Elfter Dezember

Josephine

Das Haus ungesehen zu verlassen, hatte ihr größten Mut abverlangt. Sie hatte abgewartet, bis das Treffen des Concordia Clubs vorbei war, die Bediensteten zum Abräumen gekommen waren und die Lichter ausgeschaltet hatten. Dann schlich sie sich auf Zehenspitzen in die Bibliothek. An der Tür horchte sie, bis im Flur Stille eingekehrt war und hastete lautlos zur Tür. Draußen auf der Straße rannte sie blindlings drauflos und blieb erst stehen, bis sie um drei Ecken gebogen und ganz sicher außer Sichtweise der Villa war. Irgendwie schaffte sie es, eine Kutsche anzuhalten. Zuhause angekommen, fiel sie vollständig angekleidet ins Bett und brauchte ganze drei Tage, um sich zu erholen.

Mittlerweile hatten sich die Gedanken, die vor ein paar Tagen noch wie ein Feuerwerk durch ihren Kopf gespukt waren, geordnet. Immerhin auf ihre Vernunft konnte sie sich verlassen. Viel hatte sie bei dem Treffen gestern erfahren, aber noch mehr war ihr unklar geblieben: Was war Zweck dieses Clubs und wer waren seine Mitglieder – außer Sir Richard, Alastair Wallace und einem stadtbekannten Großgrundbesitzer, dessen sonore Stimme sie auch blind erkannt hatte? Dass es um unlautere Machenschaften ging, konnte sie sich anhand des Besprochenen erschließen. Anscheinend wussten die Mitglieder des Clubs viel übereinander und wenn einer Geld machte, verdienten alle anderen mit. Aber wenn sie Profit aus diesem Wissen schlagen wollte – und die Sache versprach, äußerst profitabel zu sein – brauchte sie mehr Informationen. Nun ärgerte sie sich, dass sie so Hals über Kopf aus dem Raum gestürzt war. Es würde viel Aufwand bedeuten, dort erneut einzudringen… es sei denn? Plötzlich kam ihr eine Idee.

William hatte sich geziert, aber mit der richtigen Summe Geld war jedes Waisenkind Wachs in ihren Händen. Sie hatte ihre Geldbörse gezückt und ihm die Ecke einer Zehn-Pfund-Note gezeigt, worauf seine Augen fast so groß wie Untertassen wurden. Als sie wieder in der Kutsche saß, ärgerte sie sich, dass sie so schnell aufgegeben hatte. Die Drohung, einen anderen Jungen mit ihrem Anliegen zu beauftragen, hätte sicherlich ebenso gewirkt und wäre sie nicht so teuer zu stehen gekommen. Aber immerhin tat er jetzt ohne zu murren, worum sie ihn gebeten hatte und würde bald als Aushilfe für Abendgesellschaften im Haus vorstellig werden. Sie hatte an den Butler der Douglases geschrieben, um ein gutes Wort für ihn – eine arme Waise aus der ferneren Verwandtschaft – einzulegen. Die prompte Antwort hatte ihr bestätigt, dass man Mrs Ratsherrin Saunders niemals eine Bitte abschlagen könne, da gutes Personal ohnehin zur Zeit schwer zu finden war.

Sie lugte durch die Vorhänge der Kutsche aus dem Fenster. Der Weg wäre nicht weit gewesen, aber als sie durch die schäbigen Straßen der westlichen Altstadt fuhr, war sie froh, nicht laufen zu müssen. Am Ende wären ihre Schuhe wieder völlig verdreckt gewesen und mit Sicherheit würde Alastair Wallace auf ein solches Detail achten. Sie hätte zwar einiges dafür gegeben, diesem eitlen Geck nicht erneut begegnen zu müssen, aber nach reiflicher Überlegung war sie zu dem Schluss gekommen, dass er nun so etwas wie ihr Gegenspieler war. Sir Richard hatte ihn zum Vorsitzenden der Untersuchungskommission gemacht, die sich dem Fall Murray widmen sollte. „Nun muss ich an ihm dranbleiben“, dachte sie. Es war gut zu wissen, was gefährliche Menschen wussten und egal wie albern sie Alastair fand, er konnte ihr und ihrem Geschäft gefährlich werden.

Glücklicherweise erinnerte sich Sir Alastair hervorragend an seine nette Bekanntschaft im grünen Tartan und bemitleidete sie aufrichtig, als sie ihm in einem Brief mitteilte, das sie ein „schlagartig auftretendes Frauenleiden“ aus der „wunderbar kurzweiligen“ Unterhaltung mit ihm gerissen hatte. „Das müssen wir nachholen, meine Gnädigste“, hatte er geantwortet und sie zu einem Rundgang durch den Botanischen Garten eingeladen.

In Inverleith angekommen, kletterte Josephine aus der Kutsche. Heute war ein kühler Tag, aber nicht so kalt, um nicht ihren geliebten burgunderroten Mantel ausführen zu können. Darunter trug sie ein schwarzes Seidenkleid mit Spitzenkragen im Empire-Stil, das ihre Figur umschmeichelte und Alastair mit Sicherheit an seine geliebten vergangenen Zeiten erinnerte. Ihre Haare hatte sie auch im Stil der frühen 1800er Jahre frisiert, die Locken hochgesteckt und ein Seidenband darum geschlungen. Zu einer grauslichen Haube, wie sie die Frauen damals trugen, hatte sie sich jedoch nicht bringen können – es gab Grenzen des guten Geschmacks und die hörten bei unter dem Kinn gebundenen Kopfbedeckungen auf.

