Neunter Dezember

Josephine

Endlich brachte der Abend eine interessante Entwicklung! Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass dieser Ausflug, dem sie höchstens die Enthüllung ein paar neuer Seilschaften, Affären und Mauscheleien zugetraut hätte, noch diese Wendung nehmen würde. Zugegeben, nun seit einer Ewigkeit in diesem stickigen Schrank zu hocken, entsprach nicht ganz ihrem Geschmack. Andererseits war es auch unfassbar aufregend.

Hinter der Regalattrappe hatte sich ein Geheimgang verborgen. Auf Zehenspitzen war sie ihn entlang geschlichen, dem Licht entgegen, das aus einem angrenzenden Raum fiel. Durch den Türspalt konnte sie zwei Bedienstete in schwarzen Uniformen sehen, die sich damit deutlich vom Rest des Personals unterschieden. Die Möbel und polierte Platte des großen Tisches waren aus Ebenholz, die Stühle mit dunklem Samt gepolstert. Von den schweren Vorhängen bis zum gefliesten Boden war alles in diesem Raum von schwarzer Farbe. Die Bediensteten waren beschäftigt, Kristallgläser auf der Anrichte zu platzieren und unterhielten sich dabei. Das waren die Stimmen, die Josephine gehört hatte. „Sie müssten in weniger als zwei Stunden kommen“, sagte der eine. „Das kann man nie genau sagen“, gab der andere zurück, „sobald Sir Richard es für richtig hält, ist diese Abendgesellschaft auf der Stelle beendet.“ „Sind alle Mitglieder des Clubs anwesend?“ „Ich habe nur eine Handvoll gesehen – es könnte aber sein, das in der Zwischenzeit noch jemand eingetroffen ist.“

Als sich das Personal anschickte, seine Arbeit zu beenden, hatte sich Josephine vor ihnen durch den Geheimgang zurück in die Bibliothek geschlichen. Ihr Herz klopfte vor Angst, entdeckt zu werden, aber gleichzeitig kribbelte ihr ganzer Körper vor Aufregung. Hinter einer Säule verbarg sie sich und blieb so ungesehen. Nachdem die Luft rein war, machte sie sich ans Werk. Lautlos durch den Gang, lautlos in das Zimmer. Sie könnte jeden Moment überrascht werden, deshalb ging sie schnell und effizient vor. Nirgendwo waren Papiere zu sehen, es gab keine Bilder, Wappen oder sonst welche Anhaltspunkte, welcher Club hier zusammen kam. Josephine ging alle vier Wände des Zimmers ab und blieb beim Kamin stehen. Sie betrachtete den Sturz, an dem sich Blumen und Blätter aus Stein entlang rankten. In der Mitte konnte man eine Inschrift erahnen. Sie fuhr mit den Fingern darüber: „nihil sine causa“. In Latein war sie nicht die Beste gewesen, aber gut genug, um zu verstehen, dass hier Ciceros Satz: „nichts geschieht ohne Grund“ eingraviert worden war. Interessant, äußerst interessant.

Nun, die Erkundungstour durch das Geheimzimmer lag schon etwas zurück. Seit einer Stunde saß sie im Schrank neben der Anrichte, dessen Tür nicht vollständig schloss und durch dessen Spalt man immerhin der Stuhl am Ende der Tafel sehen konnte. Das Innere ihrer temporären Behausung hatte sie natürlich vorher einer gründlichen Inspektion unterzogen, um nicht plötzlich vor aller Augen enthüllt zu werden, weil sie dumm genug gewesen war, sich bei den Weinflaschen zu verstecken. Darin hatte sich aber lediglich Tischwäsche – ausschließlich in schwarzer Farbe – befunden, die heute Abend sicher nicht mehr benötigt wurde. Josephine hatte sich einige der Decken unter den Körper gelegt, damit sie die Beine ausstrecken konnte. Korsett und Reifrock machten sie nahezu unbeweglich, deshalb wollte sie immerhin nach jemandem treten können, falls das nötig wurde. Leider waren die Tischdecken ziemlich bequem. War es die Dunkelheit, der Sauerstoffmangel oder die Aufregung dieses Abends – nachdem sie bereits mehrfach aus kurzem, nur Sekunden andauernden Schlaf geschreckt war, nickte Josephine ein.

