17. Dezember | Spiel der Schatten

Die Brücke nach Dämmerkliff lag in gespenstischer Stille vor ihnen. Der Wind hatte sich gelegt und schien den Atem anzuhalten, als Eva, Finn, Nora und Leander vorsichtig die ersten Schritte auf das halb verfallene Bauwerk setzten. Unter ihnen verhüllte der Nebel einen bodenloser Abgrund, aus dem hin und wieder ein leises Wispern emporstieg. „Ich mag das nicht“, murmelte Nora und zog ihren Mantel enger um sich. „Es ist zu still.“ „Würde es dir besser gefallen, wenn du was hören könntest?“, entgegnete Eva, die Stimme angespannt.

Als sie das Ende der Brücke erreichten, lag die Nachtstadt vor ihnen – eine verfallene, aber erhabene Silhouette aus Türmen, Kuppeln und schmalen Gassen, die sich wie ein labyrinthartiges Netz über die sichelförmige Insel zog. Der Eingang war von zwei steinernen Säulenstümpfen flankiert, auf denen Schriftzeichen prangten. Jetzt hatte sie der Zahn der Zeit unleserlich gemacht. „Hier war einst das Eingangstor“, erklärte Leander, der sich scheinbar bemüßigt fühlte, den Reiseführer zu geben. „Wir sind nun offiziell in der Nachtstadt. Wenn ich mich erkundigen darf – was ist denn das Ziel eurer Reise?“ Diese Frage hatte er ihnen in den letzten Tagen häufiger gestellt und jedes Mal war es Eva gelungen, sie geschickt zu umgehen. Nun musste sie Farbe bekennen. Der Adlige hatte sich als nützlicher Reisegefährte erwiesen und auch wenn er ihr immer noch nicht ganz geheuer war, musste sie ihm vertrauen. Sie waren in diesen Ruinen auf seine Hilfe mehr denn je angewiesen. „Du weißt ja sowieso, dass wir ein Orbis Arcanum haben“, antwortete sie und bereute es im nächsten Moment, da sie ein Leuchten in Leanders Augen bemerkte. „Wir haben einen Hinweis: ‚Per aspera ad astra‘ und suchen nach einem sehr alten Ort oder einem, der eine besondere Bedeutung für die Stadt hat.“ „Da muss ich nicht lange überlegen“, sagte er, „das muss die historischen Wetterwarte des Meteorologischen Instituts sein. Sie ist gleichzeitig die älteste Einrichtung dieser Art auf den ganzen Wolkeninseln und der Ort, von dem die Katastrophe ausging, die die Nachtstadt zerstörte.“ Eva nickte. „Kannst du uns dorthin bringen?“ Der Adlige machte einen angedeuteten Kratzfuß. „Es wäre mir eine Freude.“

Die Straßen waren von einem spiegelnden Pflaster bedeckt, das selbst im Verfall den Eindruck erweckte, es könne einst das Licht der Sterne reflektiert haben. Doch heute war es von Moos und einer dünnen Staubschicht überzogen. Die Gebäude zu beiden Seiten der Straße ragten schief in die Höhe, ihre Fassaden mit filigranen Verzierungen geschmückt, die von einer einstigen Hochkultur zeugten. Viele der Mauern waren eingestürzt und durch die zerborstenen Fenster konnte man Reste von Möbeln und verwitterten Wandteppichen erkennen. Eine breite Allee führte in Richtung des zentralen Platzes, der von einem gigantischen Turm dominiert wurde. Sein oberes Drittel war abgebrochen, aber selbst in seiner Unvollständigkeit war er noch imposant. „Der Große Turm“, murmelte Eva, als sie ihn erblickte. „Dort war die Bibliothek, nicht wahr?“ Leander nickte, seine Augen auf die Überreste des Bauwerks gerichtet. „Ein Ort großen Wissens. Heute natürlich nur noch ein Schatten der einstigen Größe.“

