa … ein Schälchen Currywurst? Pelle kann sich nicht mehr zurückhalten. Er streckt die Hand aus und piekt ein Stück Wurst an. Ahhh, das Essen ist noch warm, die Soße dampft sogar noch. Pelle öffnet den Mund und – „hey Schieter, wachst du mal auf? Wir müssen gleich los!“

Jemand rüttelt an ihm, heftig. Das Gäbelchen mit der Wurst, die Speisen, der Tisch, das ganze Zimmer lösen sich in Luft auf, oder besser gesagt, in Rauch, denn über ihm kniet Uwe mit der notorischen Zigarette im Mundwinkel und blinzelt ihn durch die blauen Schwaden lustig an. Pelle stützt sich umständlich auf den Ellenbogen und wedelt den Rauch weg. „Sach ma‘, musst du ständig alle vollräuchern? Ich bin doch keine Forelle, hör ‚ma!“ Uwe lacht und hustet – das ist bei ihm ein und dasselbe – und lässt sich neben Pelle auf den Boden plumpsen. Er pustet ein Wölkchen nach dem anderen in die kalte Morgenluft. „Wir haben noch etwa zehn Minuten“, sagt er und deutet mit dem Jackenärmel, der ihm viel zu lang ist, auf die große Uhr am Eingang der U-Bahn-Haltestelle, „dann machen die hier auf. Du hast heute ein bisschen lang gepennt.“ „Ich hab‘ geträumt“, murmelt Pelle und schält sich aus dem Schlafsack. Fips, den Stoffaffen, schiebt er unauffällig ganz nach unten. Nicht einmal Uwe weiß davon und der ist schon ziemlich lange sein Kumpel. Aber irgendwie macht das dann die Runde – und wenn erst die ganze Bande weiß, dass er, Pelle Kedelklopper, abends mit einem Plüschtier im Arm einschläft, dann lachen sie.

Während er sein Nachtlager nun zu einer dicken Wurst rollt und in den alten, wettergegerbten Seesack stopft, fängt Uwe an zu philosophieren. Andere kommen erst in diese Stimmung, wenn sie schon eine halbe Flasche Küstennebel hinter der Binde haben, aber Uwe hat seit zwanzig Jahren keinen Tropfen mehr angerührt. Nur seine Glimmstängel, die kann er nicht lassen. „Weißt du“, sagt Uwe gerade, „ich denk‘ manchmal, die Jungs von der Davidwache, die haben’s auch nicht so leicht. Weißt du, die verdienen zwar ganz gutes Geld, aber ein richtiges Leben ist das nicht, immer die ganze Nacht arbeiten und am Wochenende nie zuhause.“ Pelle hat sich schon aufgerichtet, klopft seinen Mantel ab, wirft sich den Seesack über die Schulter und streckt Uwe die Hand hin, damit er sich bei Aufstehen daran festhalten kann. „Aber wenn die nach Hause kommen, ist das Bett vielleicht noch warm. Und einen Kaffee kriegen sie bestimmt auch von ihrer Frau serviert.“ Uwe zieht sich ächzend hoch und tritt die Zigarette aus. „Ach, das wär auch schön, so eine Frau“, gibt er zurück, „aber für den Kaffee muss ich wohl mit dir vorlieb nehmen.“ Er schultert seine ausgefranste Tasche und klopft Pelle auf die Schulter.  „Komm mein Schieter, wir geh’n zu Harry.“

Und so wackeln die beiden nebeneinander her in Richtung von Harrys kleinem Kiosk, der zu dieser frühen Stunde schon geöffnet hat, während um sie herum die Reeperbahn langsam erwacht.


2. Dezember

Bei Harry ist um diese Zeit noch nicht viel los. Der Laden ist ziemlich klein, aber der Bürgersteig ist breit genug, dass man sich draußen an klapprige Stehtische stellen kann. In der Mitte jedes Tisches ist ein Loch, in dem löchrige Coca-Cola-Schirme stecken. In Hamburg verfehlen sie meist ihre Funktion als Sonnenschutz und wehren den notorischen Nieselregen – nicht zuletzt aufgrund der Löcher – nur dürftig ab. Heute regnet es nicht, es ist einer dieser kalten, klaren Tage, an denen sich sogar die Sonne in der Hansestadt blicken lässt.

Pelle besetzt gleich den Tisch, an dem sie immer stehen, damit ihn kein anderer wegschnappt. Hier kann man das Gepäck gut in eine Ecke an die Hauswand lehnen und da kommt auch nichts weg, wenn man noch mal rein muss, um einen neuen Kaffee zu bestellen. Dann gehen sie gemeinsam in den Laden. Bei der Kälte ist die Tür natürlich geschlossen und so werden sie vom Klingeln eines kleinen Glöckchens angekündigt. Harry, der sich gerade mit Biggi im hinteren Teil des Ladens in den Haaren hat, hört sie nicht. „Und wie das da reinkommt!“, hören sie Biggis aufgebrachte Stimme: „Meine Mutter hat den immer so gemacht, ich spinn‘ doch nicht!“ „Und wenn ich dir das sach‘: das wird keiner kaufen, wenn die sehen, dass du da Matjes reingemacht hast! Da jagen die dich zurück nach Lübeck!“ „Dann mach‘ deinen Mist doch selbst!“, ruft Biggi und ein Löffel fliegt in Richtung Tresen. Kurz darauf kommt sie selbst zum Vorschein, schmeißt die Schürze auf den Boden und stürmt an den beiden vorbei. „Moin“, faucht sie und raus ist sie. Das betretene „Moin Biggi“ hört sie schon nicht mehr.

Kurz darauf tritt Harry hinter den Tresen. Seiner beginnenden Glatzenbildung und dem Bauchansatz wird heute mit einem jugendlich-schrillen Hawaiihemd Parole geboten. „Moin“, begrüßt er die beiden und gießt ihnen ohne Umschweife zwei Tassen Kaffee ein. „Sacht ma“, beginnt er dann, „kommt bei euch Matjes in den Labskaus rein?“ „Nee“, sagt Uwe, „Rollmops.“ „Hab‘ ich doch gesacht“, triumphiert Harry und streicht sich das zerknitterte Hawaiihemd glatt. „Die spinnt doch manchmal, nich‘?“ „Ich misch‘ mich da nicht ein“, sagt Pelle, hebt die Tasse Kaffee zum Dank in Harrys Richtung, nickt ihm zu und geht wieder nach draußen. Er mag es nicht, seine Sachen so lang allein zu lassen. Zum Glück steht alles noch an seinem Platz. Drinnen hört er Uwe und Harry über die einzig wahre Rezeptur für Labskaus diskutieren. Er mischt sich fast nie in irgendwas ein, aber bei Biggi ist er besonders vorsichtig. Sie steht von morgens bis abends in dem kleinen Laden und wäre sie nicht da, könnte Harry schon längst die Schotten dicht machen. Der kann nämlich besser quatschen als kochen.

Pelle nippt an dem warmen Kaffee und lässt seinen Blick über die langsam erwachende Straße schweifen. Drüben kriechen gerade Malte und Janne vor dem Eingang des Supermarkts aus den Federn. Die beiden bauen sich jedes Mal ein riesiges Bett aus Decken, Kissen und Polstern. Uwe nennt Janne nur „die Prinzessin auf der Erbse“ und genauso sieht das auch aus. Die beiden verbringen den ganzen Tag damit, ihren Krempel in Taschen einzupacken und von der Tür wegzuschleppen. Abends, wenn der Laden schließt, bauen sie ihr Lager an der gleichen Stelle wieder auf. Eigentlich eine sinnlose Existenz, denkt Pelle und dann stoppt er sich, weil er nicht so ein Stehtischphilosoph werden will wie Uwe.

Gerade rollt eine Kehrmaschine vorbei und wirbelt den Staub und Dreck der letzten Partynacht auf. Der Mensch hinter dem Steuer hat Ohrstöpsel drin und singt mit, aber über den Lärm der Maschine kann man ohnehin nichts verstehen. Irgendwo schlägt eine Kirchturmuhr und Pelle muss unwillkürlich die Schläge mitzählen. „Eins … zwei … drei … vier … fünf … sechs … sieben …“ Sieben Uhr morgens also. Früher, in einem anderen Leben, hat ihn seine Frau um diese Uhrzeit aus dem Bett geholt, damit er nicht zu spät zur Arbeit kam. Heute ist das Uwes Aufgabe.

Während Pelle sich nicht helfen kann und nun doch in den schönen Wintermorgen hineingrübelt, kommt eine Frau von der Bahnhaltestelle gelaufen. Sie hat ihre Tasche energisch geschultert und ihre langen, lockigen Haare wehen hinter ihr her. Pelle findet sie ganz hübsch, aber sie ihn bestimmt nicht, er könnte ihr Großvater sein. Er versenkt seinen Blick lieber wieder in seinen Kaffee – da wird auf einmal eine Papiertüte auf den Tisch neben seine Tasse gelegt. Eine helle Stimme sagt: „Schönen Tag noch!“ Pelle kann sich gar nicht bedanken, da ist die Frau schon mehrere Meter weg, so zügig läuft sie. „Ihnen auch ‘nen schönen Tag!“, ruft er hinterher und seine Stimme klingt komisch und kratzig, wenn er laut spricht. Er ist halt ein alter Mann, was soll er machen. Bringt ja nichts, sich darüber zu ärgern. Aber das war wirklich nett von ihr. Mit klammen Fingern – denn der Kaffee ist inzwischen deutlich abgekühlt und zum Wärmen der Hände nicht mehr geeignet – nestelt er die Tüte auf. Darin befinden sich zwei Franzbrötchen, großzügig mit Zimt und Zucker bestreut, und sie sind noch warm.


3. Dezember

Natürlich teilt Pelle das unverhoffte Gebäck, so einer ist er nicht. Uwe hat sogar keine Zigarette geraucht, während sie gegessen haben und das will was heißen. Doch nach ihrem gemeinsamen Frühstück ist erstmal jeder seiner Wege gegangen, wie üblich.

Uwe hat irgendwas in der Innenstadt zu tun. Er rückt nicht so richtig mit der Sprache heraus, worum es geht, aber Pelle hat den Verdacht, dass er für irgendwelche zwielichtigen Leute den Strohmann macht. Das sind Menschen, die ausnutzen, dass Uwe keinen festen Wohnort hat und Geschäfte auf seinen Namen machen. Geht das Ganze pleite, kann ihn keiner finden und schlimm ist es auch nicht, er hat ja sowieso nichts. Ins Gefängnis würden sie ihn sowieso nicht schicken, dafür ist er schon zu alt, sagt Uwe, aber Pelle glaubt das nicht. Er hat sich lieber um eine ordentliche Arbeit bemüht, was Kleines, womit man über die Runden kommt. Bei einem Fischkiosk am Hafen macht er die Tische sauber, sammelt Müll und Kippenstummel auf und bekommt dafür zehn Euro und ein warmes Essen am Tag.

Heute sind nur wenig Leute da, denn es ist ein grauer Dienstag im Dezember und die Adventszeit hat gerade erst begonnen. Nur ein paar Touristen sitzen schlotternd auf den leicht fehlplatzierten Strandkörben und verbrennen sich am ersten Glühwein den Mund. Pelle wischt gerade einen Tisch ab und will kurz verschnaufen, da fällt ihm ein roter Anorak ins Auge. Dieser wird vom Anführer einer fünfzigköpfigen Reisegruppe getragen, der mit einem stolz in die Luft gereckten Hamburg-Fähnchen zielstrebig auf den Fischladen zusteuert. Pelle geht in Deckung, doch das nützt leider nichts. Eine Viertelstunde später gleicht der Freisitz einem Schlachtfeld: zerknüllte Quittungen und klebrige Glühweintassen stapeln sich auf den Tischen, Papierservietten segeln durch die Luft und am Boden streiten sich zwei Möwen um den Rest eines Fischbrötchens.

„Hey, wie sieht’s denn hier aus?“, schnauzt ihn der Verkäufer hinter dem Tresen an. Pelle reagiert erstmal nicht. Dieser spezielle Kollege muss ihn immer drangsalieren, am besten, er geht gar nicht darauf ein. Gerade muss er wohl ein bisschen Frust ablassen nach dem Stress mit der Reisegruppe. Aber ein bisschen ärgert es Pelle schon, dieser Tonfall, und da kommt auch ein bisschen was von der alten Wut wieder hoch. „Alter, sitzt du auf deinen Ohren? Krieg deinen Arsch hoch und mach hier sauber“, wird der andere lauter. „Ich hör‘ dich sehr gut“, sagt Pelle ruhig, „aber du solltest dir ein paar Manieren angewöhnen.“ Er erhebt sich umständlich von der Bank – wenn er eine Weile sitzt, werden die Gelenke steif – und geht zum Tresen. „Kannst du mir den Lappen zum Abwischen geben?“, fragt er. Der andere greift ins Waschbecken, nimmt das tropfende Stück Stoff und wiegt es in der Hand. Plötzlich holt er aus und wirft ihn Pelle ins Gesicht. Der Lappen landet auf dem Boden. „Los, bück dich, Alter“, sagt er mit einem hämischen Grinsen. Pelle wischt sich das Spülwasser vom Gesicht und blickt ihn an. „Du hättest ihn mir auch einfach geben können“, erwidert er ruhig. „Freu dich doch, so hast du dich auch mal gewaschen“, gibt der andere grob zurück, „Du stinkst zum Himmel. Ich weiß wirklich nicht, warum der Chef keinen ordentlichen Putzdienst einstellt. Ein Pole oder Rumäne tut’s doch auch, die sind schön billig und wissen wenigstens, was eine Dusche ist.“

Pelle schließt die Augen. Hinter seinen Lidern wird auf einmal alles rot und sein Kopf wird sehr warm. Das Kribbeln taucht wieder auf, nun in seinen Armen und Fäusten, und alles spannt sich merkwürdig an. Er erinnert sich daran, was die in der Klinik gesagt haben. Ruhig bleiben. Durchatmen. Ein. Aus. Den Spruch aufsagen. „Ich bin ganz ruhig.“ – Einatmen. – „Ich bin ganz ruhig.“ – Ausatmen. „Was brabbelst du da?“, dringt da die Stimme des Verkäufers in sein Bewusstsein. „Du hast sie doch nicht mehr alle. Du gehörst in die Klapse, Mann. Die hätten dich gar nicht rauslassen sollen, nachdem du –“

Die Wellen, die gegen die Hafenmauer schlagen, sind auf einmal nicht mehr da. Nur Pelles Herzschlag ist da, der kräftig und schnell gegen sein Trommelfell hämmert. Und seine Hand, die kräftige, noch vom Sommer braun gebrannte Hand ist da, die den verhassten Kerl am Kragen packt und über den Tresen zerrt.


4. Dezember

Pelle hat seinen Job verloren. Er hat den Verkäufer über die Hafenmauer werfen wollen und nur ein Ehepaar aus Hessen – „des kennese doch nedd mache!“ – konnte ihn in letzter Sekunde davon abhalten. Keine Frage, zum Fischladen kann er jetzt nicht mehr. Bis Weihnachten macht er sich aber erstmal keine Sorgen, irgendwie kommt er schon über die Runden. In der Adventszeit sind die Leute sehr spendabel und er hat ja zur Not noch das Holzbein, was er vorweisen kann. Eigentlich ist es kein Holzbein, sondern eine Unterschenkel-Prothese aus Kunststoff, aber die Touristen nennen es immer so, und sagen: „Ein waschechter Long John Silver sind Sie, wenn Sie jetzt nur noch einen Papagei hätten!“ – dabei hatte der echte John Silver bei Stevenson gar kein Holzbein. Das Problem ist nur, dass der Andere Anzeige gegen ihn erstattet hat. Wenn er sich jetzt irgendwo bei der Polizei blicken lässt, ist er dran. Dann fährt er ein, denn er ist nur auf Bewährung draußen. Manch einer würde sagen, ist doch toll, gratis Unterkunft und Verpflegung im Winter, aber Pelle hat Angst, dass er dann nie wieder rauskommt. Außerdem kann er in engen Räumen nicht mehr schlafen.

