Josephine
„Einmal nach New Town“, bat sie und der Kutscher nickte. Er warf den Kratzer, mit dem er eben noch die Hufe seiner Tiere bearbeitet hatte, in den Schnee und schlug den Kragen seines gewachsten Mantels hoch. Dann öffnete er ihr den Verschlag, um sie einsteigen zu lassen. „Feicfidh me ar ball thú!“, rief er seinen Kollegen am Kutschenstand zu, ein „Slán leat“ schallte zurück. „Es würde sich lohnen, Irisch zu lernen“, dachte Josephine, als sie auf den Polstern Platz nahm – bei der Menge an Einwanderern, die mittlerweile hier lebten und sicher den Großteil ihrer Geheimnisse in dieser unaussprechlichen Sprache äußerten. Aber das musste sie sich für später vornehmen, momentan hatte sie andere Ziele.
Ihr Spinnennetz hatte ihr an diesem Morgen einen neuen Fang präsentiert. Von einem Hausmädchen erreichte sie die Nachricht, dass mehrere hochrangige Gäste in das Haus ihres Arbeitgebers zum Tee eingeladen waren, ob sie nicht als Kellnerin dazu kommen wolle? An einem Nachmittag, den sie schürzen- und tabletttragend verbringen würde, hatte sie kein Interesse, aber dafür vielmehr an der Information, dass sich unter den geladenen Gästen auch Sir Richard Douglas befand. Die Gelegenheit war günstig – das musste sie für weitere Recherchen nutzen.
An der Tür der Douglas-Villa stellte sie sich wieder als Evelyn Saunders vor. Der Butler, der sie beim letzten Mal eingelassen hatte, genoss aufgrund der Abwesenheit seines Herren einen freien Nachmittag und so musste sie ihr Anliegen einer ältlichen Hauswirtschafterin erklären. Diese kam scheinbar gerade aus der Küche, denn die Ärmel ihrer Bluse waren hochgeschlagen und sie trug eine fleckige Schürze. Die Frau wirkte unsicher und diesen Umstand machte sich Josephine zunutze. „Entschuldigen Sie bitte die Störung, Madame“, sagte sie und die unangemessen höfliche Anrede schmeichelte der Köchin sichtlich. „Ich war jüngst auf einer Abendgesellschaft hier und Sir Richard hat uns ein wenig durch die Räumlichkeiten im Erdgeschoss geführt. Dabei muss ich einen meiner Ohrringe verloren haben, denn auf der Rückfahrt vermisste ich ihn. Haben Sie zufällig solchen Schmuck mit einem Saphir gefunden?“ Sie deutete auf ihr Ohr, an dem ein einsamer Ring mit einem prachtvollen blauen Stein schaukelte. Natürlich lautete die Antwort „Nein“, denn das Gegenstück befand sich sicher in einem Geheimfach ihrer Handtasche und wartete darauf, im richtigen Moment als „glücklicher Fund“ präsentiert werden zu können. Die Köchin schüttelte den Kopf. „Ist denn noch jemand vom Personal hier, den ich fragen könnte?“ Wieder ein Kopfschütteln. Sehr gut – das hieß, sie waren tatsächlich allein. „Madame, wäre es sehr vermessen, wenn ich selbst einmal nachsehe? Wissen Sie, der Schmuck ist ein Geschenk meines Mannes. Er wird schnell eifersüchtig und wenn er bemerkt, dass mir ein Ohrring fehlt, dann könnte er denken …“ Ohne viel mehr sagen zu müssen, wurde sie eingelassen und nach ein paar kurzen erklärenden Worten, welcher Raum sich wo befand, verschwand die Köchin wieder in ihrem Domizil.
Um keinen Verdacht zu erregen, ging Josephine zuerst in den großen Saal, in dem die Abendgesellschaft stattgefunden hatte. Die Stühle und Tische waren heute zu einer langen Tafel zusammengeschoben und es lag schon Tischwäsche für ein Abendessen mit vielen Gästen bereit. Sie inspizierte das Zimmer sorgfältig, aber wie sie schon vermutet hatte, würde an solch einem vielfrequentierten Ort niemand riskieren, dass ein Gast bei einem unbeabsichtigten Druck auf ein Wandpaneel ein Geheimfach enthüllen könnte. Im Flur wandte sich Josephine direkt der Bibliothek zu, nachdem sie sich des eifrigen Klapperns von Töpfen in der Küche versichert hatte.
Der Raum mit seinen hohen Regalen lag verlassen vor ihr. Staub tanzte im matten Winterlicht, das durch die hohen Fenster hereinfiel und die ganze Bibliothek war in den Duft alter Bücher gehüllt, diese Mischung aus gegerbtem Leder und vergilbtem Papier. Das Geheimzimmer des Clubs hatte sie ja bereits einer ersten Prüfung unterzogen, daher war der Schreibtisch ihr vorrangiges Ziel. Die darauf liegenden Unterlagen waren belanglos und in den Schubladen befand sich ebenfalls nichts von Wert. Kurz schlug Josephines Herz schneller, als sie unter der Tischplatte ein Geheimfach entdeckte – doch darin befanden sich nur verblasste Fotografien einer Frau, die sie nicht erkannte. Sorgfältig legte sie alles zurück, wie sie es vorgefunden hatte und wandte sich dann der versteckten Tür zu.
Bevor sie den Gang betrat, zog sie das falsche Regal hinter sich zu – falls die Köchin doch nachsehen kam, gewann sie so etwas Zeit. Nun musste sie sich beeilen. Voll konzentriert steuerte Josephine die Bereiche des Zimmers an, die sie bei ihrem ersten Aufenthalt hier noch nicht untersucht hatte. Vor allem die Möbel interessierten sie. Den Schrank, in dem sie sich versteckt hatte, konnte sie schnell ausschließen – hier war nichts außer gestärktem Leinen und gemangelter Wäsche. Ihre Finger glitten über die kühle Oberfläche der Anrichte, auf der die Diener beim letzten Treffen die Getränke vorbereitet hatten. Mit geübter Hand suchte sie an der Rück- und Unterseite nach einem Mechanismus, der ein verstecktes Fach öffnen würde.
Plötzlich spürte sie eine leichte Vibration unter ihren Fingerspitzen. Da war eine Vertiefung im Holz! Vorsichtig drückte sie sie und an der Seite der Anrichte sprang eine Klappe auf, die vorher durch die reichen Verzierungen unsichtbar gewesen war. Ein Kribbeln durchlief ihren ganzen Körper, als sie das kleine Fach öffnete und eine Reihe von Dokumenten entdeckte. Die Zeit arbeitete gegen sie, das wusste sie. Hastig durchkämmte sie die Papiere, entschied sich für ein dünnes, schwarzes Heft, das vorn mit dem Datum des aktuellen Jahres beschriftet war und stopfte es tief zwischen Unterkleid und Korsett. Gerade wollte sie sich anschicken, den Raum zu verlassen, da setzte ihr Herz für einen Schlag aus.
Draußen in der Bibliothek waren Schritte und Stimmen zu vernehmen. „Sie hat ihren Schmuck gesucht“, hörte sie die Köchin sagen. Panisch blickte sie sich um. Würde der Wäscheschrank erneut ein gutes Versteck abgeben? Sollte sie unter den Tisch kriechen? Oder sich hinter der Tür verstecken, die Hereinkommenden überrumpeln und einfach davonrennen? Doch bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, schwang die Tür auf und jemand betrat den Raum.