Zwölfter Dezember

Ewan

Der elegant gekleidete Mann gab Thomas Murphy einen Geldschein, dann tippte er sich an die Krempe seines Zylinderhuts. Als er sich zum Gehen wandte, teilten sich plötzlich die Wolken und ein verirrter Sonnenstrahl durchschnitt das Dämmerlicht des frühen Abends. Er fiel in den Innenhof der alten Ruine und auf das Gesicht des Unbekannten. Ewan erstarrte, als er einen flüchtigen Blick auf die Züge erhaschte. Sein Herz schlug schneller, denn er erkannte ihn.

Es war Philip Rowe, ein wohlhabender Unternehmer aus dem Hafenviertel. Er hatte mit Importgeschäften aus den Kolonien viel Geld verdient. Mittlerweile machten ihm zwar ein paar junge, aufstrebende Händler Konkurrenz, aber er war weiterhin der Platzhirsch an den Edinburgher Docks. Ewans Gedanken rasten: Warum traf sich Rowe mit einem Jungen in einer verfallenen Kirche? Von welcher Operation hatten sie gesprochen? Wofür würde ein Mann wie er ein Waisenkind anheuern wollen?

Nachdem Rowe verschwunden war, machte sich auch Thomas zum Aufbruch bereit. Ewan schritt schnell und lautlos den Säulengang entlang, um sicherzugehen, dass der andere Mann tatsächlich gegangen war – aber es brauchte nur einen Blick aus dem Tor, um zu sehen, wie der Unternehmer mit langen Schritten über den Rasen auf die Straße zueilte, wo eine Kutsche auf ihn wartete. Die Sonne stand schon tief hinter den Wolken und färbte den Winterhimmel in Orange- und Rottönen. Ewan kehrte in den Innenraum der Ruine zurück, wo ihm Tommy in die Arme lief. „Einen Moment, junger Mann“, sagte er mit Bestimmtheit, aber dennoch in freundlichem Ton, um den Jungen nicht zu verschrecken. „Ich habe gesehen, dass du gerade mit Philip Rowe gesprochen hast. Kannst du mir sagen, was er von dir wollte? Das sah nach einem ziemlich ernsten Gespräch aus.“

Tommy blickte ihn überrascht an, seine Augen weiteten sich. „Wer sind Sie – ich meine, wer sind Sie, Sir?“ Immerhin war er noch nicht weggelaufen. „Mein Name ist Ewan Cunningham“, stellte er sich vor. „Ich war zufällig hier unterwegs, habe eure Gespräch beobachtet und konnte nicht umhin zu bemerken, dass Rowe dich scheinbar in etwas verwickelt hat. Weißt du eigentlich, mit wem du da sprichst?“ Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich weiß nichts, Sir, ich kenne ihn nicht wirklich. Aber es ist alles in Ordnung. Vielen Dank für Ihre Sorge und guten Abend!“ Er vollführte eine leichte Verbeugung und wandte sich dem Ausgang zu. „Warte mal“, setzte Ewan an und ging hinter ihm her. „Thomas, das ist Philip Rowe, ein mächtiger Mann im Hafengeschäft. Ich würde vorschlagen, dass du vorsichtig bist. Was auch immer er dir versprochen hat, es könnte riskant sein. Ich werde das Gefühl nicht los, da steckt mehr dahinter.“

Thomas‘ Stirn verfinsterte sich. „Sagen Sie mir auf der Stelle, woher Sie meinen Namen kennen! Wer sind Sie? Verfolgen Sie mich?“ Ewan zog das Papier aus seiner Manteltasche, das ihn als Reporter der Edinburgh Evening News legitimierte. „Ich bin Journalist“, sagte er und seufzte dann: „Und ich kenne deinen Freund William.“ Der Junge stemmte die Arme in die Seiten und fluchte: „Bill, du taube Nuss! Musst du immer deine Nase in alles stecken!“ „Ich denke, dein Freund hat nur dein Bestes im Sinn. Er hat mich gebeten, der Sache mit den verschwundenen Kindern nachzugehen“, warf Ewan erklärend ein. Thomas war nun stehengeblieben. Er blickte sich um, dann sprach er hastig. „Sir, Sie bringen mich in große Schwierigkeiten! Ich darf mit niemandem darüber sprechen. Bitte drängen Sie mich nicht, ich bin mir sicher…“ Doch Ewan unterbrach ihn. „Junge, nimm doch Vernunft an – das ist kein Spiel! Ich habe recherchiert, in eurem Heim mögen drei Kinder verschwunden sein, aber in der restlichen Stadt sind es mittlerweile zwanzig oder noch mehr! Möchtest du der Nächste sein, von dem es keine Spur mehr gibt?“ Tommy setzte zum Protest an, doch dann ließ er die Schultern hängen. Mit einem Mal war er kein Heranwachsender mehr, sondern nur ein kleiner Junge. „Was soll ich denn tun, Sir“, sagte er kleinlaut. „Sie haben es gehört. Er gibt mir die Chance, genug Geld zu verdienen, um es aus dem Waisenhaus rauszuschaffen. Wo bekomme ich die sonst?“

Als Ewan sich später auf dem Heimweg machte, war er erleichtert. Es hatte seiner ganzen Überzeugungskraft bedurft, aber am Ende hatte Thomas zugestimmt, ihn Ende der Woche am Waisenhaus zu treffen. Doch als er zum vereinbarten Zeitpunkt vor dem großen Portal wartete, erschien der Junge nicht. Nachdem er sich eine gute Stunde in der Kälte herumgedrückt hatte, sprach ein einige Vorbeigehende an, doch sie hatten Tommy seit mehreren Tagen nicht gesehen. Auf dem Weg zur Redaktion war Ewan aufgewühlt. Er nahm die Bettler am Grassmarket nicht wahr, ignorierte die Straßenverkäufer, die ihm in den Weg traten und wäre in seiner Abwesenheit beinahe von einem aus einem Fenster gegossenen Abwassereimer getroffen worden. Als er durch die Tür des pompösen Gebäudes trat, das neben den Edinburgh Evening News auch den Scotsman beherbergte, hatte er eine Entscheidung getroffen.

Kurz vor Redaktionsschluss, mittlerweile stand die Dunkelheit vor den Fenstern, legte er dem Chefredakteur ein Manuskript auf den Tisch. Der nahm es, las. Dann blickte er ihn stirnrunzelnd an. „Wollen Sie wirklich Philip Rowe da mit reinziehen? Was wollen Sie damit erreichen?“, fragte er ihn. Ewan nickte. „Ich will ein paar Dinge in Bewegung bringen.“

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