Pelle hockt auf einer Bank am Elbstrand, es ist später Nachmittag und langsam kriecht die Dunkelheit hinter den Hafenkränen hervor. Eigentlich schon idyllisch hier, denkt er, wenn es nur nicht so verdammt kalt wäre. Er hat sich in seinen Schlafsack gewickelt und Fips sitzt auf seinem Schoß. Das Plüschfell des Affens ist schon ganz abgescheuert und das Schwänzchen wird nur von wenigen Fäden am Körper gehalten, aber, wie als ginge ihn sein eigener Verfall nichts an, schaut das Kuscheltier munter auf den imposanten Hamburger Hafen. Pelle weiß, dass er hier nicht übernachten kann, aber hat keine Ahnung, wo er sonst hinsoll und ohnehin befürchtet er, dass er inzwischen längst festgefroren ist. Draußen an den Kränen gehen die Lichter an und von den Landungsbrücken her werden Stimmen und die Schreie der Möwen zu ihm getragen.

Eine Fähre tuckert langsam über das Wasser, das hier pechschwarz, da silbergrau glänzt. Sie kommt wohl von Finkenwerder, na, woher sonst, denkt Pelle. An Deck stehen ein paar Touristen, die sich trotz eisig kaltem Fahrtwind den Blick auf die Stadt nicht entgehen lassen wollen. Als das Schiff direkt auf der Höhe von Pelles Parkbank ist, sieht er die Menschen, die vorher nur dunkle Umrisse waren, etwas genauer. Eine Frau hat einen auffallend weißen Pelzmantel an und deutet aufgeregt auf die Lichter der Stadt. Ein hoch gewachsener Herr steht bei ihr und hat den Arm um ihre Taille gelegt. „Macht einen auf Gentleman und will sich nur heimlich an ihrem Pelz wärmen“, denkt sich Pelle und grinst. Auf dem Hinterdeck ist niemand, warum auch, dort sieht man ja nicht so viel wie vorn. Oder ist da doch wer? Pelle blinzelt verwundert, denn da ist doch tatsächlich eine kleine Gestalt – die gerade im Begriff ist, auf die Reling zu klettern. „Hey!“, ruft er und will aufspringen, aber das geht nach dem stundenlangen Sitzen nicht so gut und seine Stimme war auch schon mal besser in Form. Ein Krächzen ist alles, was er nach dem langen Schweigen zusammenbringt. Und ehe er überhaupt aufrecht im Sand steht, sieht er, wie der kleine Mensch sich noch einmal zum Vorderdeck umschaut und dann ohne Umschweife ins Wasser springt.

Das Wasser ist sehr, sehr kalt. Aber es ist nicht die Kälte, die einen schockt, wenn man den Hahn bei der Dusche aus Versehen in die falsche Richtung dreht. Diese Kälte ist wie eine Presse, die jeden Muskel zusammendrückt. Sie zwingt dazu, einen tiefen Atemzug zu nehmen, der, wenn man sich gerade unter Wasser befindet, gründlich nach hinten losgeht.

Aber Pummel ist nicht blöd. Er hat alles genau nachgelesen, weiß, wie sich sein Körper im kalten Wasser verhalten wird. Er presst die Lippen aufeinander und hält sich, um ganz sicher zu sein, noch Mund und Nase zu. Die Schwimmweste unter seiner dicken Winterjacke lässt ihn wie ein Korken nach oben schnipsen. Als er auftaucht, weiß er zunächst gar nicht, wo er ist. Jetzt darf er atmen und sein Körper zwingt ihn auch dazu. Wo ist das Boot? Und wo das Ufer? Pummel hält das Gesicht in den Nachthimmel und gibt sich große Mühe, nicht zu ertrinken. Sein Kumpel Simon würde sagen, was für eine ultra-affen-blöde Idee das wieder ist, aber er ist gerade nicht hier und außerdem sagt kein Mensch mehr „ultra-affen-blöd“. Als er seine Atmung einigermaßen im Griff hat, blickt er sich um und sieht die Fähre, wie sie langsam von ihm wegtreibt. Niemand hat das Platschen gehört und seine Eltern suchen ihn scheinbar noch nicht. Jetzt Beeilung. Das Ufer ist ganz nah, er muss nur kräftig mit den Armen paddeln und dabei nicht untertauchen. Die Strömung ist ziemlich stark und das eisige Wasser macht das Ganze auch nicht besser.

Da sieht er am Ufer eine Gestalt in seine Richtung humpeln, die krächzende Laute von sich gibt und einen langen Ast über dem Kopf schwenkt. Sie kommt einige Meter ins Wasser gelaufen, stolpert, bleibt stehen und schreit weiter. „Tief! Zu tief!“ Ach ja, die Fahrrinne! Er hat doch alles nachgelesen. Seine Schwimmzüge werden immer schneller, er kann seine Arme nicht mehr kontrollieren. Das muss die Unterkühlung sein, denkt er sich, nur noch ein paar Meter. Dunkelheit kriecht vom Rand seines Gesichtsfelds heran – nein, nicht ohnmächtig werden! Die Gestalt kommt näher und auch der Ast kommt näher, den sie so weit wie möglich ausgestreckt hat. Doch Pummel kann nicht mehr. Die Arme sind zu kurz, die Jacke zu vollgesogen mit dem kalten Wasser. „Verdammt nochmal!“, hört er eine raue Stimme, ein Platschen und dann zieht ihn eine kräftige Hand aus der Elbe.


5. Dezember

Als Pummel aufwacht, liegt er in einem leicht säuerlich riechenden Schlafsack neben einem prasselnden Feuer. Sein Mantel liegt ausgebreitet auf einem großen Felsen und tropft vor sich hin. Auch seine Schuhe stehen da. Ihm gegenüber hockt ein alter Kerl. Er zieht sich gerade eine wollene Socke über den Fuß und den Unterschenkel hinauf, der im Licht der Flammen ganz merkwürdig glänzt. Als er damit fertig ist, schiebt er den Fuß vorsichtig in seinen dicken Stiefel. Pummel richtet sich langsam auf und zieht sich die Mütze, die der Alte ihm wohl aufgesetzt haben muss, fest über die Ohren. Hier ist es zwar etwas windgeschützt und das Feuer ist wunderbar warm, aber eben ist er noch fast in der eiskalten Elbe ertrunken.

Da muss Pummel niesen und der Andere blickt auf. Jetzt sieht er ihn besser: grauer Zottelbart, fast keine Haare auf dem Kopf und das Gesicht besteht fast ausschließlich aus Falten. Aber die Augen sind blau, ganz hell und in ihrem Blinzeln liegt etwas Herzliches. Dieser Eindruck wird aber umgehend durch das durchkreuzt, was aus dem Mund des Alten auf Pummel einprasselt. „Sach mal, du hast sie doch nicht mehr alle, oder?“, poltert er los, „mein Lebtag hab‘ ich noch kein Dödel wie dich erlebt!“ Doch solche Ansprachen ziehen bei Pummel nicht. Der runzelt die Stirn und schweigt trotzig. Als er nicht antwortet, nickt der Alte mit dem Kopf. „Ah, ich versteh. Bist einer von der schweigsamen Sorte. Aber das ist mir egal. Du‘ sachst jetzt, was du dir gottverdammt nochmal dabei gedacht hast!“ Pummel presst die Lippen aufeinander. „Nur ein Dösbaddel“, fährt der Alte fort, „nur ein ausgemachter Dösbaddel springt im Dezember von einer Fähre in die Elbe! Oder ein Lebensmüder!“ „Ich bin nicht lebensmüde“, gibt Pummel aufgebracht zurück und bereut es im gleichen Moment, dass er sich provozieren lässt. „Na, da hätt‘ ich ja noch Mitleid mit dir gehabt, aber langsam glaub‘ ich, du bist ein Einfaltspinsel, der mal ausprobieren will, wie das ist. Und andere dürfen dann retten, ja ja.“ „Ich hab ja nicht drum gebeten“, faucht Pummel und beide starren sich eine Weile über das Feuer hinweg an. Dann hustet Pelle ein ungesundes Husten, nimmt einen Schluck aus seiner zerbeulten Thermosflasche, dreht sich um und wendet seinen Blick zu den beleuchteten Kränen, die sich blinkend gegen den nächtlichen Himmel abheben. Pummel tastet derweil nach seinen Kleidern und muss feststellen, dass sowohl Pullover als auch Hose immer noch ziemlich klamm sind. Und nun stellt er auch fest, dass er in einem Schlafsack liegt. Nun macht es endlich Klick. Mit einem Mal schämt er sich, es ist Dezember, der Kerl hat kein Zuhause, nun durchweicht er ihm den Schlafplatz und gibt ihm zur Krönung noch eine patzige Antwort.

„Sie sind ein Obdachloser, oder?“, fragt er schließlich kleinlaut. Der andere gibt ein zustimmendes Brummen von sich, wendet ihm aber weiterhin den Rücken zu. „Danke, dass Sie mich gerettet haben“, sagt Pummel und schiebt noch hinterher, „und es tut mir leid, dass ich Sie da reingezogen habe. Wenn meine Klamotten trocken sind, verschwinde ich und lasse Sie in Ruhe.“ Ein weiteres Brummgeräusch, aber immer noch keine Reaktion. „Nehmen Sie meine Entschuldigung an?“ „Pelle“, sagt der andere und nimmt noch einen Schluck aus der Thermosflasche. „Wie bitte?“, fragt Pummel. „Pelle“, wiederholt der andere, „das bin ich.“ „Ich heiße Moritz, aber alle nennen mich Pummel“, antwortet er, froh, dass endlich so etwas wie ein Gespräch zustande kommt. „Das war alles gar nicht so beabsichtigt“, fährt er schnell fort, „ich hatte es genau geplant. Die Fähre muss anders gefahren sein als auf der Karte eingezeichnet, sonst hätte ich die Strecke locker schwimmen können!“

Der Alte dreht sich zu ihm um und rückt näher an das Feuer. „Locker schwimmen“, brummt er, „bei 2 Grad. Ganz bestimmt.“ „Man hat zwei bis drei Minuten“, widerspricht Pummel, „bevor man zu sehr unterkühlt ist. Solange die Körpertemperatur nicht unter 35 Grad sinkt und man die Luft anhält, wegen der Hyperventilation, dann kann man –“ „Wie alt bist du eigentlich?“, unterbricht ihn Pelle stirnrunzelnd. „Im März werde ich zwölf“, trumpft Pummel auf. „Ende März?“ – „Am 25.!“ „Ach, ein Widder“, schnaubt der Alte kopfschüttelnd, „hab‘ ich mir’s doch gedacht.“ „Sie glauben an Sternzeichen?“, fragt Pummel, „Das ist doch total unwissenschaftlich.“ Pelle zieht eine Augenbraue hoch. „Deine ganze Wissenschaft hat dich aber nicht aus der Elbe gezogen“, knurrt er. „Und vielleicht sagst du mir endlich, was das Ganze überhaupt sollte. Das interessiert mich noch, danach liefere ich dich bei der nächsten Polizeiwache ab.“ Bei dem Wort zuckt Pummel zusammen. „Auf keinen Fall gehe ich zur Polizei und auch sonst nirgendwo hin!“, schreit er und seine Stimme überschlägt sich. „Nu ma‘ sachte“, sagt Pelle, „was ist denn los mit dir?“ Der kleine Junge atmet tief durch. „Ich gehe nirgendwohin“, wiederholt er. „Dann wär‘ das alles umsonst gewesen.“


6. Dezember

„Würdest du mir jetzt endlich erklären, was hier los ist?“, fragt Pelle mit einem Unterton, der keine Widerrede mehr duldet. Der kleine Junge überlegt kurz, dann zuckt er resigniert mit den Schultern. „Gut, ich sag es dir. Aber du brauchst nicht zu versuchen, mich umzustimmen oder abzuhalten. Ich habe mir alles genau überlegt.“ Pelle hat sich nun ganz zu ihm gewandt, das Feuer prasselt zwischen ihnen und wenn er ehrlich ist, ist er auch ein klein wenig gespannt.

„Also“, beginnt Pummel, „ich muss erstmal etwas erklären. Ich lebe momentan bei meinem Vater, weil meine Mutter schon eine ganze Weile nicht mehr bei uns ist. Papa hat immer gesagt, dass sie uns allein gelassen hat. Sie wäre nach Hamburg abgehauen, meinte er – also, wir wohnen in Frankfurt, musst du wissen.“ Pelle hebt die buschigen Augenbrauen. „Ach, und jetzt willst du sie finden?“ „So in etwa“, sagt Pummel, „es gibt nur ein Problem. Mein Vater sagt, sie hat sich –“ Der kleine Junge stockt, dann schüttelt er den Kopf, wie als wolle er seine eigenen Gedanken verscheuchen. „Also, mein Vater sagt, sie hat sich das Leben genommen.“ Pelle atmet hörbar aus. Dieser kleine Kerl trägt schon viel mit sich herum, denkt er. „Aber ich glaube das nicht“, setzt Pummel eifrig hinterher, „ich glaube, dass sie noch lebt. Ich weiß, dass sie noch in Hamburg ist!“ „Wieso glaubst du das?“, fragt Pelle, „wie kannst du dir so sicher sein?“ „Ich bin einfach viel im Internet unterwegs“, erwidert Pummel, „und in einem Video, welches in Hamburg aufgenommen wurde, habe ich sie im Hintergrund gesehen!“

Pelle will etwas sagen, aber Pummel unterbricht ihn. „Ich bin mir ganz, ganz sicher, dass sie es war! Und jetzt muss ich sie finden!“ „Aber … nur von einem Video … und hast du mit deinem Vater darüber gesprochen?“, will Pelle wissen, „Er wird mir nicht die Wahrheit sagen“, meint Pummel und zieht die Nase hoch, die durch den kalten Wind angefangen hat zu laufen. „Er hat jetzt eine neue Freundin. Sie ist schrecklich. Die kümmert sich nur um sich selbst und ich wette, insgeheim wünscht sie sich, dass ich von der Bildfläche verschwinde wie meine Mutter.“ „War das zufällig die Frau im Pelzmantel? Ich habe sie vom Strand aus gesehen“, wirft Pelle ein. „Genau, das ist sie. Allein, dass sie Pelz trägt, sagt schon alles. Wer trägt denn heute noch Pelz?“ Pelle schmunzelt. Dieser Junge ist wirklich seinem Alter voraus. „Vor allem, weil man alles im Internet recherchieren kann!“, fährt Pummel fort. „Egal, auf jeden Fall bin ich jetzt auf der Suche nach meiner Mutter, weil ich es zuhause nicht mehr aushalte. Ich war zwar noch nie in Hamburg, aber ich habe alles genau vorbereitet. Und ich habe ein unschlagbares Werkzeug –“ Er fördert einen Gefrierbeutel zutage, den er sich unter den Pulli gestopft hat. „Das Internet!“, ruft er mit dramatischer Stimme. „Damit kann ich mich überall zurechtfinden, auch in einer Stadt, in der ich noch nie war! Er zieht ein Smartphone aus der Tüte und – „oh nein!“ Pummel hält ein Bündel Geldscheine in der Hand, pappig und völlig durchnässt. Er wirft sie beiseite und versucht panisch, das Telefon einzuschalten, doch es bleibt tot. „Verdammt, das gibt es doch nicht!“ Er schleudert das Gerät von sich und schlägt die Hände vors Gesicht.