Laute Stimmen weckten sie. Zuerst wusste sie nicht, wo sie war, dann war sie überzeugt, dass man sie enttarnt hatte – doch dann kam die Erinnerung zurück. Sie war immer noch im Schrank mit der Tischwäsche und draußen versammelten sich gerade mehrere Herren, so klang es zumindest. Wer mochte das sein? Mit angehaltenem Atem blinzelte sie durch den Spalt. Leider sah sie lediglich den einen Menschen, von dem sie wusste, das er hier sein würde: Ihr Gastgeber, Sir Richard Douglas, hatte auf dem Stuhl an der Stirnseite der Tafel Platz genommen und nippte an einem Glas Rotwein. Er war ein Mann von etwa sechzig Jahren mit schwarzem Haar und Vollbart, doch Josephine wusste, dass er in Wirklichkeit bereits ergraut war. Eitelkeit war der Grund, weshalb er sich die Haare weiterhin dunkel färbte. Für diese Information zahlten die Klatschblätter damals sehr gutes Geld. Heute bräuchte ich mit einer solchen Lappalie nicht mehr vorstellig werden, dachte Josephine grimmig. Nein, heutzutage musste es mindestens Ehebruch oder noch Schlimmeres sein.

„Gentlemen“, sagte Sir Richard plötzlich. Seine Stimme war leise, doch ihre Wirkung durchschnitt den Raum wie ein Peitschenknall. Die Anwesenden verstummten auf der Stelle. „Bitte, nehmen Sie doch Platz“, fügte er hinzu und erhob sich: „Lassen Sie uns beginnen.“ Josephine hörte, wie Stühle gerückt wurden und schließlich kehrte Totenstille ein. Nun hörte sie ein kleines Glöckchen klingeln. Dann begann Sir Richard einen feierlichen Sprechgesang, dem die Gruppe wie ein Chor antwortete.

Flüsternde Schatten, durch Geheimnis gebunden,
Stilles Versprechen, wo wir Einheit gefunden.

Durch leises Wort schwören wir unsern Eid,
Concordias Umarmung, nie verwundet durch Zeit.

Lasst Stille nun herrschen, alleine sei keins,
Nihil sine causa, alle Herzen wie eins.

„Vielen Dank, verehrte Freunde“, sagte Sir Richard, als sie geendet hatten. „Ich freue mich, dass ich Sie zu diesem Treffen unseres so hoch geschätzten Concordia Clubs begrüßen darf. Lassen Sie uns ohne viel Umschweife in die Tagesordnung einsteigen – es gibt viel zu besprechen. Ja, Fellow Mackenzie?“ Eine fremde Stimme meldete sich zu Wort: „Herr Vorsitzender, Ich möchte beantragen, dass wir über den Tod von Fellow Murray sprechen.“ Josephine sah, wie Sir Richard schweigend einen Schluck Wein trank. Es schien, als nähme ihn diese simple Tätigkeit völlig in Anspruch, doch sie konnte genau sehen, wie sein prüfender Blick schnell die Gesichter der Anwesenden entlang fuhr. Ein Raubtier, fuhr es ihr durch den Kopf und schauderte über ihre eigenen Gedanken. Dann traf es sie wie der Schlag – Murray! In was war sie hier hineingeraten?

„Eine Abstimmung zur Tagesordnung erscheint mir angebracht“, sagte Sir Richard. „Das Plenum ist gespalten. Ich bitte um Ihr Handzeichen.“ Eine Pause entstand, dann nickte er. „Gut, sprechen wir darüber. Fellow Mackenzie, warum beginnen Sie nicht?“ Die andere Stimme klang aufgebracht. „Verehrter Herr Vorsitzender, ich will die geschätzten Anwesenden nicht lange mit meinen Sorgen belästigen. Ich bin nur beunruhigt, dass jemand über genug Wissen verfügt, um über Fellow Murrays Aktivitäten Bescheid zu wissen. Da hätte nicht viel gefehlt, uns alle zu enttarnen…“ Unruhe machte sich im Raum breit. Sir Richard pochte mit der Hand auf den Tisch. „Gestatten Sie, dass ich spreche?“ Josephine riss überrascht die Augen auf. Das war Alastair Wallace, mit dem sie vor einigen Stunden zusammengesessen hatte.

„Verehrter Herr Vorsitzender“, begann Alastair und Josephine konnte nicht an sich halten, die Augen zu verdrehen. Wie konnte man nur so gestelzt sprechen! „Ich möchte einen Vorschlag machen, um dieser beunruhigenden Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Statt uns in heillosen Spekulationen zu verlieren, sollten wir eine diskrete Untersuchungskommission einsetzen. Diese könnte die Quelle dieses Wissens ermitteln und notwendige Maßnahmen ergreifen, um unsere Gemeinschaft zu schützen.“ Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Sir Richard Douglas blickte nachdenklich in die Runde, bevor er sprach: „Ein vernünftiger Vorschlag, Fellow Wallace. Die Integrität des Concordia Clubs steht auf dem Spiel.“

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