Es war kein Problem, ins Observatorium zu gelangen. Am Eingang wartete nur eine stumme Spendenbox auf Besucher, von denen sich außer den Freunden nur ein älteres Ehepaar in den großen Raum verirrt hatte.
Der Mangel an Touristen war völlig ungerechtfertigt, denn das Observatorium war atemberaubend schön. Eine gewaltige Kuppel überspannte den Saal und zeigte ein leuchtendes Sternenmeer, das so lebendig wirkte, als stünde man selbst unter dem freien Nachthimmel. An den Wänden standen schmale Vitrinen, darin antike Instrumente, riesigen Messingzirkel, Himmelsgloben und Mechaniken mit Zahnrädern, die sanft klickten. Nora und Eva blieben einen Moment lang sprachlos stehen. Selbst Finn, der mit glasigen Augen hinter ihnen hereingetorkelt war, ließ einen bewundernden Laut hören. „So … viele … Sterne“, murmelte er und deutete mit der Hand fahrig nach oben, bevor er sich auf eine Bank fallen ließ.
„Ich glaube, der wird uns keine große Hilfe sein“, bemerkte Nora trocken und ließ ihren Blick durch das Observatorium schweifen. Sie schob sich die Brille auf die Nase und trat auf den Tisch in der Mitte des Raumes zu, auf dem ein seltsames Gerät thronte: eine bronzene Konstruktion mit drehbaren Ringen, eingravierten Symbolen und winzigen Einsätzen aus gläsernen Prismen. „Das sieht ja fast aus wie unser Orbis, nur in Groß!“, stieß sie überrascht aus.
Gemeinsam warteten sie, bis die anderen Besucher den Raum verlassen hatten. Dann zog Eva das Orbis Arcanum hervor und legte es vorsichtig auf den Tisch. Es glänzte im Licht der künstlichen Sterne und die Linse in seiner Mitte funkelte. „Es passt perfekt“, meinte sie, während sie das Gerät in die leere Fassung in der Mitte der großen Kreise einsetzte. Da erfüllte plötzlich ein leises Summen den Raum. Die Ringe des Orbis – des großen wie des kleinen – begannen sich zu drehen, zunächst langsam, dann immer schneller, bis die Gravuren vom reflektierten Licht dauerhaft glühten. Die Mädchen hielten den Atem an, als ein Lichtstrahl aus dem Zentrum des Geräts nach oben schoss und die Kuppeldecke traf.
Das Himmelzelt über ihnen veränderte sich. Wie von Zauberhand formte sich eine neue Konstellation und dazwischen fiel ein goldener Lichtstrahl gleich einem Pfad durch die Lüfte. Entlang der Linie prangten in goldenen Lettern die Worte „Per aspera ad astra“. „Das ist sie! Die Route zur Nachtstadt!“, rief Eva aufgeregt. „Aber“, sie stockte, „das ist ja eine Sternenkarte. Weißt du, wie man sowas liest?“ „Ich nicht“, sagte Nora, „aber ich kenne da jemanden.“ Als sie sich zu dem Navigator umdrehten, sahen sie, dass dieser mittlerweile schnarchend auf der Bank zusammengesunken war. „Na da“, meinte Eva und zuckte mit den Schultern. „Wir sollten ihn wohl erstmal ausnüchtern lassen.“
Ein sanfter Morgennebel hing über der Windfeste. Eva stand an Deck ihres Schiffes und ließ ihren Blick über die tausend Türme schweifen. Gern würde sie hier noch ein paar Tage verbringen – aber gleichzeitig war sie voller Spannung auf das, was am Ende ihrer Reise lag. Vielleicht fürchte ich mich auch ein wenig vor der Nachtstadt, gestand sie sich im Stillen ein – aber umso schneller sollten wir aufbrechen. Ein Husten kündigte Finn an, der hinter ihr auf das Deck getreten war. „Fühlst du dich besser?“, fragte sie ihren Navigator. „Geht“, gab er gewohnt wortkarg zurück. „Also die verquatschte Version von dir hat mir ganz gut gefallen“, neckte sie ihn und ein Grinsen huschte über sein Gesicht. „Verdammte Sturmtropfen…“
Nora gesellte sich zu den beiden. Sie war sehr früh aufgestanden, um die Segel auf Schadstellen zu überprüfen und das Loch in der Reling zu reparieren, dass sie sich bei der Verfolgungsjagd mit den Piraten zugezogen hatten. „Alles wieder in Ordnung“, verkündete sie und knöpfte sich das Nadelkissen ab, dass sie am Handgelenk trug. „Super, dann sind wir startklar“, sagte Eva und fischte ein Stück Bindfaden aus den Locken ihrer Freundin. „Du siehst schon wieder aus wie ein verrückter Professor!“ Nora lachte: „Das muss so!“
Die Hafenpromenade der Windfeste war an diesem Morgen in dichten Nebel gehüllt, der wie ein schwerer Schleier in der Luft hing. Nur das Schlagen von Tauen gegen Masten und das entfernte Rufen von Hafenarbeitern durchbrachen die Stille. Eva stand am Steuerrad und rief hinunter: „Sind die Taue los? Nora?“ „Ja, alles klar!“, kam die Antwort von unten, wo die Erfinderin gerade den letzten Knoten löste. Finn stand vorn am Bug und warf einen prüfenden Blick in den dunstigen Himmel. Alles war bereit für den Aufbruch.