Pelle überlegt einen Moment, dann erhebt er sich mühsam und geht hinüber zu dem kleinen Jungen, ein Häufchen Elend in einem alten Schlafsack, verloren in einer fremden Stadt. Er hebt das Bündel Banknoten auf und legt sie zum Trocknen in sicherem Abstand neben das Feuer. Er zögert – dann tätschelt er Pummel unbeholfen den Kopf mit seinen riesigen, wettergegerbten Händen. „Hör zu“, sagt er, „ich weiß, wie das ist, wenn man das Gefühl hat, nirgendwo hinzugehören. Wenn du willst, dann helfe ich dir, deine Mutter zu finden.“


7. Dezember

Pummel blickt auf, seine Augen sind ein bisschen verschleiert und er wischt gleich alles weg – er weint doch nicht, niemals. „Echt?“, fragt er. „Klar“, sagt Pelle. „Aber wir sollten mal überlegen, wo du heute Abend übernachtest, hier kannst du schließlich nicht schlafen. Außerdem habe ich nur einen Schlafsack.“

Etwa eine Stunde später stiefeln die beiden in Richtung U-Bahn-Station. Das Geld ist zwar noch ein bisschen feucht und der Fahrkartenautomat ziert sich, aber schließlich sitzen sie in einer Bahn, welche sie in die Sternschanze bringt. Pummels Schuhe quietschen noch ein bisschen, wenn er läuft, aber er ist froh, dass er Pelle getroffen hat. Ansonsten stände er mit nassen Klamotten und nassem Geld auf der Straße – und, wenn er es recht bedenkt, ist Pelle fast besser als ein Handy, so souverän, wie er sie durch die nächtlichen Straßen navigiert.

Schließlich stehen sie vor einem Gebäude, welches überall mit Plakaten beklebt ist. Davor liegen einige Obdachlose in Schlafsäcken auf den steinernen Treppenstufen. Sie sind bis zur Nase eingepackt und schnarchen kleine Dampfwölkchen in die kalte Luft. Pummel fragt sich, inwiefern dieser Schlafplatz nun besser sein soll, als der Elbstrand, doch Pelle führt ihn um das Haus herum zu einem kleinen Seiteneingang. Er zieht an einer Strippe und drinnen hört man eine Glocke läuten. Als keiner reagiert, schlägt er energisch an die Tür. Es poltert und eine verrauchte Stimme sagt: „Ey, stress mal nicht.“ „Ich bin’s, Pelle“, sagt Pelle. „Wir sind voll, sorry“, sagt die Stimme in entschuldigendem Ton. „Geht nicht um mich“, erwidert er, „ich hab‘ ein jemanden dabei, der nicht draußen schlafen kann.“ „Okay, klär das mit Sascha“, sagt der Andere und die Tür wird knarzend aufgezogen. Pelle schultert den Seesack und bedeutet Pummel, dass er eintreten soll. Dann zieht er die Tür hinter ihnen zu.

Ein dunkler Gang liegt vor Pummel. An dessen Ende sind zwei Schwingtüren, durch welche ein schwacher Lichtschein dringt. „Na los“, brummt Pelle und schubst den kleinen Jungen sanft voran. Hinter der Schwingtür eröffnet sich ein großer Raum. Als erstes sieht Pummel die Bühne und den roten, leicht zerschlissenen Vorhang, dann die Reihen von rotbezogenen Sesseln, auf denen es sich zahlreiche Menschen in Schlafsäcken gemütlich gemacht haben. Die Stimme hat Recht gehabt, der Raum ist wirklich bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Theaterlampen an den Wänden werfen ein schwaches, warmes Licht auf die Schlafenden und Pummel merkt mit einem Mal, wie erschöpft er eigentlich ist. Pelle steuert einen Ausgang auf der anderen Seite des Raumes an, wo eine Treppe in das obere Stockwerk führt. Auch hier sind überall Leute, in jedem Winkel und auf jeder Stufe schläft einer. Nachdem sie vorsichtig über die Schlafenden geklettert sind, was Pelle sehr schwergefallen ist, zieht Pummel ihn am Ärmel. „Was ist das hier?“, fragt er. „Das ist die Rote Flora“, antwortet der, „hier pennen alle, die nicht in öffentliche Unterkünfte können oder wollen.“ „Aber – wieso?“, will Pummel wissen. „Naja, also für manche ist es nicht gerade sicher auf der Straße“, brummt der Alte, „Frauen zum Beispiel oder Flüchtlinge. Manche wollen nicht in die Städtischen, weil man dort beklaut wird. Hier ist es ruhig und sicher, zumindest seit Sascha hier das Sagen hat. Komm, da vorn ist das Büro.“

Pelle drückt die Holztür auf und schiebt Pummel in den dahinterliegenden Raum. Schreibtische, Computer, noch mehr Plakate und Poster. Sogar einige Regale mit Büchern. Auf einem alten Drehstuhl sitzt ein Mann und liest beim Schein der Schreibtischlampe in einem Comic-Heft. Groß, Norwegerpulli, Dreitagebart. „Moin“, sagt Pelle und der Mann blickt auf. „Moin“, erwidert er völlig unbeeindruckt, dann fällt sein Blick auf Pummel. Er öffnet den Mund und ein zorniger Ausdruck legt sich über sein Gesicht. „Nicht dein Ernst“, sagt er und wirft das Heft auf den Schreibtisch. „Du bringst nicht wirklich ein Kind hierher.“ „Ich erklär es morgen in Ruhe“, erwidert Pelle, „aber heute braucht er einen Schlafplatz. Er hat sonst nichts.“ „Vergiss es, Alter“, sagt er andere, „du kennst die Regeln, keine Kinder.“ „Dann müsst ihr eben eine Ausnahme machen.“ Der Andere schüttelt den Kopf. „Gibt nur Ärger. Das kannst du komplett vergessen. Gib es bei der Polizei ab oder wo auch immer du es gefunden hast, bring es dahin zurück.“ „Bitte, Sascha“, meldet sich Pummel zu Wort, „bitte, ich mache auch keinen Ärger. Niemand wird merken, dass ich hier bin und morgen sind wir schon weg.“ Der Mann runzelt die Stirn. „Ich kann das nicht entscheiden. Aber mach dir keine Hoffnungen.“ Er erhebt sich und geht zu einer Tür, die in ein Nebenzimmer führt. „Sascha, kommst du mal?“


8. Dezember

Sascha entpuppt sich als schlanke, großgewachsene Frau mit kurzen schwarzen Haaren. Sie hat einen silbernen Ring in der Nase und ihre Haut ist voller bunter Tattoos. Als sie Pummel sieht, stemmt sie die Arme in die Hüften und schnaubt: „Ich dachte, die Regeln sind klar! Keine Drogen, keine Waffen, keine Kinder!“ Pelle geht ein Stück auf sie zu. „Eine Nacht, Sascha“, sagt er. Sie schüttelt energisch den Kopf. „Regeln sind Regeln“, entgegnet sie, „und die werde ich heute Abend nicht brechen, tut mir leid. Wir hatten hier schon zwei Mal die Polizei, weil irgendjemand sein Kind vor dem Jugendamt verstecken wollte, das riskiere ich nicht noch einmal. Wo hast du den Jungen überhaupt her?“ Pelle will etwas sagen, doch da wird er von Pummel unterbrochen. „Ich kann auch selbst reden! Ich bin abgehauen, er hat damit nichts zu tun. Er hat mich gerettet, weil ich fast ertrunken bin. Morgen machen wir uns auf den Weg, um meine Mutter zu finden.“ In Saschas Augen legt sich ein milder Ausdruck. Pelle bemerkt ihn und wittert seine Gelegenheit. „Sascha“, sagt er sanft, „habe ich je Probleme gemacht? Bitte, tu mir den Gefallen.“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust. „Morgen seid ihr weg?“ „Ja“, antworten beide eifrig im Chor. „Ihr könnt das Büro haben. Aber es wird nichts geklaut oder Unordnung gemacht. Bei Gott, das ist der einzige Raum, den ich einigermaßen vom Chaos befreit habe.“ „Danke!“, sagt Pelle erleichtert. „Gut“, sagt Sascha, „dann komm mal mit Kleiner, wir haben bestimmt noch einen Schlafsack für dich. Wollt ihr noch was essen?“ Die beiden blicken sich an. „Bin hungrig wie ein Wolf“, brummt Pelle und Pummel nickt, auch er ist völlig ausgehungert.

Nachdem sie zwei Schalen Eintopf verdrückt haben, liegen sie unter den Schreibtischen in ihren Schlafsäcken. Pummel ist direkt eingeschlafen, nur Pelle rollt sich hin und her. In engen Räumen kann er schlecht schlafen, da bekommt er Platzangst. Am liebsten würde er draußen schlafen, aber besser ist es, wenn er bei dem Jungen bleibt. Hier sind zwar meistens einigermaßen zivilisierte Leute, aber man weiß ja nie. Schließlich schläft er doch ein und sein Schnarchen legt sich wie eine dicke, rhythmische Decke über den Raum.

Einige Stunden später werden sie vom Klingeln einer Glocke geweckt. Graues Morgenlicht dringt durch die schmutzigen Fensterscheiben und auf dem Flur ist Fußgetrappel zu hören. „Was ist denn los?“, fragt Pummel und reibt sich gähnend die Augen. „Frühstück“, krächzt Pelle. Am Morgen ist alles immer so schwergängig. Er schält sich umständlich aus seinem Schlafsack, zieht Stiefel und Jacke an. Dann bemerkt er, dass der kleine Junge ihn aufmerksam beobachtet. „Was denn?“, brummt er. „Ist das –“, fragt Pummel und deutet auf sein Bein. „Jop“, sagt Pelle kurz angebunden. „Ist nicht echt.“ „Das ganze Bein?“, gibt der Junge fasziniert zurück. Pelle schüttelt den Kopf. „Alles unter dem Knie ist Plastik.“ „Krass“, ruft Pummel und erhebt sich ebenfalls, „und warum – also, wie ist das passiert?“ „Was denkst du denn“, grummelt der Alte und stopft seine Habseligkeiten energisch in den Seesack, „wie sowas halt passiert. Will nicht drüber reden“ „Bestimmt ein Haiangriff“, sagt Pummel aufgeräumt, „oder ein Alligator.“ „Treib es nicht zu weit“, erwidert Pelle und muss ein Grinsen unterdrücken. „Los, beeil dich, sonst gibt es nichts mehr. Die anderen sind wie die Geier.“

Als sie das Untergeschoss erreichen, treffen sie auf eine erstaunliche Menge an Leuten, die ihr Frühstück genießen. Gefüllte Teller und Kaffeetassen werden durch die Gegend geschleppt und jeder lässt sich da nieder, wo er einen Platz zum Sitzen findet. Pelle navigiert den kleinen Jungen durch die Menge in Richtung Küche. Dort arbeitet ein Trupp Freiwilliger an Töpfen und Pfannen, es gibt Würstchen, Rührei, Müsli und Obstsalat. Auf einem Tisch sind Kessel mit Tee, Kaffee und heißer Schokolade aufgebaut. Irgendwie erinnert ihn das Ganze an das Hotelbüffet aus dem letzten Urlaub, überlegt Pummel, wäre das Publikum nicht so außergewöhnlich. Am Kaffeeausschank steht eine Punkerin mit grüngefärbtem Irokesenschnitt und riesigen Tunneln in den Ohrläppchen, ein dunkelhäutiger Mann mit Schlaghose und ausladendem Afro grüßt Pelle, als er an ihnen vorbeikommt und am Herd steht ein in die Jahre gekommener Biker mit tätowierter Glatze, metallbesetzter Lederjacke und ruft nach den geschnittenen Lauchzwiebeln für das Rührei, welche ihm von einem jungen Mädchen im Einhorn-Einteiler gereicht werden. Im Hintergrund schaltet irgendjemand die Soundanlage ein und Heavy-Metal-Klänge erfüllen die morgendliche Szenerie. Pummel ist viel zu aufgeregt, um ans Essen zu denken – so fasziniert ist er von den Menschen um sich herum. Da schubst ihn etwas Hartes in die Seite und da steht Pelle, der zwei volle Teller und eine Tasse Kaffee in den Händen balanciert. „Ich wusste nicht, was du trinken willst“, murrt er, „hol dir was und komm dann da rüber, ich muss mich hinsetzen.“

Mit einer Tasse Kakao gesellt sich Pummel gleich darauf zu ihm. Auf dem Rand der Bühne sitzend, blicken sie auf den Theatersaal, wo all die Menschen, die sonst keinen Ort ihr Zuhause nennen können, hier zusammen frühstücken.


9. Dezember

Kalt weht ihm die Morgenluft um die Nase, als Pummel neben dem alten Mann die Straße runterstapft. Im Fundus der Flora hat man ihn mit wärmeren Kleidungsstücken ausgestattet, die ihm alle ein bisschen zu groß sind, besonders die Stiefel. Da helfen auch die übergroßen, ausgebeulten Wollsocken nicht mehr.

„Wie weit ist es denn noch?“, will er von Pelle wissen. Die beiden haben beschlossen, es zuerst in der Bibliothek zu versuchen. Dort kann man umsonst die Computer benutzen und vielleicht gibt es ja auch Archive, in denen alte Zeitungen aufgehoben werden. „Nicht mehr weit“, antwortet dieser und deutet auf die andere Straßenseite. Sie überqueren den Zebrastreifen, dann einen gepflasterten Vorplatz mit Springbrunnen, welcher um diese Jahreszeit ausgetrocknet ist und betreten schließlich den Siebziger-Jahre-Bau, der die Staatsbibliothek beherbergt.

Um den Eingang herum stehen bibbernde Studenten und halten sich an ihren Glimmstängeln fest. Pelle und Pummel, das ungleiche Paar, werden von allen Seiten kritisch beäugt, aber keiner sagt was. In der Bibliothek dagegen werden sie direkt vom Pförtner angesprochen. „Wenn du hier betteln willst, kannst du gleich wieder rausgehen“, schnauzt er Pelle ziemlich unfreundlich an. „Will ich nicht“, gibt Pelle zurück, „wir wollen nur was nachschauen.“ „Am Computer“, wirft Pummel ein, „für die Schülerzeitung. Ich schreibe einen Artikel über Obdachlosigkeit.“ Der Pförtner schaut zwar noch kritisch, lässt sie aber dann ziehen. „Nicht schlecht“, murmelt Pelle und um seine Lippen spielt ein Lächeln. Pummel grinst zurück und die beiden gehen in den ersten Stock zu den Internet-Arbeitsplätzen.

Eine geschlagene Stunde später stehen die beiden völlig entmutigt auf dem Vorplatz zwischen den rauchenden Studenten. „Das kann doch gar nicht sein! Wir haben nichts!“, ruft Pummel frustriert und Pelle blickt nur zerknirscht auf seine Schuhspitzen. Die Suche im Internet und in den Beständen der Bibliothek hat nichts ergeben. Falls Pummels Mutter überhaupt in Hamburg war, hat sie hier keine Spuren hinterlassen – zumindest nicht in den Zeitungen. „Was sollen wir denn jetzt machen?“ Pummel kickt einen kleinen Stein wütend in Richtung Fahrradständer. Er trifft ein Fahrrad am Schutzblech, was ein lautes Klirren erzeugt. „Hey“, ruft einer der Studenten, „lass das, du dumme Göre!“ „Hab dich mal nicht so“, mischt sich Pelle ein, „das ist doch eh eine alte Mühle und er ist nur ein Kind.“ „Alter, das ist retro! Weißt du, was das gekostet hat? Mehr als dein Leben!“, pöbelt der Typ zurück. Pelle verdreht die Augen und schubst Pummel vorsichtig weg von der Gruppe. „Komm“, sagt er, „wir überlegen uns was. Erstmal weg hier.“

Die beiden setzen sich an die Bushaltestelle und halten Kriegsrat. „Und jetzt?“, fragt Pummel. „Ich denke, die Sache ist hiermit beendet“, brummt Pelle achselzuckend. „Was sollen wir denn auch sonst noch machen? Wir können ja schlecht an jeder Tür in Hamburg klingeln.“ „Ich gehe aber garantiert nicht zurück zu meinem Vater!“, empört sich der Junge und verschränkt die Arme trotzig vor der Brust.

„Na, wat macht ihr denn für Jesichter?“, hören sie auf einmal eine tiefe Stimme.


