Ewan
Ein schneidender Winterwind riss an seinem Mantel, als er durch die Princes Street Gardens hastete und eilig die Stufen zum Scott Monument erklomm. Ewan kam gern hierher – jedoch eher nicht bei diesem Wetter und in der Dunkelheit. Das Denkmal war erst vor einigen Jahrzehnten fertig gestellt worden, in Erinnerung an den großen schottischen Dichter Sir Walter Scott. Auch wenn er dessen Werke verschlungen hatte, dachte Ewan beim Anblick des spitzen Turms vor allem an die am Bau beteiligten Steinmetze. Jene, die an den zahlreichen Statuen und Verzierungen gearbeitet hatten, waren in den Jahren nach der Fertigstellung an der Staublunge eingegangen. Der Scotsman hatte getitelt, das Monument habe dreiundzwanzig der besten Edinburgher Steinmetze das Leben gekostet. Auch das Denkmal des Literaten selbst regte ihn bei seinen regelmäßigen Besuchen zum Nachdenken an. Scott thronte mit wehmütiger Miene auf dem Sockel, ein Manuskript auf dem Schoß und neben ihm blickte sein treuer Hund Maida zu ihm auf.
An der Statue blieb er stehen und blickte hinüber zur Altstadt, wo ein Meer tausender erleuchteter Fenster matt durch die Dunkelheit hinüber blinkte. Da löste sich ein Schatten von einer der Säulen und trat auf ihn zu. Es war eine Gestalt im schwarzen Mantel, Gesicht und Kopf verhüllt von einer schwarzen Kapuze. Diese Halunken dachten wohl, sie könnten ihn ein drittes Mal reinlegen – doch heute war er besser vorbereitet. Mit einer plötzlichen Bewegung riss Ewan den Spazierstock, den er bei der Ankunft hinter dem Rücken verborgen hatte, nach oben und versetzte der Gestalt einen heftigen Hieb mit dem Griff. Zu seinem Erstaunen ertönte kein Schmerzensschrei, sondern eine sehr bekannte Stimme.
„Zum Teufel, sind Sie wahnsinnig geworden?“ Josephine zog die Kapuze vom Kopf und rieb die Stelle an ihrer Schulter, an der er sie getroffen hatte. Völlig perplex ließ Ewan den Stock sinken. „Ich … wollte nicht … entschuldigen Sie…“, stammelte er, doch da hatte die Frau sich schon nach vorn gelehnt und ihn rabiat mit der Faust in die Brust geknufft. „Gefällt Ihnen das vielleicht? Ich weiß ja, dass Sie mich nicht leiden können, aber Sie müssen ja nicht gleich gewalttätig werden!“ Nun war es Ewan, aus dem die Empörung sprach. „Na, hören Sie mal! Ich werde Sie doch nicht absichtlich schlagen – aber woher hätte ich denn wissen sollen, dass das Schreiben von Ihnen stammt, wenn Sie es nicht unterschreiben!“ „Und wie hätte ich signieren sollen? Mit meinem wirklichen Namen? Ich ziehe es vor, das diesen so wenige Menschen wie möglich kennen.“ „Nun gut“, gab Ewan zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, „es tut mir leid, dass ich Sie geknufft habe. Aber vielleicht verstehen Sie, dass ich nach zwei Überfällen auf meine Person vorsichtig geworden bin.“
Josephine winkte ab. „Ja, schon vergessen“, sagte sie, „aber ich habe nicht vor, ewig in dieser Kälte herumzustehen, deshalb kommen wir besser gleich zur Sache. Ich brauche Ihre Hilfe.“ „Dieser Satz kommt mir bekannt vor“, antwortete Ewan trotzig und wich aus, als Josephine wieder mit der Faust ausholte, um ihn zu knuffen. „Jetzt ist nicht die Zeit, um nachtragend zu sein!“, fuhr sie ihn an. „Man hat mich gefesselt und hätte wer weiß was noch getan, wenn ich nicht entkommen wäre. Doch nun ist William verschwunden…“ „William?“ Ewan horchte auf. „Ja, ein Junge aus einem Waisenhaus am Grassmarket. Sie forschen doch an dieser Waisen-Sache…“ „William ist verschwunden?“, rief er. „Erzählen Sie!“ „Woher kennen Sie…?“ Beide schauten sich perplex an und nach wenigen Sekunden Stille fing Ewan an zu lachen. „Ach, treuer William! Wenn einer Diener zweier Herren sein kann, dann du!“
Wenig später waren sie beide auf dem Stand des anderen. Ewan präsentierte den Zettel, auf dem er die Worte „Nihil Sine Causa“ notiert hatte und Josephine informierte ihn über alles, was sie über den Concordia Club wusste. Beide erzählten einander von ihren Begegnungen mit skrupellosen Handlagern, Schlägern und Entführern. Als Ewan von dem versuchten Mord an ihm berichtete, packte Josephine ihn fassungslos am Arm. Wäre das Thema nicht so ernst, hätte er sich insgeheim amüsiert, wie diese sonst so eiskalte Frau nun entrüstet vor ihm stand.
„Wir haben wohl in ein Wespennest gestochen – beide auf unsere Weise“, sagte sie, als er geendet hatte. „Ich denke, dann bleibt mir nichts anderes übrig, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Hoffentlich werde ich das nicht eines Tages bereuen, wenn Sie Ihrer Antipathie gegenüber mir nachgeben.“ „Miss Fairchild“, gab Ewan zurück, „inzwischen bin ich selbst viel zu weit in diese Sache eingetaucht, um mich von unseren bisherigen Differenzen leiten zu lassen. Lassen sie uns doch einfach Frieden schließen, bis wir Licht in diese Sache gebracht haben.“ Josephine studierte sein Gesicht prüfend, dann nickte sie und zog ein schwarzes Heft aus einer Innentasche ihres Mantels. „Können Sie etwas damit anfangen?“, fragte sie und gab es ihm. „Ich habe es aus dem geheimen Raum des Clubs, aber verstehe nicht, was es damit auf sich haben könnte.“
Es war schwer, im eisigen Wind und mit behandschuhten Händen die dünnen Seiten des Notizbuchs umzublättern. Ewan klemmte seinen Spazierstock unter den Arm und blätterte durch die Listen. Plötzlich blickte er Josephine an und die Erkenntnis leuchtete aus seinen Augen. „Wenn es einen Schlüssel zu diesem Mysterium gibt“, sagte er, „dann haben Sie ihn hiermit gefunden.“