Doch noch bevor sie die Segel setzen konnten, hallte eine fremde Stimme über die Promenade. „Wartet! Ihr könnt nicht ohne mich losfliegen!“ Eva blickte irritiert über die Reling. Aus dem Nebel trat ein Mann hervor, der allein durch seine extravagante Erscheinung auffiel: Er trug einen abgewetzten, dunkelblauen Mantel, einen breiten Degen an der Hüfte und einen Hut mit abgeknickter Feder. Trotz seines leicht verwahrlosten Äußeren strahlte er eine seltsame Selbstsicherheit aus, die sie sofort misstrauisch machte.
„Tut mir leid, aber wir nehmen keine Passagiere mit“, rief Eva ihm entgegen. Der Mann blieb stehen, verbeugte sich leicht und zog seinen Hut. „Leander vom Sternenfels, zu euren Diensten. Und ich bin sicher, ihr werdet eure Meinung ändern, wenn ihr hört, was ich euch zu bieten habe.“ Nora stieg die Planke hoch und stellte sich neben Eva. „Das klingt ja vielversprechend“, sagte sie trocken. „Was genau wollen Sie von uns?“ „Ich will euch nicht aufhalten, sondern begleiten“, erklärte er mit einem charmanten Lächeln. „Euer Ziel ist die Nachtstadt, nicht wahr?“
Die Crew erstarrte. „Woher wissen Sie das?“, fragte Eva. Der Mann zuckte die Schultern, als wäre es das Offensichtlichste der Welt. „Nun, Gerüchte verbreiten sich auf der Windfeste ‚wie der Wind‘, möchte ich sagen“ – er lachte – „besonders, wenn jemand ein Orbis Arcanum bei sich trägt.“ Eva stieß hörbar die Luft aus und warf Finn einen wütenden Blick zu. Das hatten sie nun von seiner Unvorsichtigkeit! „Aber keine Sorge, ich bin diskret“, beeilte sich der Fremde zu sagen. „Und außerdem…“ – er machte eine bedeutungsvolle Pause – „ich war bereits dort.“
„In der Nachtstadt?“ Nun trat auch Finn an die Reling und stützte sich mit verschränkten Armen darauf. „Das glaubt Ihnen doch niemand“ „Genau“, pflichtete Nora ihm bei, „was hätte denn ein feiner Herr wie Sie dort verloren?“ „Das ist die Wahrheit“, antwortete Leander mit einem gekränkten Gesichtsausdruck. „Ich bin ein Reisender und schon viel auf den Wolkeninseln herumgekommen. Und ich könnte euch den Weg weisen – vorausgesetzt, ihr nehmt mich mit.“ „Vergessen Sie es“, knurrte Eva. „Wir brauchen niemanden, der uns ungefragt verfolgt und Geschichten erzählt.“
„Vielleicht doch“, hörte sie da Finn sagen und die Stimme ihres Freundes klang nachdenklich. Alle Augen wandten sich ihm zu. „Wenn er wirklich dort war, könnte er uns nützlich sein. Und wenn nicht, dann… nun ja, dann werden wir schnell erkennen, wenn er lügt.“ Nora schnaubte: „Ja, du hast gut reden – du hast uns das Ganze doch überhaupt eingebrockt!“ Doch Leander hob beschwichtigend die Hände. „Ich versichere euch, ich lüge nicht. Und ich werde euch nicht enttäuschen.“ Eva zögerte. In ihrem Inneren schrillten alle Alarmglocken und drängten sie, diesen Mann abzuweisen – doch gleichzeitig war sie neugierig, was er tatsächlich von der Nachtstadt wusste. Schließlich nickte sie nur. „In Ordnung. Aber nur unter einer Bedingung: Du hältst dich an unsere Regeln. Und wenn du uns belügst oder Probleme machst, bleibst du in der Nachtstadt. Verstanden?“ Leander grinste und verneigte sich. „Aber natürlich, Kapitänin.“
Als er die Planken hinaufstieg, flüsterte Nora leise: „Ich hoffe, dass wir das nicht bereuen.“ Eva beobachtete Leander, wie er sich selbstgefällig an Bord umsah und stimmte ihrer Freundin im Stillen zu. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrer Brust breit.