10. Dezember

„Mensch, Okko, moin!“, sagt Pelle überrascht und die beiden Freunde geben sich die Hand. Okko ist ein untersetzter, älterer Herr mit Pferdeschwanz und gefütterter Lederjacke, der bei jedem Wetter Sonnenbrille trägt. „Ick war zufällich in der Jegend und da seh ick doch glatt meenen juten Kumpel Pelle, dit jibt et doch nich‘!“, knarzt Okko und grinst seinen Freund breit an. Dann wendet er sich Pummel zu. „Un‘ wen haste denn da dabei? Sohn oder sogar schon Enkel?“ „Nichts von beidem“, sagt Pelle und als Okko hinter der Sonnenbrille eine buschige Augenbraue hebt, beeilt er sich zu sagen: „Ist von der Schülerzeitung. Er will einen Artikel über Leute, die auf Platte sind, schreiben.“ „Genau“, sagt Pummel, „wir waren gerade in der Bibliothek, um ein bisschen zu recherchieren.“ Da bricht Okko in ein polterndes Lachen aus. „Du?“, ruft er und stößt Pelle scherzhaft an die Schulter, „wirst jetzt wohl eene Berühmtheit? Na denne, aber dit scheint ja nich‘ besonders erfolgreich jewesen zu sein, nach euren langen Jesichtern zu urteilen. Hockt beede da, wie als wär‘ Weihnachten abjesacht worden dieset Jahr!“ „Naja, es gab ein paar Probleme –“, fängt Pummel an, doch Okko unterbricht ihn. „Kleener – es jibt keene Probleme, die een Pott Jlühwein zur rechten Zeit nich‘ lösen könnte. Kommt Leute, ick lad euch ein.“

Ohne auf die höflichen Widerworte von Pelle – „das musste doch nicht machen“ und den leisen Protest von Pummel – „ich darf doch noch gar keinen Glühwein trinken“ – zu warten, hakt er die beiden unter und das seltsame Dreiergespann macht sich auf den Weg zu einem der zahlreichen Weihnachtsmärkte, die über Hamburg verstreut sind.

Heute ist ein trüber Dezembertag und so ist es nicht verwunderlich, dass es schon anfängt zu dämmern, obwohl der Abend noch einige Stunden entfernt liegt. Die Lichter an den Buden und Hütten blinken im verhangenen Halbdunkel und es riecht nach Bratäpfeln, gebrannten Mandeln und Lebkuchen. Pummel und Pelle stehen an einem Tisch vor einem Glühweinstand und sehen ein bisschen fehlplatziert aus. Pelle hat seinen Seesack nicht wirklich verstauen können und balanciert ihn nun an seinem Holzbein, es wäre ihm lieber, wenn er sitzen könnte, aber hier gibt es nirgendwo Stühle. Okko steht einige Meter weiter am Tresen, der ihm aufgrund seiner geringen Körpergröße bis zur Brust reicht. Er muss sich richtig anstrengen, um dem Verkäufer, der als Weihnachtsmann verkleidet ist, den Geldschein hinüber zu reichen – gibt sich jedoch Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen. Schließlich kommt er zufrieden grinsend zurück, ein kleines Tablett balancierend. „So Jungs“, sagt er und stellt das Ganze vor ihnen ab. Darauf stehen drei dampfende Tassen und ein Schälchen mit Spekulatius. „Wer noch wat will, der saacht Bescheid. Keene falsche Bescheidenheit, verstanden?“ Die beiden nicken und bedanken sich. Dann erhebt Okko seinen Becher. „Uff eene schöne Adventszeit mit eenem juten alten Freund und eenem juten neuen Freund! Wie saacht ihr immer hier im Norden? Wie heeßt der alte Leuchtturmwärter?“ „Prooost heißt‘er“, sagt Pelle und mit einem klirrenden Geräusch stoßen sie die Tassen zusammen. Pummel schnuppert an seinem Getränk und stellt fest, dass es definitiv Alkohol enthält. Um nicht unhöflich zu sein, nimmt er einen vorsichtigen Schluck. Er muss sich sehr beherrschen, das Ganze nicht gleich wieder auszuspucken. Wie können Erwachsene nur so ein bitteres Zeug trinken, denkt er und wendet sich lieber den Plätzchen zu.

„So“, sagt Okko und runzelt die buschigen Augenbrauen über der Sonnenbrille, „und nu‘ raus mit der Sprache, denn den Quark mitt‘er Schülerzeitung hab ick euch von Anfang an nich‘ abjekauft.“


11. Dezember

Der Ausdruck auf ihren Gesichtern könnte nicht verdutzter sein, als Pummel und Pelle von Okkos Worten völlig kalt erwischt werden. „Ja, da guckt’a“, röhrt der, „ick hab von Anfang an jewusst, dass da wat faul is‘. Als ob meen alter Kumpel sich jemals für ‘nen Artikel interviewen lassen würde. Dit käm jar nicht in die Tüte, wie ick hier stehe.“ Pelle zuckt mit den Schultern. Sein Freund verdient sein Geld als Türsteher auf dem Kiez, da entwickelt man eine besondere Art der Menschenkenntnis. Außerdem sind sie schon sehr lange befreundet, das macht es auch nicht gerade einfacher, ihn anzulügen.

„Also“, sagt Okko und nimmt triumphierend einen großen Schluck Glühwein, „jetzt will ick allet wissen. Wat is‘ dat für ’n Kind, wo haste dit her und was wird dat Janze, wenn et fertich is‘?“ Mit einem Seufzer gibt sich Pelle geschlagen und setzt seinen alten Freund ins Bild. Während seiner Erzählung bewegen sich die Augenbrauen hinter der Sonnenbrille kritisch nach oben, doch der Andere hört ihn schweigend bis zum Ende an.

„Und jetzt wissen wir nicht weiter“, fügt Pummel hinzu, nachdem der alte Mann geendet hat, „in den Zeitungen ist nichts über sie zu finden!“ Dann blickt er sein Gegenüber erwartungsvoll an. Der kratzt sich nachdenklich an der Stirn, räuspert sich und beginnt endlich zu reden. „Also, wenn ick dat mal alles außen vor lasse, wie merkwürdig die Jeschichte ist und in wat für Kalamitäten ihr euch beede bringt mit die janze Sache – wenn ick dit alles wegdenke, dann wüßt ick nur eenen Ort, an dem ihr noch suchen könntet.“ „Und welcher?“ Pummel wird ganz aufgeregt. „Dit Stadtarchiv“, sagt Okko und als Pummels Augen aufleuchten, zuckt er mit den Schultern: „Ick weeß aber nich‘, ob dir dit allet so jefällt, was du da am Ende findest. Könnt ja sein, das deene Mutti am Ende doch nich‘ mehr unta uns weilt. Und wat dann, Kleener?“ Pummel nimmt sich noch ein Stück Spekulatius und gibt sich große Mühe, möglichst erwachsen zu tun. „Dann wüsste ich wenigstens, woran ich bin“, erwidert er fest. „Jut“, gibt Okko zurück, „denn versucht ma‘ dort. Aber heute is‘ zu. Ick gloob, morgen ab neun sind die wieder da. Ick hab da ma’n halbes Jahr an’ner Pforte jearbeitet.“ An Pelle gewandt fügt er hinzu: „Wo schläft denn der Kleene? Doch nich‘ uff’er Straße, oder?“ „Nee“, antwortet Pelle, letzte Nacht sind wir in der Flora untergekommen, da können wir heute Abend aber nicht mehr hin. Hatte gehofft, dass wir heute schon was haben und ich ihn irgendwo abliefern kann.“ Okko seufzt und rückt seine Sonnenbrille gerade. Es ist inzwischen dunkel geworden und er dürfte durch die schwarz verspiegelten Gläser kaum etwas sehen, aber wie Pelle ihn kennt, wird er diese Brille niemals absetzen, weder im Club, unter der Dusche, noch in stockfinsterer Nacht. „Für eene Nacht kann‘er bei meener Mutter pennen“, sagt er, „aber für dich – “ Pelle unterbricht ihn: „Mach dir keinen Kopf, Okko – schlaf sowieso lieber draußen. Ist das in Ordnung, Kleiner?“ Pummel nickt. Hauptsache raus aus der Kälte, denkt er. Hauptsache vorbereitet sein, damit die Suche morgen weitergehen kann. „Okay“, sagt Okko und stellt seinen Becher schwungvoll auf dem Tisch ab, „denn ma‘ los.“

Pummel muss sich beeilen, mit dem kleinen Mann Schritt zu halten, der mit seinen kurzen Beinen und dem runden Bierbauch erstaunlich gut zu Fuß ist. Er rutscht schon die ganze Zeit in den zu großen Stiefeln herum, aber als Pelle eben noch mit ihnen gelaufen ist, waren sie zumindest nicht so zügig unterwegs. Der Alte hat sich in Richtung Hafen verabschiedet, unter einer der Hochbahnbrücken ist ein bekannter Schlafplatz, wo Freunde von ihm übernachten. Einerseits freut sich Pummel, dass er nicht draußen schlafen muss, andererseits fühlt er sich auch ein bisschen schlecht, den alten Mann ziehen zu lassen. Es kann nicht sein, dass man bei so einem Wetter auf der Straße schlafen muss, überlegt er bei sich – überhaupt kann es nicht sein, dass man auf der Straße schlafen muss. Vielleicht kann seine Mutter helfen, wenn sie sie gefunden haben. Aber dazu müsste es erstmal eine Spur geben. Zugegeben, denkt Pummel, er hat sich das Ganze nicht sonderlich gut überlegt. Das ging schon mit dem Debakel in der Elbe los. Vielleicht sollte man sein Überleben nicht von einer Antwort in einem Forum für Eisbader abhängig machen. Auch wäre wohl mehr als ein Ansatzpunkt für die Suche gut gewesen. Am meisten ärgert er sich darüber, dass ihm die Idee mit dem Staatsarchiv nicht gleich gekommen ist. Schließlich werden dort alle amtlichen Dokumente der letzten Jahrzehnte aufbewahrt, das hätte er wissen müssen.

Durch seine Grübelei läuft er fast in Okko hinein, als der abrupt vor einer Haustür stehen bleibt. „Hier isset“, sagt er und fischt einen Schlüssel aus der Hosentasche. Es geht eine knarzende Holztreppe nach oben, dann stehen sie vor einer Wohnungstür, die mit einem Weihnachtskranz geschmückt ist, der auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Okko will den Schlüssel gerade im Schloss umdrehen, da wird die Tür von innen geöffnet. „Mutter“, brummt Okko verdutzt, „du hast echt Ohren wie ‘ne Fledermaus, dit is‘ unglaublich.“ „Sei nich‘ so frech zu deener ollen Mutter“, gibt die ältere Dame, die auf der Schwelle steht, in ebenso breitem Berlinerisch zurück. Sie ist in einen samtenen Hausanzug gekleidet, trägt Lockenwickler im Haar, von Hals und Ohren baumeln übertrieben große Klunker und aus einer strassbesetzten Halbbrille mustert sie ihre Besucher misstrauisch. „Was is‘ dit denn?“, fragt sie und zeigt mit einem langen, ebenfalls mit Glitzersteinchen besetzten Fingernagel auf Pummel. „Dit is‘ kompliziert, Mutter“, gibt Okko unwirsch zurück, „ick muss den Kleenen aber ma‘ heute Nacht bei dir im Jästezimmer parken.“ „Ach weeßte“, sagt die ältere Dame, „ick will es nich‘ so jenau wissen. Aber nur eens –“ Sie wendet sich Pummel zu und hält ihm die Fingernagelspitze herausfordernd unter die Nase. „Klauste?“ – „Wie bitte?“, fragt Pummel völlig verdattert. „Ob du klaust?“ „Nein!“, empört sich der kleine Junge, „ich hab‘ noch nie in meinem Leben etwas geklaut!“ Sie kneift die Augen fest zusammen und mustert ihn schweigend. „Mutter“, wirft Okko ein, „ick leg meene Hand für ihn ins Feuer. Lass’n doch bitte heut‘ Nacht hier pennen und morjen isser weg, wie als wär’er nie dajewesen.“ „Jut“, gibt sie sich nach einer kurzen Denkpause geschlagen, „er kriegt dit Sofa. Aber nur, wenn er meene Katzen in Ruhe lässt.“


12. Dezember

Am nächsten Morgen sitzt Pummel an einem wackligen Esstisch in einem verglasten Balkon, der über und über mit Pflanzen vollgestopft ist. Vor ihm steht ein Becher Kakao und ein Teller mit Käsebroten. Doch er befindet sich unter Beobachtung. Nur wenige Zentimeter entfernt hockt ein orange-getigerter Kater und hat seine gelben Augen fest auf die Stullen geheftet. Auch die zahlreichen anderen Katzen, welche die kleine Wohnung bevölkern, haben sich um den Tisch versammelt und verlangen miauend nach einem Anteil.

Pummel fixiert den Kater, der hebt den Kopf und starrt ihn an. Reglos verharren die Kontrahenten. Es ist ein klassischer Showdown, zwölf Uhr mittags in einer amerikanischen Kleinstadt. „Dieser Esstisch ist nur groß genug für einen von uns“, scheint der Blick des Katers zu sagen. Er zuckt nach vorn, da greift Pummel schnell nach einer Schnitte und beißt hinein. Die Augen des Anderen verengen sich zu Schlitzen und er schlägt zornig mit dem gestreiften Schwanz auf den Tisch. Da erklingt ein Klappern aus der Ferne und mit einem Mal setzen sich alle Tiere in Bewegung – besonders der orangefarbene Kater schießt wie ein geölter Blitz in Richtung Küche davon. Kurz darauf ist ein mehrstimmiges Schmatzen zu hören: Raubtierfütterung.

Wenig später kommt die ältere Dame in den Raum. „Willste noch wat?“, fragt sie Pummel. Heute trägt sie noch mehr Schmuck als gestern und ihre kurzen, lockigen Haare sind scheinbar so stark mit Haarspray eingesprüht worden, dass sie sich kaum mehr bewegen, wenn sie den Kopf schüttelt. „Nein, danke“, antwortet Pummel, der gerade einen großen Bissen genommen hat, mit vollem Mund. „Dann is‘ ja jut“, gibt die Dame zurück, „ick bin im Wohnzimmer, Morjenmagazin. Kannst ja dazukommen, wenn de fertich bist. Bis meen Sohn dich nachher wieder abholt.“ Pummel nickt und sie verlässt das Zimmer.

Wenige Kilometer Luftlinie entfernt schält sich Pelle gerade aus seinem Schlafsack. Kalt war es unter der Brücke, es hat gezogen und irgendjemand hat die ganze Nacht geschnarcht, was unter dem steinernen Bogen fürchterlich gehallt hat. Er hat schlecht geschlafen, denn er hat außer Spekulatius und Glühwein gestern nichts mehr gegessen. Sein Bauch fühlt sich leer an – ein Gefühl, dass er eigentlich schon kennt, aber an das er sich nie gewöhnen wird. Grummelnd stopft er seine Habseligkeiten in den Seesack, verabschiedet sich von seinen Freunden und macht sich steifbeinig auf den Weg zur Reeperbahn. Er ist zwar noch ein bisschen nervös, dass er wegen der Sache mit seinem Arbeitskollegen am Ende doch noch Ärger bekommt, aber der drückende Schmerz in seinem Magen treibt ihn in die Richtung von Harrys Kiosk.

Doch der Weg vom Hafen hoch zum Kiez ist steil und anstrengend, er muss immer wieder anhalten und Pausen machen. Dann dreht er sich um und betrachtet die Landungsbrücken. Der große Turm mit der Uhr wird vom Morgenlicht rötlich erleuchtet und aus dem Dunst tauchen dahinter die Ladekräne des Containerhafens auf. Verschlafene Fußgänger, die an ihren Coffee-to-go-Bechern nippen, Geschäftsmänner mit Aktenkoffern und kleinere Touristengruppen kommen an ihm vorbei, schenken ihm aber keine Beachtung. Ein Fahrradfahrer fährt ihn fast über den Haufen, als er, völlig außer Atem, an der Bahnhaltestelle die Straßenseite wechseln will. „Pass doch auf!“, ruft der verärgert, erkennt dann, wen er vor sich hat und fügt dann noch ein „Scheiß Penner!“ an. Pelle lässt das kalt. Solche Sachen überhört er schon längst. Aber es erstaunt ihn doch immer wieder, wie schlecht gelaunt Menschen sein können, die in einer beheizten Wohnung mit warmer Dusche und sauberer Kleidung in den Tag gestartet sind. Aber die haben bestimmt auch ihre eigenen Sorgen, grübelt er und ehe er sich’s versieht, steht er schon vor Harrys Imbiss.

