Der Rückweg durch die Nachtstadt war eine Qual und die drei Freunde atmeten hörbar auf, als sie die verfallene Brücke erreichten. Ständig hatten sie sich umgesehen und huschende Nachtschemen in den Straßen bemerkt, die sich aus Angst vor ihnen in die Ecken drückten. Eva war vorangegangen, dann Nora, zum Schluss folgten Finn und Leander, der mittlerweile wieder gehen konnte. Mit einem Tuch hatten sie den Adligen geknebelt, da er, sobald er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, erneut mit seinem Sermon von einer besseren Welt anfing. Nach einem schier endlos langen Fußmarsch erreichten sie ihr Luftschiff. „Wir ketten den Verräter am Hauptmast an“, entschied Eva. „Wie du befiehlst, Kapitänin“, lachte Finn. „Noch was?“ „Jawohl“, sagte sie, „Wir drei trinken jetzt eine Flasche Gewittermet. Diese Inseln haben mich völlig verdreht. Für das Abzeichen ist morgen noch genug Zeit.“
Am nächsten Tag ging eine fahle Sonne über der Rex Ventorum auf, Eva sah sie durch das Bullauge ihrer Kajüte. „Nur noch kurz liegenbleiben“, dachte sie, doch ein Schrei veranlasste sie zum schlagartigen Verlassen ihres Bettes. „Er ist weg!“, hörte sie Nora kreischen und wusste genau, wen sie meinte. Die Ketten, mit denen sie Leander gefesselt hatten, lagen verlassen auf dem Deck. Nora untersuchte gerade die Schlösser, als Eva zu ihr trat. „Der Schweinehund hat sie mit Säure aufgeätzt“, rief sie erstaunt. „Welcher Mensch hat denn bitte Säure dabei?“ „Ein gefährlicher Mensch“, gab Eva zurück. Sie kratzte sich am Kopf. „Hört mal“, sagte sie dann zu Nora und Finn, der zu ihnen gestoßen war. „Ich muss mich bei euch entschuldigen. Ich habe entschieden, dass Leander mit uns reist. Das war ein großer Fehler.“ „Wer hätte das ahnen können“, sagte Finn. „Und so nutzlos war er nicht: Er hat uns in Trübsen geholfen.“ „Stimmt“, räumte Eva ein. „Trotzdem habe ich uns in große Gefahr gebracht. Ab jetzt müssen wir besonders vorsichtig sein. Ich habe das Gefühl, wir kommen dem Herz immer näher.“ Sie zog das Lederetui heraus, das sie die ganze Nacht eng am Körper getragen hatte. „Wollen wir uns jetzt den Fund von gestern anschauen? Ich will ehrlich gesagt einfach so schnell es geht weg von diesem Ort.“
Das Futteral lag ausgebreitet auf dem Tisch im Steuerhaus, als die drei sich darüber beugten. „Das ist ein Pilotenabzeichen“, erklärte Eva, die nun im Licht die typische Gestaltung eindeutig erkannte. „Aber diesen speziellen Orden kenne ich nicht.“ Sie stutzte. „Nora, hast du deine Lupe dabei?“ Ihre Freundin griff in ihre Tasche und gab ihr den gewünschten Gegenstand. Mit dem Glas vor dem Auge näherte sich Eva so weit dem Abzeichen, dass ihre Nase fast das Metall berührte. Dann stieß sie hörbar den Atem aus. „Das … ist doch das Muster!“ Auch ihre Freunde stimmten ihr zu: Es war das Muster auf der Rückseite der Karte, dass da fein in das Abzeichens eingraviert war. Die Lupe immer noch in der Hand, drehte Eva die Nadel um. Eine kleine Vertiefung fiel ihr auf und ihr Herz schlug schneller. „Hier steht etwas“, rief sie erstaunt, „aber es ist kaum lesbar. Könnt ihr mal schauen?“ Finns Augen erwiesen sich als die besten. „Das sind Koordinaten“, sagte er.
„Wie weit müssen wir denn noch steigen?“ Noras Gesicht war ganz bleich. „Ein bisschen spät für Flugangst, oder?“, neckte Eva, doch ihre Freundin schüttelte den Kopf. „Ich mag es nur nicht, wenn die Luft so dünn wird. Dann fühle ich mich immer komisch.“ „Wie weit noch?“, rief Eva in Finns Richtung. Der Navigator stand an der Reling und navigierte sie seit einigen Minuten akustisch, da sie gerade eine dichte Dunstschicht passierten. Als Antwort ertönte ein langer Pfiff und drei kurze hintereinander: Land voraus. „Nur noch ein bisschen durchhalten“, sagte Eva und klopfte ihrer Freundin auf die Schulter. „Wir sind gleich da.“
Noch eine Nebelbank, dann öffnete sich der Schleier gleich einem Theatervorhang und enthüllte vor der Rex Ventorum eine Insel, die die drei Freunde noch nie gesehen hatten. Sie war nicht sonderlich groß, wirkte aber wie ein Stück Paradies, das jemand aus einer anderen Welt hierher versetzt hatte. Dichte, sattgrüne Wälder erstreckten sich über die hügelige Landschaft und schienen vor Leben zu pulsieren. Von oben waren bunte Flecken zu erkennen – Blüten in leuchtendem Gelb, tiefem Rot und strahlendem Blau, die selbst aus dieser Entfernung ihre exotische Pracht zur Schau stellten. Über allem erhob sich in der Mitte der Insel ein Gebirge, die Gipfel von Schnee bedeckt. Von den Rändern der Insel stürzten Bäche in Strömen herab, in denen türkisfarbenes Wasser floss, das im Sonnenlicht wie flüssiges Glas glitzerte. Doch zwischen all der Schönheit gab es auch etwas Unnahbares. Dunkle, moosbewachsene Felsklippen ragten an manchen Stellen steil aus dem Wald empor und die Baumkronen schienen sich manchmal seltsam zu wiegen – als ob ein Wind sie bewegte, den die Freunde auf dem Schiff nicht spüren konnten.
