Der Morgen war kühl und die ersten Sonnenstrahlen tauchten Nimbusheim in ein warmes, goldenes Licht. Zwischen den Zinnen, Türmen und Fahnenmasten verzogen sich die Nebelschwaden und hier und da hing ein kleines Wölkchen noch an einer Regenrinne fest. Eva saß auf dem Dach ihres Hauses, dem Ort, wo sie am besten nachdenken konnte. Die seltsame Karte lag halb aufgefaltet neben ihr. Die Linien aus goldener Tinte schimmerten im Dämmerlicht, als wollten sie sie drängen, sofort aufzubrechen. Doch Graubarts gestrige Warnungen hallten noch in ihrem Kopf nach. „Gefahren, die wir uns beide nicht vorstellen können“, hatte er gesagt. Aber waren es nicht gerade diese Gefahren, die sie reizten? Ein Windstoß ließ ihr Haar aufflattern und sie schob die Karte vorsichtig in ihre Jacke. Nein, sie musste ehrlich zu sich sein: Ihre Entscheidung war längst gefallen. Sie würde die verborgene Insel finden, die auf der Karte verzeichnet war – und mit ihr das Herz des Himmels. „Und vielleicht einen Hinweis darauf, wo ich herkomme?“, blitzte ein leiser Gedanke in ihrem Kopf auf. Doch mit einem hatte ihr Ziehvater Recht gehabt: Allein würde sie die Suche nicht bewältigen können. Sie brauchte Hilfe. Und wenn es in ganz Nimbusheim jemanden gab, der verrückt genug war, sie auf eine solche Reise zu begleiten, dann war es Nora.
Eva fand ihre Freundin in ihrem Wohnturm, der von außen genauso verschroben war wie die Erfinderin selbst. Sie wohnte am nördlichen Rand der Insel, wo die Gebäude nicht wie sonst bis an den steil abfallenden Rand gebaut waren, sondern in kleinen Gruppen beieinanderstanden, dazwischen kleine Felder und ein Wäldchen. Hier gab es auch ein paar Hügel, von denen man eine gute Aussicht auf die Drillinge hatte: Drei kleine Inseln, die im Norden der Hauptstadt schwebten und von denen eine die alte Ruine der Spornburg trug, die zweite den Großen Leuchtturm von Nimbusheim und auf der dritten stand der Tempel, wo die Bewohner der Stadt wöchentlich ihre Gottesdienste abhielten.
Wie ein krummer Pilz stand Noras Turm da. Er war auf den Stamm eines alten Eiche gesetzt und ragte schief in die Luft. Aus zahllosen Schornsteinen rauchte es, es gab nicht ein Fenster, das einem anderen glich und um den Turm herum verstreut lagen Zahnräder, Werkzeuge und unfertige Apparaturen. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte Eva um dieses Hexenhäuschen einen großen Bogen gemacht. Im Inneren sah es genauso wirr aus. Die Räume waren gemütlich eingerichtet, aber vollgestellt mit Kisten, Büchern und unfertigen Apparaturen. Eva betrat die Küche ihrer Freundin, die scheinbar mal wieder mitten in einer Erfindung steckte. Der Esstisch war von Notizen, Plänen, chemischen Versuchsaufbauten und metallenen Einzelteilen bedeckt und irgendwo dazwischen summte ein kleiner mechanischer Kolibri, der versuchte, aus einer Kaffeetasse zu trinken.
„Du willst was?“ Nora sah sie ungläubig an, eine Schutzbrille schief auf der Stirn. Ihre rotbraunen Locken standen wie immer in alle Himmelsrichtungen ab und Eva sah mindestens vier Bleistifte an verschiedenen Stellen aus der Haarpracht ragen. Sie trug eine Latzhose, deren ursprüngliche Farbe vor lauter Getriebeöl nicht mehr zu erkennen war und ihr blaues Schlosserhemd war bereits vielfach ausgebessert worden. „Ich brauche ein Luftschiff,“ erklärte Eva mit Nachdruck. „Und dich.“ Nora schüttelte den Kopf. „Mannomannomann, weißt du eigentlich, wie gefährlich diese Sturmzonen sind? Da draußen gibt es Winde, die selbst Leviathane zerreißen. Und du kommst hier mit nicht mehr als einer Karte und deinen Socken an und erwartest, dass ich dich begleite?“
„Genau,“ sagte Eva und verschränkte die Arme. „Ich dachte, du bist immer auf der Suche nach dem nächsten großen Abenteuer. Und jetzt kommt es und du kneifst?“ Sie wusste genau, wie sie ihre Freundin kriegte. Nora zog ihre Schutzbrille ab, warf sie auf den Tisch und grinste breit. „Hast du ein Glück, Eva. Ich hab‘ da so ein Projekt, an dem ich seit Langem arbeite. Nun wäre es an der Zeit, mal zu testen, ob es überhaupt fliegt. Mir fehlt tatsächlich nur noch der richtige Pilot dafür.“ „Du hast ein Luftschiff?“ „Nicht irgendein Luftschiff. Komm mal mit.“ Nora wies ihr den Weg aus ihrem Turm heraus zu dem daneben liegenden Bootshaus. Hier war Eva noch nie gewesen, ihre Freundin mochte keinen Besuch in ihrer „heiligen Halle“ und das respektierte sie. Umso überraschter war sie, als Nora das Tor aufstieß und mit einer theatralischen Geste sagte: „Darf ich vorstellen: Rex Ventorum! König des Windes!“
Eben wollte sie ihre Freundin für den aufgeblasenen Namen aufziehen, aber als sie das Luftschiff sah, das vor ihnen vertäut lag, verschlug es Eva den Atem. Sein Rumpf war aus dunkelpoliertem Holz, verstärkt mit Streben aus glänzendem Kupfer. Auf der Unterseite zogen sich massive Segel aus verstärktem Leinen, die wie Flossen wirkten, an geschwungenen Streben entlang. Drei Masten ragten in den Himmel, jeder mit einem Satz Segel, die wie riesige Schwingen ausgebreitet werden konnten. Die Takelage war ein Wunderwerk aus Seilen, Zahnrädern und Scharnieren – eindeutig eine Mischung aus traditioneller Schiffsarchitektur und Noras mechanischen Einfällen. Eva trat näher, konnte die filigrane Arbeit in den Schnitzereien erkennen, die sich über das gesamte Schiff zogen – Muster von Wolkenwirbeln, Sternenbildern und Kreaturen der Wolkeninseln. Sie war sprachlos.
„Sieht gut aus, nicht wahr?“ Nora klopfte stolz gegen den Rumpf. „Aber Rex Ventorum ist nicht nur schön. Der Antrieb hier drin ist einzigartig. Ich habe einen Wirbelkern eingebaut, der das Schiff unabhängig von den Strömungen steuern kann. Und die Segel? Vollständig aus Sternenfasern. Die leuchten nicht nur nachts – was ziemlich cool ist – die sind auch sowas von leicht und gleichzeitig reißfest. Ich würde mal sagen, das ist das schnellste Luftschiff, das die Wolkeninseln je gesehen haben.“
Eva streckte die Hand aus. Ihre Fingerspitzen kribbelten, als sie das glatte Holz berührten. „Und du bist sicher, dass es … flugbereit ist?“ Nora kratze sich hinter dem Ohr. „Flugbereit? Nicht ganz. Aber wenn wir uns ranhalten, könnte Rex in ein oder zwei Tagen so weit sein. Du bist doch nicht etwa nervös, oder?“ Eva lachte. „Nervös? Nein. Ich kann’s kaum erwarten.“