Sein Blick fällt auf einen Aufsteller mit einem übergroßen Ausdruck der heutigen Titelseite der Hamburger Morgenpost. Pelle liest die Überschrift, reißt die Augen auf, liest sie noch mal. Das Herz rutscht ihm in die Hose.


13. Dezember

Einige Zeit zuvor klingelt ein Wecker und eine große Hand schlägt so stark darauf, dass alle Batterien aus dem Gerät geschleudert werden und polternd hinter den Nachtschrank kullern. Mit einem Stöhnen kriecht Harry aus dem Bett. Es ist vier Uhr morgens. Biggi liegt neben ihm und hat sich ins Kopfkissen vergraben. „Komm, Lütte“, sagt Harry und schubst sie an, „aufstehen.“ Sie grunzt und schlägt mit der Hand nach ihm.

Gluckernd fließt der Filterkaffee in die große Thermoskanne, als Harry schon lange die Zeitungen einsortiert, die Zigarettenbestände kontrolliert und die Stehtische aufgestellt hat. Biggi räumt gerade die Kühltheke mit frischen Brötchen ein, die sie eben geschmiert hat. Als sie den Kopf hebt, sieht sie Harry vor sich stehen, mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht. Er hält ein Plakat in der Hand, die Titelseite der Mopo, die er jeden Morgen vor dem Laden aushängt. Biggi liest die Überschrift, betrachtet das Foto. „Glaubst du wirklich?“, fragt sie dann. „Du, ich kann mir das nich‘ vorstellen“, erwidert Harry, „aber ich erkenn‘ den alten Knacker auf drei Meilen.“ „Und was willst du jetzt machen?“ Harry antwortet nicht, er überlegt. Dann zuckt er mit den Schultern. „Hin oder her, es geht um ein Kind“, sagt er resigniert und dann greift er zum Telefon.

Als Pelle nun grübelnd vor dem Kiosk anlangt, an einer Stelle, an der er schon unzählige Male gestanden und seinen morgendlichen Kaffee geschlürft hat, wird er unvermittelt von einer Textzeile in die Realität geholt. „Der Kinderdieb von St. Pauli – wer kennt diesen Penner?“ steht da und darunter ist ein Foto von ihm und Pummel, aufgenommen durch eine Überwachungskamera der Hochbahn. Zum Glück ist es ziemlich verpixelt, aber sein weißer Bart ist gut zu sehen und auch der Seesack ist unverkennbar.

Im Kiosk selbst, durch die geschlossene Ladentür nicht sichtbar, lehnen sich gerade zwei Polizisten an den Tresen. Einer der Beamten, ein großer schlanker Kerl, futtert gerade eins von Biggis belegten Brötchen. Der andere, ein kleiner Dicker, stellt Fragen und notiert sich die Antworten eifrig auf einem Block. „Pelle – und wie weiter?“ „Kedelklopper“, sagt Harry. „Wohnort?“ „Hat keinen“, sagt Harry. „Wo könnten wir ihn denn antreffen?“ „Hier“, sagt Harry. Langsam wird ihm bei der Sache mulmig. Pelle ist sein Freund, jahrelang kennen sie sich schon. „Ich will hier aber keinen ans Messer liefern“, platzt er aufgebracht heraus, „ich sach nur, dass ich ihn erkannt hab‘ auf dem Foto. Nich‘, dass ihr Dösköppe wieder sonst was aus der Nummer macht.“ „Wie hastu uns grad genannt?“, fragt der Große schmatzend. Der Dicke blickt stirnrunzelnd von seinem Notizblock auf. „Lass gut sein, Falke“, sagt er und wendet sich wieder an Harry. „Wo können wir deinen Freund denn finden? Nur, um ein paar Fragen zu stellen. Verhaftet wird erstmal niemand.“ Harry zögert. „Na, hier zum Beispiel. Hier kommt er früher oder später vorbei.“ „Gut“, sagt der Dicke, „dann ruf du uns an, wenn er hier auftaucht. Danke für die Meldung.“ „Was ist denn das für ein Kind?“, will Harry noch wissen. „Ein Murkel aus dem Süden“, wirft der Große mit vollem Mund ein, „Hessen, nech wahr, Grosz?“ Der kleine Dicke nickt. „Frankfurt. War mit seinen Eltern hier unterwegs, ist nach einer Hafenrundfahrt einfach verschwunden. Der Vater macht uns fürchterlich Druck, ist ja klar. Naja, wir müssen dann mal wieder.“ Er wendet sich zum Gehen, öffnet die Ladentür, dreht sich aber dann noch einmal um. Sein Kollege hat in die Auslage gegriffen und sich eine Handvoll Schokoladenriegel geschnappt. „Kann ich – “, fängt er an und Harry winkt ab. „Nimm das Zeuch mit, geht auf’s Haus.“ „Kommst du dann?“, fragt der Dicke. „Danke“, antwortet der Beamte und schiebt sich die Beute in die Tasche seiner Schutzweste, „tschüss dann.“ „Tschüss“, sagt Harry und als die beiden aus dem Laden sind, atmet er tief durch. „Das war das Richtige“, sagt Biggi. „Die wollen ja nur ein paar Fragen stellen.“ „Hm“, gibt Harry gedankenverloren zurück. „Wird sich schon alles aufklären“, meint seine Frau und klopft ihm aufmunternd auf die Schulter. „Hoffentlich.“


14. Dezember

„Verdammt“, denkt Pelle. Er fühlt sich, wie als würde plötzlich ein großer, roter Pfeil über seinem Kopf schweben, der auch noch blinkt. Wie ertappt dreht er sich im Kreis, um sich zu vergewissern, dass ihn noch niemand erkannt hat. Dann sieht er das Polizeiauto. Und ihm wird schlagartig alles klar. Das Blut schießt ihm in den Kopf und ihm wird ganz warm, diesmal nicht vor Zorn, sondern vor Enttäuschung. Das hätte er von Harry nicht gedacht. Dass der bei der Polizei anruft und ihn verpfeift. Eine andere Erklärung fällt ihm nicht ein, warum ausgerechnet heute hier ein Peterwagen steht – und keiner drin sitzt. Plötzlich hört er das Glöckchen der Ladentür.

Zum Glück muss Pummel nach dem Morgenmagazin nur eine Folge „Sturm der Liebe“ ertragen, dann kommt Okko ihn abholen. „Jut jeschlafen?“, fragt er aufgeräumt. „Ja“, antwortet Pummel, „vielen Dank nochmal, dass ich hier übernachten durfte. Und auch nochmal danke für das Frühstück!“, fügt er an Okkos Mutter gewandt hinzu. „Keen Problem, Kleener“, sagt die alte Dame und täschelt ihm umständlich über den Kopf. „Ick fühle einfach mit heimatlosen Seelen, dit fängt schon bei den Katzenviechern an. Wir sind schon lang aus Berlin weg und dit Herz für die Heimat blutet immer noch, dit kann ich dir sagen. Und bei dir merkt man gleich, dat da keen Zuhause hinter is.“ „Mutter, lass den Kleenen ma‘“, sagt Okko schnell und zieht ihn aus der Wohnung.

Als sie unten auf der Straße stehen, zuckt er entschuldigend mit den Schultern: „Sie wollt‘ dir nich‘ zu nahe treten.“ „Ist sie nicht“, wehrt Pummel ab, „ich bin sehr dankbar, dass sie mich aufgenommen hat.“ Die beiden gehen nebeneinander her und Okko lässt heute sowohl den Stechschritt, als auch die Verschwiegenheit gegenüber Pummel vermissen. „Ick war noch sehr kleen, als meen Vater in‘ Knast gekommen is‘“, beginnt er zu erzählen. „Hat ‘n paar krumme Dinger in Berlin jedreht und meene Mutter und ick konnten da nich‘ bleiben. Denn sind wa nach Hamburch gezogen und sie hat hier lange als Betreuerin für die Frauen auf’m Kiez jearbeitet. Hat sie versorgt, aufjenommen, sich um sie jekümmert, wenn es sonst keenen gab. Aber richtig viel Jeld kann man damit auch nich‘ verdienen. Meene Mutter kriegt eene kleene Rente und dit war’s. Aber die Frauen, denen sie jeholfen hat, die bringen ab und zu was. So zahlt sich’s am Ende aus, wenn’ma hier und da ma hilft.“  Pummel kann nur nicken. Er hat nur die Hälfte von dem verstanden, was Okko da plappert, aber er ist froh, dass er heute nicht so rennen muss wie gestern. „Kleener“, sagt der gerade, „ick fühl irjendwie mit dir. Is‘ mir jestern den janzen Abend im Kopf rumjeschwirrt. Wenn wir den alten Sack jefunden haben, bring ick euch ins Staatsarchiv rein, da arbeitet jetzt ‘n Kumpel von mir. Normalerweise broocht ihr ‘ne Anmeldung und so’n feines Zeuch. Aber dit kriegen wir schon hin.“

Sie gehen gerade durch eine enge, kopfsteingepflasterte Gasse im Hafenviertel. Hier erinnern die rotgeziegelten Häuser mit ihren hölzernen Tür- und Fensterrahmen noch an die alten Zeiten, als in dieser Gegend Kaufleute mit ihren exotischen Importen große Geschäfte machten. Jetzt beherbergen die Häuser keine Kolonialwarenläden mehr, sondern Anwaltskanzleien, Interior-Design-Studios und Architekturbüros. Die Dachgiebel neigen sich nach vorn, berühren sich fast, so dicht stehen die Häuser hier beieinander. Obwohl es Morgen ist, herrscht hier ein dämmriges Licht und die winzigen Seitengässchen liegen teils völlig im Dunkeln. Okko holt gerade Luft und will fortfahren, da wird er von einem Schatten aus einer dieser Gassen am Arm gepackt.


15. Dezember

„Für mich ist die ganze Sache jetzt endgültig vorbei“, stellt Pelle entschieden fest. Er ist immer noch völlig außer Atem, denn er ist den ganzen Weg von der Reeperbahn bis in die Altstadt gerannt – so gut wie er das mit anderthalb Beinen kann. Die drei stehen immer noch an der Kreuzung, an der sie zusammengetroffen sind. „Wir müssen dich jetzt zur Polizei bringen und alles aufklären. Ich werde riesigen Ärger kriegen“, fährt Pelle fort und blickt Pummel entschuldigend an. „Dann mache ich allein weiter“, gibt der kleine Junge trotzig zurück. „Ich hab‘ mir schon gedacht, dass mein Vater verrückt spielt. Aber ich will dich da nicht mit reinziehen. Ich gehe allein zum Staatsarchiv und dann werde ich meine Mutter finden, egal, ob die Polizei sagt, dass ich zurück zu ihm soll!“ Er verschränkt die Arme vor der Brust und blickt die beiden Männer herausfordernd an. Okko, der die ganze Zeit nichts gesagt hat, meldet sich nun zu Wort. „Tja, dat wird aber so nüscht, Kleener! Du brauchst eenen volljährigen Bejleiter, sonst lassen die dir da nich‘ rein.“ Pelle stößt einen Seufzer aus.

Wenig später sind die drei auf dem Weg zum Staatsarchiv. Pelle grummelt zwar noch ein wenig, aber die beiden anderen haben ihn überzeugt, dass ihm nichts passieren kann, solange Pummel seine Unschuld an der Sache beteuert. Der kleine Junge tappt hinter den beiden Männern her und ist sehr erleichtert. Er hat zwar vorhin großspurig behauptet, dass er auch allein weitergemacht hätte, aber ohne die anderen hätte er nicht den Weg durch die kleinen, geheimen Seitenstraßen gefunden, die sie jetzt nehmen, um kein Aufsehen zu erregen. Jedes Mal, wenn sie in der Ferne eine Sirene hören, bleibt Pummel ein bisschen zurück, damit sie nicht zusammen gesehen werden – eine Taktik, die bisher gut aufgeht.

Auf diese Weise schaffen sie es tatsächlich und erreichen am frühen Nachmittag das Staatsarchiv. Ein merkwürdiger Bau ist das, aus zwei Kästen zusammengesetzt, der eine mit hell- und dunkelblauen Kacheln besetzt, der andere mit langgezogenen Fensterfronten verglast. Okko führt sie um das Gebäude herum zum Eingang und klingelt an der Pforte. Nach wenigen Minuten taucht ein Mann in Uniform auf. „Moin Okko!“, begrüßt er ihn und die beiden umarmen sich. „Mensch, was machst du denn hier? Willste mich ablösen?“ Okko grinst. „Nee Willi, deene Schicht kannste ma‘ schön selbst abreißen. Ick hätt‘ ‘ne Bitte: die beeden müssen ma‘ paar Sachen checken. Geht um familiäre Anjelegenheiten. Könnste nich‘ …“ Der andere winkt ab. „Digger, schwatz‘ nicht, geht klar!“ Damit winkt er Pummel und Pelle herein. Die beiden verabschieden sich von Okko. „Vielen Dank für alles!“, sagt Pummel und schüttelt ihm die Hand. „Nüscht zu danken“, erwidert der. „Ick drück dir die Daumen, Kleener. Dit schaffste. Aber seid jefälligst vorsichtig“, fügt er an Pelle gewandt hinzu. „Du hast schon jenug Probleme.“ Pelle nickt schweigend und gibt seinem Freund die Hand.

Nachdem sie Pelles Seesack im Pförtnerhäuschen verstaut haben – der alte Mann hat sich sehr umständlich angestellt, dass er seine gesamte Habe einfach hier lassen soll, hat ihm nicht gefallen – führt sie Willi in die großen Arbeitsräume des Archivs. Hier stehen lange Reihen hölzerner Schreibtische, an einigen Arbeitsplätzen kann man auch einen PC benutzen. „Den Rest findet ihr?“, fragt Willi und die beiden nicken.

Zum Glück sind heute kaum andere Besucher da. Nur ein älteres Ehepaar sitzt an einem der Computerarbeitsplätze und ärgert sich gemeinsam mit der widerspenstigen Technik herum. Als das ungleiche Paar den Raum betritt, schauen sie kritisch herüber. Während Pummel und Pelle warten, dass sich ihr Rechner hochfährt, steht der kleine Junge unvermittelt auf und geht zu den Senioren. „Haben Sie ein Problem mit der Tastatur?“, fragt er und der ältere Herr nickt. „Der schreibt nur noch groß! Was machen wir denn falsch?“ Pummel grinst. Ein Blick genügt und er hat das Problem gefunden „Sie haben die Feststelltaste aktiviert“, antwortet er und zeigt auf den Übeltäter. „Da sieht man mal, die Jugend heutzutage findet sich in diesen Dingen viel besser zurecht als wir alten Leutchen!“, sagt die Frau und lächelt Pummel dankbar an.

„Was sollte das?“, zischt Pelle, als der Junge sich wieder neben ihn setzt. „Noch ein bisschen auffälliger geht’s ja nicht!“ „Ablenkungsmanöver“, flüstert Pummel zurück. „Sie finden mich jetzt nett und werden hoffentlich keinen Verdacht mehr schöpfen.“ Pelle überlegt, dann nickt er anerkennend. „Na los“, sagt er dann, „der Kasten ist an. Jetzt soll er uns ein paar Antworten ausspucken.“

Mit einem Mal kriegt Pummel ein bisschen Schiss. Okkos Worte kommen ihm wieder in den Kopf. Was, wenn ihm die Antworten des Archivs nicht gefallen? Was, wenn seine Mutter wirklich nicht mehr lebt? Die Hamburger Beamten müssten das wissen – hier wäre der Ort, an dem solche Dokumente gespeichert werden. Aber noch viel schlimmer – was, wenn sie nichts finden? Dann bliebe ihm keine andere Möglichkeit und er müsste zu seinem Vater zurück. Pelle bemerkt Pummels Nervosität und klopft ihm auf die Schulter. „Nun guck nicht wie ein Trauerkloß“, brummt er und ringt sich ein Lächeln ab. „Immerhin bist du nicht der Kinderdieb von St. Pauli.“ Pummel nickt und gibt den Namen seiner Mutter und ihr Geburtsdatum in die Suchleiste der Archiv-Datenbank ein. Er schließt die Augen. Bitte, bitte, denkt er. Bitte lass es einen Treffer geben. Wenigstens einen. Und wenn sie tot ist, dann ist es so. Wenigstens eine Todesanzeige, wenigstens einen Treffer, wenigstens Gewissheit.