„Sieht ja harmlos aus“, meinte Finn trocken, während er sein Miniatur-Fernglas aus dem Auge nahm und in die Manteltasche steckte. „Harmlos? Ich sehe da vor allem Schnee und Eis“, erwiderte Nora und deutete auf den weißen Gipfel. „Und dazu ein Urwald, wahrscheinlich voller Tiere, die uns alle töten wollen. Warum bin ich nicht überrascht, dass uns sowas erwartet?“ Eva ignorierte die Kommentare ihrer Begleiter und konzentrierte sich auf die Instrumente vor ihr. Der Wind hatte spürbar nachgelassen, und die Rex Ventorum glitt fast lautlos durch die Luft, als würden sie von einer unsichtbaren Hand getragen. Plötzlich durchzuckte sie die Erkenntnis. „Windstill? Hier oben?“, murmelte sie verdutzt und warf einen kurzen Blick auf den Höhenmesser. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Diese Ruhe fühlte sich sehr verdächtig an.
„Eva?“, fragte Finn, der ihre angespannte Haltung bemerkte. „Etwas stimmt nicht“, sagte sie, mehr zu sich selbst. Gerade als sie die Worte ausgesprochen hatte, begann die Rex plötzlich zu ruckeln. Ein Zittern lief durch das Schiff, das stärker wurde, bis der ganze Rumpf vibrierte. „Was zur Hölle?“ rief Nora und klammerte sich an die nächste Strebe. Dann durchfuhr ein heftiger Ruck ihr Gefährt. „Haltet euch fest!“, schrie Eva, zog sich mit einer Hand den Strumpf vom Fuß und schaltete mit der anderen den Autopiloten aus. Die Instrumente spielten verrückt, die Anzeigen sprangen chaotisch hin und her und das Steuer begann, sich ihrem Griff zu widersetzen. Ein eigenartiger, durchdringender Ton erfüllte die Luft – wie ein Summen, das von allen Seiten zu kommen schien.
„Ein Sturm?“, rief Nora gegen das immer lauter werdende Dröhnen an. „Das ist kein Sturm!“ Finns Stimme zitterte und zum ersten Mal schien der Navigator sich seiner Sache nicht mehr sicher. Eva wusste, dass sie jetzt keine Zeit für Panik hatte. Sie war Pilotin. Und die Rex war ihr Schiff. „Was machst du?“, schrie Nora, als Eva plötzlich die Augen schloss.
Doch Eva antwortete nicht. Ihr Atem wurde ruhiger, während sie die Kontrollen nur noch mit leichtem Druck hielt. Sie hörte auf, gegen die unsichtbare Kraft anzukämpfen, die das Schiff hin und her warf. Stattdessen konzentrierte sie sich auf das Gefühl in ihrer Brust – und da war er, der zarte, goldene Faden, der sie vor ihrem inneren Auge leitete. Links und rechts davon zeigten sich wirbelnde Turbulenzen, schimmernde Strudel und tanzende Wirbel, an denen sie vorbei musste. Und wie als hätte sie nie etwas anderes getan, steuerte sie das Schiff in unmögliche Manöver: Steil aufwärts, dann in Serpentinen abwärts, im Zickzack schräg nach unten und einmal flogen sie sogar rückwärts. Stets gab der goldene Faden Eva den Weg vor und sie brauchte ihm nur zu folgen.
Schließlich wurde das Summen leiser, das Zittern des Schiffs schwächer. Eva öffnete die Augen wieder und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Da vorne!“, rief sie und lenkte das Schiff mit einem sanften Ruck nach links. Vor ihnen öffnete sich ein schmaler Spalt zwischen zwei wuchtigen Wolkenwänden, die wie massive Torbögen wirkten. Dahinter lag eine geschützte Bucht mit einem perfekten Landeplatz – ein Streifen glatter Fels, der wie geschaffen für die Rex wirkte.
Als das Schiff sanft auf Grund lief, atmete Nora tief aus und stützte sich mit den Händen auf die Knie. „Ich weiß nicht, was das gerade war, aber ich möchte gern nie wieder so einen Anflug erleben müssen.“ Finn grinste schwach. „Ich auch. Aber das war beeindruckend, Eva. Wirklich.“