Als sie näher an den zentralen Platz herankamen, wurde die bedrückende Stille von einem merkwürdigen Echo durchbrochen. Es war, als ob ihre Schritte von unsichtbaren Wänden zurückgeworfen wurden, doch da war niemand außer ihnen. Eva spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten und sie blickte nervös über die Schulter. „Es fühlt sich an, als würde uns etwas beobachten“, flüsterte Nora und hielt ihre Werkzeugtasche fest umklammert. Finn ließ seinen Blick schweifen, seine Hand nahe am Griff des Matrosenmessers, das er nun offen an seinem Gürtel trug. „Nur der Wind“, sagte er leise, doch seine Augen blieben wachsam. Leander ging an der Spitze, scheinbar unbeeindruckt von der unheimlichen Umgebung. Er schien genau zu wissen, wohin sie gingen, und führte die Gruppe durch die schmale Gasse, die vom Hauptplatz wegführte. „Die Wetterwarte liegt etwas außerhalb des Stadtzentrums“, erklärte er über die Schulter hinweg. „Die alten Meteorologen brauchten einen Ort mit ungehindertem Zugang zu den Himmelsströmungen.“

Die Gasse mündete in einen weiteren Platz, kleiner, aber ebenso verlassen. In der Mitte stand ein halb zerfallener Brunnen, aus dessen Boden Ranken wuchsen, die wie lange, düstere Finger wirkten. Auf der anderen Seite erhob sich das Gebäude, das Leander als die Wetterwarte bezeichnete: ein flaches Bauwerk mit einer hohen, gläsernen Kuppel, von der die meisten Scheiben zerbrochen waren. An den Wänden waren verblasste Mosaike zu erkennen, die Szenen von wirbelnden Wolken und tosenden Winden darstellten. „Das ist sie“, sagte Leander, seine Stimme fast ehrfürchtig. Eva blieb einen Moment stehen und betrachtete das Bauwerk. Es war beeindruckend, aber auch bedrückend. Sie konnte nicht sagen, ob es die Architektur selbst oder die Geschichte, die damit verbunden war, doch etwas daran machte ihr Angst. „Also, wie kommen wir rein?“, fragte Finn, seine Stimme durch die Kälte des Platzes gedämpft. Leander warf ihm ein Lächeln zu. „Es sollte eine offene Seitentür geben. Die alten Forscher legten mehr Wert auf Funktionalität als auf Sicherheit.“

Sie fanden die besagte Tür nach kurzer Suche. Sie war leicht verzogen und ließ sich mit vereinten Kräften öffnen. Drinnen empfing sie ein Labyrinth aus Regalen, verstaubten Apparaturen und alten, vergilbten Karten. In der Mitte des Raumes stand ein massives Gerät – die Sternenuhr, das Herzstück der Wetterwarte. „Das ist das Zentrum der alten Forschung“, erklärte Leander. Er trat vor und strich mit einer Hand über die filigranen Gravuren des Geräts. „Mit diesem Apparat kontrollierten sie die Winde, analysierten Wetterphänomene und kartierten die Himmelsströme.“ „Aber warum ist das alles noch hier?“, fragte Nora. „Wenn die Stadt verlassen wurde, warum hat niemand dieses Zeug mitgenommen?“ Leander zuckte mit den Schultern. „Vielleicht war es zu groß, zu unhandlich. Oder vielleicht wird es noch gebraucht.“ Ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht, doch Eva bemerkte, wie er bei seinen eigenen Worten einen Moment lang innehielt. Finn stutzte, bückte sich und hob etwas vom Boden auf. Es war eine Landkarte. „Das hier… das sieht aus wie eine relativ aktuelle Karte der Himmelsinseln“, sagte er erstaunt. Seine Augen verengten sich, und er warf Leander einen misstrauischen Blick zu. „Was meinst du mit: ‚Es wird noch gebraucht‘?“

Bevor der Adlige antworten konnte, ertönte ein seltsames Geräusch von der anderen Seite des Raumes – ein leises, schabendes Kratzen, das die Gruppe innehalten ließ. Eva griff instinktiv nach ihrem Strumpf und selbst Leander schien kurz die Fassung zu verlieren. „Nachtschemen“, flüsterte er und zog sein Schwert. „Ich hoffe, ihr wisst, wie man still bleibt.“

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