Der Computer gibt ein leises „Pling!“ von sich. Die Suche ist beendet. Pummel hört, wie Pelle neben ihm die Luft durch die Nasenlöcher ausstößt. Er blinzelt vorsichtig. Zwei Treffer.


16. Dezember

„Ich glaub‘ es nicht“, sagt Pummel atemlos, als die beiden auf das flimmernde Display des Computers starren. Zwei Dokumente sind dort aufgeploppt. Mit zittriger Hand greift Pummel nach der Maus und klickt den ersten an. Es ist ein Antrag für eine Wohnsitzummeldung. Dann wählt er den zweiten aus und hält unmerklich die Luft an. Auch Pelle kann die Spannung fast nicht mehr ertragen. Als sich die Übersicht endlich auf dem Bildschirm aufgebaut hat, atmen die beiden Freunde erleichtert aus: es ist ein Eintrag in einem Firmenarchiv. „Na Gottseidank!“, brummt Pelle und fährt sich über die Glatze, wie als hätte er vergessen, dass da schon seit einer Weile keine Haare mehr sind. „Ist das auch wirklich deine Mutter?“, fragt er dann vorsichtig, während Pummel die Angaben genau studiert. „Ganz sicher“, antwortet Pummel, „sogar ihr zweiter Vorname steht da. Das ist sie.“ Er blickt Pelle mit strahlenden Augen an: „Wir haben sie gefunden! Ich wusste es!“

Mit den Identifikationsnummern in der Hand geht es nun ins Herz des Archivs. Im Schein der Leuchtstoffröhren und die trockene, staubige Luft atmend, schleichen sie endlos anmutende Regalreihen ab, in denen lauter grüne Archivkästen stehen. Hier liegt der alte Kram, der teilweise bis ins Mittelalter zurückreicht. Normalerweise wäre Pummel sehr versucht, hier stehen zu bleiben und in den ein oder anderen Kasten zu spähen, pergamentene Klosterurkunden, Kaufverträge und Gesetzestexte in der Hand zu halten, aber heute ist das anders. Er eilt mit Pelle daran vorbei, denn sie müssen weiter hinter, wo Rollregale die Dokumente der jüngeren Zeit beherbergen. Alles wird hier aufgehoben, von der Geburtsurkunde bis zum Totenschein, jeder Kauf, jeder Behördengang, jede Gerichtsverhandlung ist hier archiviert. Endlich erreichen sie das Fach, welches auf ihrem Zettel angegeben ist. Mühevoll dreht der alte Mann an dem Rad, um eine Lücke zwischen den Regalen herzustellen, in die sich Pummel, kaum ist sie groß genug, schnell hineinquetscht. Wenige Minuten später steht er triumphierend mit zwei grauen Mappen vor Pelle.

Als sie wieder an ihrem Platz sitzen, können sie Unterlagen endlich studieren. Jeder nimmt sich eine der Hefter vor. „Die Ummeldung ist schon älter“, sagt Pummel und Bedauern legt sich in seine Stimme. „Und hier steht, dass sie im Elbschlosskeller gearbeitet hat“, fügt Pelle hinzu, der ein Blatt Papier am ausgestreckten Arm von sich weghält und es dabei angestrengt versucht zu entziffern – die Lesebrille ist irgendwo in seinem Seesack. „Elbschlosskeller?“, fragt Pummel. „Ist eine Kiezkneipe. Aber dieses Dokument ist auch bisschen her – keine Ahnung, ob es deine Mutter so lange dort ausgehalten hat.“ „Aber das ist nicht so eine Bar, wo – ?“, will Pummel zögerlich wissen. „Nee, nee!“, brummt Pelle, „nur eine Kneipe. Ist rund um die Uhr das ganze Jahr geöffnet, dort findest du alle schrägen Vögel, alle Kaputten, alle Gestrandeten. Aber ich find‘ es nicht komisch, dass deine Mutter dort gearbeitet hat. Sie hat kurz nach ihrem Umzug dort angefangen, also brauchte sie bestimmt einfach nur einen Job.“ „Egal!“, sagt Pummel aufgeregt, „wir haben jetzt endlich eine Spur! Wie gehen wir jetzt am besten vor?“ Der alte Mann schaut erneut auf die Dokumente und überlegt. „Die Adresse ist hier in der Nähe“, antwortet er dann, „von daher wäre es am besten, wenn wir erst dorthin gehen. Der Elbschlosskeller läuft uns nicht weg, da können wir immer noch hin. Und im Dunkeln haben wir auch bessere Chancen, unbemerkt aufs Kiez zu kommen. Schließlich werden wir ja immer noch von der Polizei verfolgt.“


17. Dezember

Pummel blickt Pelle fragend an. Der lächelt aufmunternd, dann hält er seine große Faust in die Luft: Daumen sind gedrückt. Pummel drückt auf den Klingelknopf. Einen kurzen Augenblick später geht die Tür auf, ein älterer Herr in einem fleckigen Unterhemd schaut heraus. „Ja, bitte?“, fragt er zögerlich und mustert die beiden. „Was gibt’s denn?“ Die beiden sagen ihr Sprüchlein auf, der Mann schüttelt den Kopf, zuckt mitleidig mit den Schultern und schließt die Tür wieder. Die beiden schauen sich an. Das war die letzte Wohnung. In dem fünfstöckigen Miethaus an der Wandsbeker Chaussee kann sich keiner an Pummels Mutter erinnern. An so vielen Türen haben sie bisher geklopft: mal öffnet ihnen ein junges Mädchen mit Baby auf dem Arm, mal ein geschminkter Typ in Frauenkleidern, mal ein Student, aus dessen abgedunkelter Wohnung laute Partymusik dröhnt. Doch niemand hat eine Ahnung, wer sein Vormieter war, geschweige denn wer seine Nachbarn sind. „Sackgasse“, sagt Pummel niedergeschlagen. „Ganz ehrlich, ich hätte nicht gedacht, dass wir hier Glück haben“, meint Pelle und wendet sich zum Gehen. „Das wäre auch zu schön gewesen. Ich mein‘, schau dir die Bude an.“ Er deutet an die Wand, wo an zahlreichen Stellen die Farbe großflächig abblättert. Pummel nickt: „Hier wäre sie bestimmt nicht lange geblieben.“

Durch das dunkle, muffige Treppenhaus – das Licht funktioniert nicht – stolpern sie die Stufen hinunter, bis sie schließlich wieder auf der dämmrigen Straße stehen. Die Straßenlaternen sind schon angegangen und tauchen alles in ihren warmen, orangefarbenen Schein. Ein paar Meter die Straße hinunter hält Pelle plötzlich an. „Was ist denn los?“, fragt Pummel und blickt den Alten besorgt an, der sich an einem Straßenschild abstützt. „Ich glaub‘, das ganze Laufen und Treppensteigen hat mir nicht gutgetan“, antwortet der, „ich bin normalerweise nicht so viel unterwegs.“ „Wie weit ist es denn noch?“, will Pummel wissen, doch Pelle winkt ab. „Weit. Aber es geht gleich wieder, mach dir keinen Kopp.“ Doch Pummel hat schon das Schild einer U-Bahn-Haltestelle in der Nähe erspäht. „Kommt überhaupt nicht in Frage!“, knurrt Pelle, „genauso gut könnte ich bei der Polizei anrufen und fragen, ob sie uns persönlich abholen wollen! Wir laufen!“ Doch manchmal kann man etwas noch so sehr wollen, aber der Körper will einfach nicht mitmachen. Zwei Meter schafft er, dann knickt Pelle um und sein ganzer Körper sackt zu Boden. Zum Glück landet er weich auf seinem Gepäck. Eine Frau, die vorbeikommt, schüttelt den Kopf. „Betrunken, auf offener Straße“, murmelt sie und eilt davon. Pummel zieht den Alten mühsam wieder hoch. „Wir fahren jetzt Bahn!“, sagt er resolut und insgeheim ist ihm Pelle dankbar. Der kleine Junge schultert den Seesack und langsam stolpern die beiden in Richtung Haltestelle.

In der Bahn setzen sie sich auseinander, um kein Aufsehen zu erregen. Der Zug zischt abwechselnd über hochgebaute Gleise, dann wieder durch geflieste U-Bahn-Tunnel. Vor den Fenstern liegt entweder Dunkelheit oder das nächtlich illuminierte Hamburg. Menschen steigen ein und wieder aus, keiner interessiert sich für den scheinbar in der Ecke dösenden Penner und den kleinen Jungen auf der anderen Seite des Waggons. „Noch eine Haltestelle“, denkt Pummel, als die Bahn gerade an den Landungsbrücken hält – da steigen zwei uniformierte Polizisten in den Wagen. Auch Pelle, der die ganze Zeit unauffällig unter dem Rand seiner Kapuze hervorgelugt hat, sieht die Beamten und ihm schießt das Blut in den Kopf. Der eine ist groß und schlank, der andere klein und dick. Sie schauen sich um, sehen ihn, blicken sich gegenseitig an und steuern dann direkt auf ihn zu.


18. Dezember

„Guten Abend“, sagt der untersetzte Beamte, „würdest du uns bitte begleiten?“ Er nickt dem Großen zu, der sich darauf in die offene Tür der Bahn stellt, damit diese nicht zugehen kann. Pelle tut weiterhin so, als würde er schlafen, doch ihm wird ganz schlecht. Jetzt ist es soweit. Er wird in den Knast gehen. Dass es dazu kommen würde, weil er einem kleinen Jungen dabei geholfen hat, seine Mutter zu finden, das hätte er nicht gedacht. Der Polizist stößt ihn vorsichtig an. „Aufstehen, junger Mann“, wird er lauter, „kommst du mit uns mit?“ Verschlafen blinzelnd schaut Pelle unter seiner Kapuze hervor. „Was habe ich denn – “, fragt er mit der unschuldigsten, verpenntesten Stimme, die er zustande bringt. „Wir müssen dich befragen. Geht um ein verschwundenes Kind“, wird ihm geantwortet. Pelle zieht sich umständlich die Kapuze vom Kopf und aus dem Augenwinkel sieht er, dass sich Pummel hinter dem Rücken der Polizisten von seinem Sitz erhoben hat und unentschlossen im Gang steht. Er weiß anscheinend nicht, ob er sich im Hintergrund halten oder ihm zu Hilfe eilen soll. Pelle blinzelt ihm zu und ruckt mit dem Kopf in Richtung Ausgang. „Hat der was?“, fragt der große Polizist mit angeekeltem Unterton. „Was?“, gibt sein Kollege unwirsch zurück. „Na, der zuckt so. Tollwut oder wat weiß ich?“ Der dicke Beamte wendet sich zu ihm um und schüttelt verständnislos den Kopf: „Sag mal, Falke, also manchmal… “

Als die Aufmerksamkeit für einen Moment nicht auf ihm liegt, formt Pelle mit den Lippen stumm die Worte „lauf weg“, doch der Junge begreift nicht. „Lauf weg“, flüstert Pelle fast tonlos, doch als Pummel immer noch dasteht und nicht weiß wohin, schreit er durch den Waggon „Lauf weg!“ Jetzt versteht er endlich und nimmt die Beine in die Hand. Die Beamten können sich gar nicht so schnell umwenden, wie Pummel aus dem Wagen schießt. „Was war das?“, brüllt der große Beamte und stürzt auf den Bahnsteig hinaus, doch er sieht nicht mehr als eine Touristengruppe in Aufruhr, denn gerade ist ein kleiner Junge durch ihre Mitte gerannt. „Guck nicht so, hinterher!“, ruft nun der Dicke.  „Was soll ich denn machen?“, fragt der Große. „Alles was rennt, verhaften!“, schreit der Dicke fassungslos. Endlich setzt sein Kollege sich in Bewegung. „Und du kommst mit“, sagt er unwirsch an Pelle gewandt und greift ihn fest am Oberarm.

Die Berührung durchfährt ihn wie ein elektrischer Schlag. Pelle schließt die Augen. Hinter seinen Lidern schimmert es rot. Sein Herzschlag wummert in seinen Ohren. „Lass mich los“, presst er zwischen den Zähnen hervor. „Du kommst mit“, wiederholt der Beamte und verstärkt seinen Griff noch. Pelle versucht, seine außer Kontrolle geratene Atmung zu beruhigen, doch es gelingt ihm nicht. Einatmen. Ausatmen. „Wird’s bald?“, hört er die Stimme des Polizisten. Mit einem Mal, wie als würden Bärenkräfte in dem alten Mann wohnen, reißt er sich los. Eine Hand greift den Schulterriemen des Seesacks, die andere stößt alles weg, was sich ihm in den Weg stellt. Jemand stürzt, fällt zu Boden. Durch die Tür, raus auf den Bahnsteig. Mit den Armen den Weg freikämpfen. Hinter ihm Rufe, er hört sie nicht. Nur sein dröhnender Herzschlag ist da und das Rauschen in seinen Ohren.

Pelle stolpert hastig die Treppe zu den Landungsbrücken hinunter. Zu dieser Jahreszeit sind erstaunlich viele Besucher hier, die natürlich, so will es ein ungeschriebenes touristisches Gesetz, alle Fußwege und Plätze durch Grüppchenbildung unpassierbar machen und ihre Selfie-Sticks und Spiegelreflexkameras auf alles richten, was fotografierwürdig erscheint. Pelle taucht unter den gefährlich niedrig hängenden Stäben durch und schert gekonnt um einen Touristen herum, der für ein Foto so tut, als würde er die Elbphilharmonie auf Händen tragen. Das alles tut er automatisch, zum Denken hat er keine Zeit. Hauptsache weg, Hauptsache weit weg von der Haltestelle und den beiden Polizisten.

Ohne, dass sie es wissen, rennen Pummel und Pelle in die gleiche Richtung. Sie haben beide den direkten Weg auf den Hamburger Fischmarkt eingeschlagen, der heute bereits etwas früher aufgebaut wird. Schon stehen zahlreiche Verkaufswagen und Pavillons auf dem gepflasterten Platz, Kabel werden verlegt, Lampen getestet und Sitzgruppen rausgestellt. Die Ware liefern sie erst in ein paar Stunden an, bis dahin muss aber alles stimmen. Der Fischmarkt ist schließlich das Aushängeschild Hamburgs, da ist kein Aufwand zu gering, erst recht nicht in der Weihnachtszeit. Von dem geschäftigen Treiben zu so später Stunde bekommen die beiden Freunde nichts mit, sie sind auf der Flucht vor Verfolgern, die ihnen dicht auf den Fersen sind.


19. Dezember

Koch Ole hat sich gerade das Handtuch über die Schulter geworfen, seinem Kollegen bedeutet, dass er jetzt Pause macht und steht jetzt mit einer Zigarette im Mundwinkel hinter der Fischauktionshalle. Kleine blaue Schwaden kringeln sich aus seinen Nasenlöchern, er raucht immer wie ein Drache, sagt seine kleine Tochter. Aber er sollte endlich damit aufhören, er ist kein gutes Vorbild, denkt Ole. Morgen hört er auf. Aber heute muss er noch, der Stress, ja, der Stress. Der wäre ohne Fluppen nicht auszuhalten. Und sonst darf er keine Pause machen. Sein Kollege, überlegt er, der ist zwar Nichtraucher, aber am Ende doch ungesünder als er, weil er keine Pausen macht beim Arbeiten. Und das ergibt doch auch irgendwie Sinn – oder nicht?

Als er noch so grübelt, schießt plötzlich ein kleiner Junge aus dem Nichts an ihm vorbei, durch die offene Tür in die Wirtschaftsräume des Veranstaltungshauses. „Was zum – “, will Ole gerade noch sagen, da humpelt ein alter Mann in absonderlicher Geschwindigkeit heran, nickt ihm zu und folgt dem Jungen. „Hey, Sie dürfen hier nicht rein!“, ruft Ole, doch dann zuckt er mit den Schultern. Ganz ehrlich, diese Firmenparty hat ihn sowieso genervt. Sollen sie doch alle machen, er ist ja nur der Koch. Und unterbezahlt ist er auch, wie jeder hier.

Pummel und Pelle staunen nicht schlecht, als sie sich schließlich schwer atmend inmitten einer feiernden Menschenmenge wiederfinden. Das Licht im großen Saal ist gedimmt, rote Strahler erleuchten die Säulengänge, welche eine umlaufende Balustrade abstützen. Auf den Bühnenvorhang wird mit einem Projektor der Name der Veranstaltung projiziert: „Auch die Wunschzettel-Zusteller haben mal frei: willkommen auf der Weihnachtsfeier der Deutschen Post-Zentrale Hamburg“. Überall sind herausgeputzte Leute in Anzügen und Kleidern, die gerade ihr Abendessen beendet haben und nun nahtlos zum Teil der Veranstaltung übergegangen sind, der viel mit Kontakte-Knüpfen und wenig mit Nüchternheit zu tun hat. Schwarzgekleidete Kellner sind emsig unterwegs, um auch jeden Gast mit einem Getränk zu versorgen und so bemerkt keiner, dass sich zwei neue Gesichter ihrer Gesellschaft angeschlossen haben.

Von einem Tisch greift sich Pelle im Vorbeigehen ein Häppchen und schiebt es sich genüsslich in den Mund. Pummel blickt ihn fassungslos an: „Das ist doch nicht wahr! Wie kannst du denn jetzt etwas essen?“ Pelle kaut, schluckt und zuckt dann mit den Schultern. „Ich bin gerade so schnell gerannt, wie seit zehn Jahren nicht mehr. Hätte nie gedacht, dass das alte Ding und ich das noch mitmachen“ – er schlägt mit der Hand auf das Knie, unter dem sich sein Holzbein befindet – „und jetzt habe ich mir eine Belohnung verdient. Solltest du übrigens auch mal probieren, ist echt lecker!“ Pummel zögert, dann greift er ebenfalls zu. „Aber wir sollten uns vielleicht verstecken“, sagt er schmatzend, „die Polizei wird uns doch bestimmt verfolgen, oder?“ „Hast Recht“, erwidert Pelle und nimmt das ganze Tablett mit den Schnittchen in die Hand. „Wir gehen auf den Balkon. Da sehen wir gleich, wenn jemand reinkommt und können uns im Notfall verstecken.“

Einige Minuten später sitzen sie in einem abseitigen Winkel auf der ersten Etage, lassen die Beine durchs Gitter baumeln – Pelle nur eins, da das falsche Bein absturzgefährdet ist – und futtern Häppchen. Auf der Bühne hat sich gerade eine Gruppe zusammengefunden, die einige Weihnachtslieder trällert, es scheint sich aber dabei wohl eher um eine spontane Zusammenkunft als um den Auftritt des Betriebschores zu handeln. „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit – “, tönt es zu den beiden Freunden herauf. „Bei den hohen Tönen mache ich die Tür lieber wieder zu“, murmelt Pelle und Pummel fängt an zu kichern. „Weißt du“, sagt der Junge nach einer Pause, „ich glaube, ich habe mich noch gar nicht richtig bei dir bedankt.“ „Wofür denn bedankt?“, fragt Pelle und wendet sich von den singenden Briefträgern ab. „Na, dass du mir hilfst natürlich“, antwortet Pummel. „Das ist nicht selbstverständlich. Du bist der erste Erwachsene, der mich ernst nimmt. Mein Vater sagt so oft Nein zu mir, dass ich manchmal denke, das ist mein zweiter Vorname.“ „Tja“, sagt Pelle nachdenklich, „vielleicht will dein Vater auch nur, dass du keine Dummheiten machst. Eltern wollen immer das Beste für ihr Kind. Und was du gerade treibst, mit einem alten Landstreicher kreuz und quer durch Hamburg spazieren, das würde ich mal glatt zu den Dummheiten zählen.“ Beide grinsen sich an. „Wollen wir schon weiter?“, fragt Pummel. Pelle wirft ihm einen Seitenblick zu. „Ich glaub‘, ein bisschen könnte ich mir diese Sängerknaben noch anhören. Du auch?“ Pummel nickt und als er dem Chor weiter lauscht, der nun eine harmonisch äußerst fragwürdige Version von „Last Christmas“ angestimmt hat, merkt er, dass der alte Mann neben ihm angefangen hat, unmerklich im Takt des Liedes zu schunkeln.


20. Dezember

Eine Weile hören sie dem Chor noch zu, doch als ein selbsternannter Alleinunterhalter beschließt, alle Postwitze zu erzählen, die er kennt – „Was ist gelb und hüpft über die Wiese…?“ – erheben sich die beiden Freunde. „Sowas muss ich mir in meinem Alter wirklich nicht mehr antun“, grummelt Pelle und die beiden gehen zur Treppe, welche in das untere Geschoss führt. Auf dem Absatz bleibt Pummel stehen und kramt in seinen Hosentaschen. „Mist“, sagt er dann. „Ich glaube, mir sind die Münzen rausgefallen, als wir uns hingesetzt haben.“ „Dann schau nach, ich gehe schon mal zum Ausgang“, erwidert Pelle und setzt, immer noch etwas steifbeinig, seinen Weg nach unten fort. Als er die Tür erreicht, stellt er sich unauffällig in eine Ecke und blickt zu Treppe. Nun müsste der Junge doch eigentlich kommen, wie lange kann sowas schon dauern. „Ein Glas Sekt, der Herr?“, wird er von einer jungen Kellnerin gefragt, die gerade mit einem Tablett an ihm vorbeifliegt. Er ist wohl doch nicht so unauffällig, wie er gehofft hat. „Nein, danke“, winkt er ab, „hatte heute schon genug.“ „Oder dürfen‘s vielleicht ein Paar Handschellen sein?“, hört er plötzlich hinter sich eine Stimme. Dann klickt es um seine Handgelenke und ohne, dass er auch nur ein Wort sagen kann, wird Pelle abgeführt.

Im Polizeiwagen findet er seine Stimme und seinen Verstand wieder. „Ich wäre ja gern noch ein bisschen geblieben“, sagt er. Keiner reagiert. „Ich arbeite nämlich bei der Post“, fährt er fort. „Ich habe zwar manchmal die Briefe vom Finanzamt nicht weitergeleitet – aber das ist doch kein Grund, mich gleich zu verhaften, oder, Herr Oberkommissar?“ „Spar dir den Quatsch“, fährt ihn der dicke Polizist an, der ihn vorhin in der Straßenbahn festgehalten hat. Er reibt sich mit der Hand die Beule am Kopf. „Du weißt genau, warum du hier bist.“ „Erstmal kriegen wir dich wegen Tätlichkeit gegen Beamte dran“, schaltet sich sein Kollege ein. Er fährt und kaut dabei an einer Bratwurst im Brötchen, deren fettiger Geruch das ganze Auto erfüllt. „Aber wenn du nich‘ gleich sagst, wo der Junge ist, dann wird das Ganze immer schlimmer für dich. Also – von mir aus lass‘ dir ruhig Zeit.“

Pelle schweigt und blickt aus dem Fenster. Die Stadt fliegt schnell und still an ihm vorbei. Er wird Pummel nicht verraten, auf keinen Fall. Vielleicht schafft der Kleine es ja, aber sehr wahrscheinlich ist es nicht. Aber ein Verräter ist er nicht, niemals. Lieber für immer schweigen.

Auf der Wache wird Pelle direkt in den Verhörraum geführt. Er sieht gar nicht aus wie diese abgedunkelten Zimmer mit Einwegspiegel, wie man sie aus den Fernsehkrimis kennt, sondern eher wie ein Büro bei irgendeiner Verwaltungsstelle. Pelle wird auf einen Stuhl gesetzt, die Handschellen gelöst. Falke lässt sich tief seufzend in einen Bürosessel fallen, während sich Grosz vor dem Delinquenten aufbaut. „So – und nun raus mit der Sprache: wo ist der Junge?“ „Welcher Junge?“, versucht sich Pelle dumm zu stellen. „Du weißt, welchen Jungen ich meine. Wo ist Moritz?“ „Ich kenne gar keinen Moritz, außer den von Max und – “ Grosz schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Du hältst dich wohl für richtig witzig, alter Mann!“, schreit er und seine Stimme überschlägt sich dabei ein bisschen, wie man das von Jungs kennt, die gerade in den Stimmbruch gekommen sind. Pelle schließt die Augen. Unterdrückte Aggressionen, denkt er. Menschen mit solchen Ausbrüchen sind die schlimmsten, das hat seine Therapeutin immer gesagt. „Du sagst mir jetzt sofort, wo das Kind ist!“, brüllt der Polizist jetzt und schlägt immer wieder auf den Tisch. Dann greift er nach Pelles Schultern und schüttelt ihn. Dessen bisher so entspannte Haltung verkrampft sich. Alles zieht sich fest, schnürt ihm die Kehle ab, drückt ihm von innen gegen die Stirn. Einatmen, denkt er und presst die Augen fest zu. Ausatmen. Einatmen. „Wo ist der Junge?!“, plärrt es ihn an. Ausatmen.


21. Dezember

„Lassen Sie die ganze Wut raus“, sagt Dr. Vales und zeigt mit ihren rot lackierten Fingernägeln auf Pelle. Er sitzt in einem Behandlungszimmer auf einer gemütlichen Liege, neben ihm plätschert ein Zimmerbrunnen in der Form eines japanischen Gärtchens friedlich vor sich hin und vor dem Fenster zwitschern die Vögel in einen herrlichen Frühlingsmorgen hinein. Pelle schweigt nur und blickt an die Wand. Dr. Vales lehnt sich nach vorn. „Herr Kedelklopper“, sagt sie und blickt ihn ernst an. „Sie sind der beste Kandidat für eine Haftverkürzung, die Selbstverteidigung, auf die Ihr Anwalt plädiert hat, spielt da eine große Rolle. Aber Sie müssen das Antiaggressionstraining absolvieren, was bedeutet, dass Sie auch mit mir kooperieren müssen. Dazu gehört, dass Sie sich mir mitteilen – und wie ich schon sagte, dass Sie die angestaute Wut benennen und andere Wege finden, sie abzubauen. Ich sage Ihnen, am schlimmsten sind die Menschen, die versuchen, ihren Zorn nach unten zu drücken. Irgendwann bricht der sich Bahn. Sehen Sie das Wasser in diesem Brunnen?“ Pelle wendet den Kopf unwillig zur Seite und betrachtet den Garten im Miniaturformat. Aus einer Quelle an der Spitze eines aufgetürmten Bergs sprudelt ein Flüsschen hervor und schlängelt sich zwischen rotgefächertem Ahorn, gestutzten Büschen und rosa blühenden Kirschbäumen nach unten, wo es in einem Graben zusammenläuft. „Sie sehen,“ fährt die Ärztin fort, „wie sich das Wasser seinen Weg sucht. Es geht immer den Weg des geringsten Widerstandes. Den Weg, den es schon so viele Male genommen hat. Wenn Ihr Weg des geringsten Widerstandes die Aggression ist, werden Sie nie aus dieser Schleife herausfinden. Wollen Sie das Problem angehen? Mit meiner Hilfe?“ Pelle blickt sie nun zum ersten Mal direkt an. Er nickt. „Sehr gut“, sagt Dr. Vales aufgeräumt, „dann fangen wir mit dem Atmen an.“

Einatmen. Pelle öffnet die Augen. Ausatmen. Er sitzt immer noch an dem Schreibtisch in der Polizeiwache und er ist immer noch ruhig. Die Wut ist mit dem gleichmäßigen Strömen seines Atems auch wieder verschwunden. Grosz hat endlich davon abgelassen, auf den Tisch zu schlagen und setzt sich hin. Dann wendet er sich an seinen Kollegen: „Das ist er wirklich? Hast du nochmal überprüft?“ Der andere schaut auf sein Computerdisplay, dann wieder auf Pelle. „Ganz sicher“, sagt er. „Ist ja nich‘ das erste Mal, dass unser Freund hier Kontakt mit der Obrigkeit hat.“ „Gut“, sagt Grosz dann, „mir reicht’s jetzt. Pelle Kedelklopper, du befindest dich ab jetzt in Untersuchungshaft.“

Der alte Mann wird in eine Zelle geführt und auf das schmale Bett gesetzt. Dann schließt sich die schwere Tür hinter ihm mit einem Krachen und Pelle hört, wie sich ein Schlüssel im Schloss dreht.

Nach einer grauenvollen Nacht auf der Pritsche – Pelle hat vor Platzangst kein Auge schließen können – öffnet sich die Tür. „Frühstück“, sagt der dicke Polizist kurz angebunden, lässt ihn zunächst für eine Katzenwäsche ins Bad gehen und führt ihn dann nach draußen in den Raum, in dem er gestern verhört wurde. Dort steht eine Tasse Kaffee und ein Teller mit belegten Brötchen für ihn bereit. Am Schreibtisch sitzt bereits der große Polizist und beißt genüsslich in einen gefüllten Pfannkuchen. „Moin“, sagt er mit vollem Mund und pustet dabei den Puderzucker quer über seinen Schreibtisch. „Mensch Falke, pass‘ doch auf“, ermahnt ihn sein Kollege. „Tschuldigung“, nuschelt der und wischt mit dem Jackenärmel seiner Uniform über die Papiere, was das Ganze nicht wirklich besser macht.

„So“, sagt der Dicke, als Pelle aufgegessen hat, „wir haben uns was Neues überlegt. Wenn du nicht mit uns reden willst, soll es so sein. Aber vielleicht kann dich jemand anderes ja zum Reden bringen.“ Dann ruft er mit lauter Stimme: „Kommen Sie bitte rein!“


22. Dezember

Pelle hört, wie sich die Tür hinter ihm öffnet. Schritte nähern sich, dann steht ein älterer Herr in Hemd und Wintermantel vor ihm. „Bitte setzen Sie sich doch, Herr Berger“, sagt der Beamte höflich und rückt ihm einen Stuhl zurecht. Pelle mustert den Neuankömmling. Er hat schütteres Haar, trägt eine dünne Brille und seine Kleidung sieht einigermaßen teuer aus. Irgendwie kommt er ihm bekannt vor, vielleicht ein höherer Polizeibeamter oder ein Untersuchungsrichter? Der Mann räuspert sich, dann wendet er sich direkt an ihn. „Herr Kedelklopper“, sagt er, den norddeutschen Familiennamen umständlich aussprechend, „sagen Sie mir bitte, wo mein Sohn ist.“

Einige Kilometer entfernt schreckt Pummel aus unruhigen Träumen hoch. Hinter der Bühne des Veranstaltungssaals ist es dunkel und staubig, doch keiner hat den kleinen Jungen hier entdeckt. Warum auch, schließlich waren alle bis in die frühen Morgenstunden mit Feiern beschäftigt. Pummel erhebt sich und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Mit dem Erwachen ist auch das flaue Gefühl im Magen wieder da. Pelle ist weg. Verhaftet. Pummel fühlt sich, als würde er am liebsten im Boden versinken. Er hat das Ganze von der Empore aus mitangesehen und ist, anstatt seinem Freund zu Hilfe zu eilen, in die andere Richtung davongelaufen, wie der allergrößte Feigling. Er mag sich gar nicht vorstellen, wie es dem alten Mann jetzt gerade geht. Wenn er seine Mutter endlich gefunden hat, müssen sie ihn freilassen, das steht jedenfalls fest. Noch ein Grund, nicht länger zwischen diesen muffigen Vorhängen zu hocken und weiterzumachen. Der Junge tappt leise in Richtung Ausgang. „Hey, was machst du denn hier?“, hört er auf einmal eine Stimme und fährt erschrocken herum. Hinter der Bar steht ein junger Typ und poliert ein Glas. Doch Pummel fängt sich schnell. „Ich war gestern mit meinem Papa auf der Post-Weihnachtsfeier“, sagt er schnell, „und habe meinen Gameboy gesucht. Ich dachte, vielleicht hätte ich ihn hier verloren.“ „Und, hast du ihn gefunden?“ Der Barmann scheint seine Geschichte zu schlucken. „Nee“, gibt Pummel zurück, „muss wohl noch im Auto liegen. Schönen Tag Ihnen noch!“ Damit verschwindet er aus der Tür, ohne dass er sich noch einmal nach dem anderen umdreht.

Draußen bauen gerade die Fischverkäufer ihre Stände ab. Der Morgen ist schon alt, alle Aale sind verkauft und die Stimmen der Marktschreier inzwischen heiser geschrien. „Entschuldigen Sie“, spricht Pummel ohne Umschweife eine der Verkäuferinnen an, „wissen Sie zufällig, wie ich zum Elbschlosskeller komme?“ Die Frau erklärt ihm den Weg, dann hebt sie kritisch eine Augenbraue. „Aber du, ich weiß nech, ob Kinner wie du da schon reindürfen“, sagt sie dann. „Ist okay“, erwidert Pummel, „mein Papa will mich dort in der Nähe abholen. Vielen Dank und auf Wiedersehen!“ „Merk dir, in Hamburch saacht man Tschüss!“, ruft ihm die Frau hinterher, denn er hat sich schon in die Richtung aufgemacht, die sie ihm gewiesen hat. „Bist wohl nicht von hier“, murmelt sie für sich, dann stutzt sie plötzlich. Sie holt ihr Handy aus der Hosentasche und ruft die Nachrichten auf. Da ist das Foto. „Hey du, warte mal!“, ruft sie ihm hinterher. Dann sieht sie, wie der Junge mit einem Mal anfängt zu rennen und schnell um eine Ecke verschwindet. „Das gibt’s doch nech“, schimpft sie und wählt die Nummer der Polizei.


23. Dezember

„Sagen Sie mir doch endlich, wo mein Sohn ist!“ Herr Berger wiederholt nun bereits zum dritten Mal seine eindringliche Bitte. Pelle schweigt und starrt die Wand an. Es ist eine ziemlich langweilige Wand. Aber was soll er machen. Er ist kein Verräter, das sagt er sich immer und immer wieder vor. Da kann von ihm aus der Papst höchstpersönlich hier her kommen und ihn bitten, nie wird er verraten, wohin Pummel unterwegs ist. Herr Berger stützt sich auf den Tisch und sein hochrutschender Ärmel entblößt eine teure Uhr an seinem Handgelenk. Er ist sich über diesen Umstand durchaus bewusst und weiß auch, dass diese Geste normalerweise ihre Wirkung zeigt. Menschen mit Geld sind einfach vertrauenswert, das ist für ihn Gesetz. Gute Kleidung, gute Zähne, gute Uhr – und schon wird man ernst genommen. Pelle beeindruckt das jedoch wenig. „Ich weiß, warum mein Sohn gerade hier in Hamburg ausgerissen ist“, sagt Pummels Vater jetzt und achtet genau auf Pelles Reaktion, „er sucht seine Mutter.“ Pelle zuckt zusammen. „Ja, ich bin auch nicht auf den Kopf gefallen“, fährt der Andere fort, „er hat leider den Suchverlauf auf seinem Laptop nicht komplett gelöscht. Ich nehme an, er hat Sie von seinem Ersparten als Stadtführer angeheuert?“ Pelle presst die Lippen aufeinander. „Nun, Sie brauchen gar nichts sagen“ – Herr Berger zuckt mit den Achseln und macht eine bedeutsame Pause – „alles, was Sie verstehen müssen, ist, dass ich mehr Geld habe als mein Sohn. Verstehen Sie, was ich damit meine?“ Er versucht, sich in Pelles Blickfeld zu rücken, damit dieser ihn ansieht und der alte Mann dreht bockig den Kopf weg. „Na kommen Sie schon“, sagt er, „ich zahle Ihnen mehr als das Dreifache für die kleine Information, ob und welche Spur Sie zuletzt verfolgt haben. Was war Ihr nächstes Ziel? Wo wollte mein Sohn hin?“

Nun schaut Pelle ihm gerade heraus in die Augen. „Du bist ein unmöglicher Mensch“, sagt er trocken. Der ganze Raum atmet hörbar auf, alle denken erleichtert: „Ah, er spricht. Jetzt haben wir ihn.“ „Unmöglich, sagen Sie?“, fragt Herr Berger nun, „weil ich meinem Sohn ein angenehmes Leben bieten will?“ „Zu seinem Leben gehört aber auch seine Mutter, ob du das magst oder nicht!“, knurrt Pelle. Der Andere schüttelt den Kopf. „Sie wissen gar nichts über meine Familie. Mein Sohn hat herausgefunden, dass meine Ex-Frau noch lebt, gut, so soll es sein. Sie ist seine Mutter, ja, aber sie tut ihm nicht gut. Hat sich damals viel zu sehr in seine Erziehung eingemischt, wollte ihn mit ihren antiautoritären Methoden verweichlichen. Ich habe damals sehr viel Geld für die Scheidung ausgegeben, habe noch mehr bezahlt, um sie aus unserem Leben zu entfernen, habe sie in die Psychiatrie in einer anderen Stadt einweisen lassen, da sie völlig außer sich war und habe schließlich eine neue Mutter für meinen Sohn gefunden. Meinen Bemühungen ist es zu verdanken, dass mein Sohn in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen ist, trotz seiner … vorbelasteten Situation.“ Im Raum ist es mit einem Mal sehr still. Auch die Beamten wagen sich nicht, etwas zu sagen. „Also“, sagt Herr Berger nun aufgeräumt, „da wir das geklärt haben: nehmen Sie nun mein Geld, sagen mir wo mein Sohn ist und erlauben mir, meine Familienangelegenheiten so zu klären, wie ich es für richtig halte?“

Pelle antwortet nicht, zieht die Nase hoch und dann spuckt er dem Mann vor die Füße. „Gut“, sagt der, „mir kann es auch gleich sein. Ich werde meinen Sohn auch ohne Ihre Hilfe finden. Aber Sie wandern wegen Kindesentführungen ins Gefängnis, dafür sorge ich höchstpersönlich.“

Plötzlich klingelt das Telefon. Der dicke Polizist löst sich aus seiner Starre und hebt den Hörer ab. Dann ist er mit einem Mal ganz aufgeregt. „Wie, gesehen? Wiederhol‘ noch mal langsam, ist das wirklich wahr?“ Er hört eine Weile zu, dann legt er auf. „Also“, sagt er dann mit feierlicher Stimme, „wir haben ihn.“


24. Dezember

Wenn man den Elbschlosskeller zur Weihnachtszeit betritt, erkennt man die verrauchte Kiezkneipe kaum wieder. Über der Bar, die mit allen möglichen Sorten Alkohol vollgestopft ist, hängen künstliche Tannengirlanden mit zerknitterten Strohsternen, Weihnachtsmannfiguren lassen ihre langen Stoffbeine über den Rand der Theke baumeln und in der Ecke funkelt ein kleiner Weihnachtsbaum. Auf den speckigen Tischen stehen Teelichter und Weihnachtssterne und es riecht ausnahmsweise nicht nach abgestandenem Bier, Mundgeruch und kalter Asche, sondern nach Glühwein, Räuchermännchen und frischen Plätzchen. Gabi, die gute Seele hinterm Tresen, gibt jedes Jahr auf’s Neue ihr Bestes, um das Haus für Weihnachten ordentlich herzurichten – auch wenn nach jedem Partywochenende ein beträchtlicher Teil des Baumschmucks zu Bruch gegangen ist und die Töpfe der Weihnachtssterne als Aschenbecher missbraucht worden sind. Heute ist Heiligabend und da wird Okko, der vorn an der Tür steht, besonders aufpassen, dass die Feiermeute den besinnlichen Abend nicht stört. Die Reeperbahn kennt eigentlich keine friedlichen Zeiten, besonders am Heiligabend zieht sie zahlreiche Menschen an, die auf diese Tradition nichts geben und welche die Geburt Christi am liebsten mit dem dritten Bier in der Hand zu lauter Technomusik feiern. Doch der Elbschlosskeller macht an diesem Tag eine Ausnahme. Normalerweise ist hier jeder willkommen, doch Feierwütige müssen heute einen großen Bogen um die Kneipe machen, dafür wird Okko schon sorgen.

Am Tresen hängt Fridbert, ob schon wieder oder immer noch kann selbst er nicht beantworten. Er ist einer von den friedlichen, deshalb darf er bleiben. Die Soundanlage spielt „Leise rieselt der Schnee“, der alte Trinker summt leise mit und wackelt unrhythmisch auf seinem Barhocker hin und her. Im hinteren Teil des Ladens haben sich mehrere Grüppchen versammelt, einige Obdachlose sind darunter, einige Punker und wer sonst noch so zur Stammkundschaft des Elbschlosskellers gehört. Da wird die Tür aufgestoßen und ein alter Mann kommt herein, eine schmutzige weinrote Mütze auf dem Kopf, weißer Bart, das braune Gesicht fast nur Falten und ein Seesack über der Schulter. „Knecht Ruprecht“, ruft Gabi fröhlich, „mensch, moin du! Schön, dass du jetzt auch ma‘ vorbeischneist!“ Pelle grinst, hebt grüßend die Hand und humpelt zu einer der Gruppen hinüber. Alle freuen sich riesig, ihn zu sehen. Uwe begrüßt ihn als Erster. „Mein Schieter, biste wieder draußen“, sagt er und drückt seinen Freund an sich. Der alte Mann nickt. „Komm erst ma‘ an“, fährt Uwe fort und geht zur Bar, eine Runde Glühwein bestellen. Als Nächster greift Okko nach seiner Hand. „Ick gloob‘ es nich‘, er is‘ wieder unter uns“, röhrt er und die Augenbrauen hüpfen freudig hinter der dunklen Sonnenbrille. Pelle kann es gar nicht glauben, von wie vielen Leuten er begrüßt wird. „Habt ihr mich so vermisst?“, fragt er und zum Glück ist es dunkel, sodass keiner sehen kann, dass er ein bisschen rot wird. „Na klaro“, erwidert Uwe, der gerade mit einem dampfenden Tablett zurückkehrt. Die Freunde stoßen an und dann löchern sie Pelle mit Fragen. Wie lange er in Haft war, was sie ihm vorgeworfen haben, welchen Pflichtverteidiger er bekommen hat, ob der seine Sache gut gemacht hat, wie das Essen war – „Leute“, unterbricht Pelle sie, „das war ganz anders, und zwar ist es so gelaufen – “

Doch als er beginnen will, geht die Tür plötzlich auf. Ein frischer Wind fegt durch den Elbschlosskeller und weht den Rauch von Uwes Zigarette fort, der wie ein dicker Vorhang über dem Grüppchen gehangen hat. Pelle blickt zur Tür und da steht Pummel. Der kleine Junge schaut sich suchend im düsteren Halbdunkel der Kneipe um und seine Augen finden schließlich seinen Freund. Strahlend rennt er auf Pelle zu. „Du hast es geschafft!“, ruft er und drückt den alten Mann ungestüm an sich. „Sag mal, was machst du denn hier?“, fragt der völlig entgeistert. „Wir haben dich überall gesucht“, plappert Pummel los, „ich wollte wissen, ob es dir gut geht. Diese ganze Sache war total daneben, ich hab‘ mich so schlecht gefühlt, als sie dich verhaftet haben und dann musste ich mich allein auf die Suche machen, einfach ultra-affen-blöd ohne dich! Und dann – “ Pelle fällt ihm ins Wort: „Stopp Kleiner, jetzt überschlag dich mal nicht gleich. Was heißt hier „wir“?“ Pummel deutet, ohne zu antworten, zur Tür. Völlig unbemerkt ist hinter ihm eine Frau eingetreten. Sie hat die gleichen lockigen Haare wie Pummel und allein das reicht aus, dass alle erkennen, dass es seine Mutter ist. Jetzt tritt sie zu ihnen und reicht Pelle die Hand. „Herr Kedelklopper“, sagt sie, „ich weiß gar nicht, wie ich mich bei Ihnen bedanken soll.“ „Erstmal damit, dass Sie ihn nicht bei diesem fürchterlichen Nachnamen nennen“, murmelt Uwe grinsend. „Hey, das ist wenigstens ein traditioneller norddeutscher Nachname“, mischt sich Gabi von der Theke ein, „lehn du dich ma‘ nich‘ zu weit aus dem Fenster, Kai-Uwe!“ „Jetzt ist aber Schluss“, ruft Uwe scherzhaft in Richtung Bar, „treib’s nicht zu weit, olle Bittse!“

Pelle wendet sich derweil an Pummels Mutter. „Bitte nennen Sie mich doch Pelle“, sagt er und schüttelt ihre Hand, „das machen alle.“ Sie lächelt zurück: „In Ordnung, Pelle. Dann darfst du auch Marie sagen.“ „Genug, jetzt bin ich dran!“, ruft Pummel und führt seine Mutter um den Tisch, damit sie alle anderen kennenlernen kann. Er selbst bleibt bei Pelle stehen. „Wie hast du sie denn gefunden?“, fragt Pelle, der die Überraschung immer noch nicht ganz verdaut hat. „Na, ich bin hierhergekommen. In einem alten Ordner hatten sie Mamas Telefonnummer noch und zum Glück ist sie, was Technik betrifft, genauso verstaubt wie du, sie hat immer noch die Gleiche. Leider hat in der Zwischenzeit wohl ein Blödmann die Polizei gerufen, die haben mich kurz nach meiner Ankunft auch gleich eingesackt. Aber Okko und Uwe haben Mama angerufen und ihr alles erzählt. Sie kämpft gerade um das Sorgerecht, aber ich bin zum Glück alt genug, dass ich auch ein Wörtchen mitreden darf. Also es ist alles gut – dank dir!“

Pelle winkt ab. „Ach, ich hatte da doch gar nichts – “ „Doch, wohl“, sagt Pummel nachdrücklich, „und deshalb feiern wir heute Weihnachten mit dir.“ „Was?“, empört sich der alte Mann, „in diesem Rattenloch? Mit uns alten Knackern? Na, wenn du meinst …“ Der kleine Junge nickt eifrig. „Ich hab‘ übrigens auch ein Weihnachtsgeschenk für dich“, sagt er dann und seine Augen beginnen zu funkeln. Er rennt um den Tisch zu seiner Mutter und zieht ein längliches Paket aus ihrer Handtasche. „Mach es jetzt gleich auf“, fordert er eifrig, nachdem er es seinem Freund in die Hand gedrückt hat. „Aber das darf ich doch noch gar nicht aufmachen“, protestiert Pelle und Pummel blickt ihn tadelnd an. „Aberglaube ist heutzutage wirklich völlig unwissenschaftlich“, sagt er, „genauso wie deine komischen Sternzeichen. Also mach es endlich auf!“

Pelle reißt das bunte Papier weg und darunter kommt sein Stoffaffe Fips zum Vorschein – gewaschen, gebürstet und geflickt! Dem alten Mann klappt die Kinnlade herunter. „Das gibt’s doch nicht! Du hattest ihn die ganze Zeit?“, fragt er verdutzt. „Jop“, antwortet Pummel und Stolz legt sich in seine Stimme, „hatte ihn schon seit dem Abend, an dem du mich gerettet hast.“ „Er war im Schlafsack, stimmt’s?“ „Jop. Und da er so kaputt war, habe ich beschlossen, ihn mal zum Schönheitschirurgen zu schicken. Mama hat ihn genäht. Aber jetzt schau mal, was da noch ist!“

Pelle betrachtet das Stofftier genauer. Um den Hals des Affen ist ein dünnes Band geschlungen, an dem ein Schlüssel befestigt ist. „Ein Wohnwagen am Dom“, erklärt Pummel stolz, „nur fünf Minuten von hier. Der ist groß genug, dass du auch mal Besuch empfangen kannst. Stromanschluss und Stellplatz ist alles schon bezahlt, du hast sogar eine Heizung und warmes Wasser. Du kannst regelmäßig herkommen, aber auf der Straße schläfst du nicht mehr, dass das klar ist.“ Dann nimmt der kleine Junge seine Hand, die große, runzlige, sonnengegerbte Hand und drückt sie fest. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, murmelt Pelle und kratzt sich an der Nase, die wie verrückt kribbelt.

ENDE