Ebenso wie sie war auch ihre Verabredung pünktlich: Alastair Wallace stand da, lässig an das Eingangstor gelehnt, und wartete auf sie. Von Kopf bis Fuß war er aufs Neue einem Jane-Austen-Roman entsprungen: Hohe Stiefel, eine cremefarbene Kniebundhose mit weißen Unterziehern, darüber einen royalblauen Frack mit senfgelbem Halstuch. Aufgrund der Witterung hatte er sich einen Überziehmantel aus braunem Tuchstoff übergeworfen, der am Rücken gleich in mehreren Lagen Capes angenäht hatte. Das ganze Ensemble wurde gekrönt von einem hohen Hut aus Biberfilz. „Was für ein bezaubernder Anblick!“, rief Wallace, als sie näher kam. Zufrieden lächelte sie, ihre Mühe beim Ankleiden zeigte ihre Wirkung. „Sie sehen auch sehr außergewöhnlich aus, Sir Alastair“, lobte sie ihn. Ihre Wortwahl ließ ihn vor Stolz anschwellen. „Finden Sie wirklich?“ „Oh ja“, log sie, „viel mehr Menschen sollten mutig sein und sich modisch etwas wagen.“

Er bot ihr seinen Arm an und gemeinsam schlenderten sie durch das Tor in die Gärten. Schnee lag hier keiner mehr, denn es war etwas wärmer geworden und ein leichter Dunst stand über den weitläufigen Grünanlagen. Sie passierten den Steingarten, der ihrer Ansicht nach um diese Jahreszeit nicht karger aussah als im Frühjahr oder Sommer. Besser war schon der Teil des Parks, der eine schottische Heidelandschaft simulierte. Immergrüne Sträucher und große Flecken rosa- und lilafarbener Heide waren mehr nach ihrem Geschmack. Mit einem Ohr hörte sie Alastairs Ausführungen zur Mode zu und warf an den passenden Stellen immer wieder ein „ebenso sehe auch ich die Dinge“ oder „da haben Sie völlig Recht“ ein.

Nun erreichten sie das Tropenhaus, das eigentliche Ziel ihres Ausflugs. Der restliche botanische Garten war im Dezember keine Augenweide, aber in der rundum verglasten Anlage ließ es sich aushalten. Alastair hielt ihr die Tür offen und warme Luft überrollte sie wie eine Welle. Drinnen war es so heiß, dass sie ihren Mantel ausziehen und über den Arm gehängt transportieren musste. Auch Alastair zog seinen Überzieher aus. Nun sah er ihr Empire-Kleid und an seinem Blick erkannte sie, dass es seine Wirkung nicht verfehlt hatte. „Wenn ich dieses Verhältnis fortführe, müsste ich in meine Garderobe investieren“, schoss ihr durch den Kopf. „Wie stehen Sie denn zu Sir Richard?“, fragte sie ihn, nun mit dem nötigen Selbstvertrauen, dass er ihr diese Frage nicht unbeantwortet lassen konnte. Alastair zögerte. „Lassen Sie mich überlegen … Sir Richard ist ein Freund meines Vaters. Vor langer Zeit waren sie einmal Geschäftspartner. Auch wenn sie nicht mehr zusammenarbeiten, ist das Verhältnis weiterhin sehr innig.“ Sie nickte, wie als hätte er nicht absichtlich eine große Leerstelle in seiner Antwort gelassen, denn sie hatte ja nicht nach seinem Vater, sondern nach ihm gefragt. Dann sagte sie unvermittelt: „Nun, Sir Richard ist zweifellos eine einflussreiche Figur und es kann sicher nicht schaden, ihn zu seinen Freunden zu zählen. Ich bin mir sicher, dass er seine Kontakte und Ressourcen ebenfalls geschickt einsetzt. Aber wie steht es mit Ihnen? Um ehrlich zu sein, schätze ich Sie als Mann mit eigenen Ambitionen ein, die noch über die des großen Richard Douglas hinausgehen.“

Der feuchte Dunst des Tropenhauses schien sich zwischen ihnen zu verdichten, während Josephine auf seine Antwort wartete. Alastair, etwas überrascht von ihrer Direktheit, sah sie erstaunt an und antwortete nach einem kurzen Moment des Nachdenkens: „Nun, liebste Genevieve, ich habe durchaus meine eigenen Ambitionen.“ Ein Sieg bei einem Lord-Byron-Ähnlichkeitswettwerb? Eine Auszeichnung für die hässlichste Kopfbedeckung Schottlands? Glücklicherweise konnte er ihre Gedanken nicht lesen. „Edinburgh ist meine Heimat“, fuhr er derweil fort, „und ich glaube, ich könnte mehr für diese Stadt tun. Meine Liebste, bitte verspotten Sie mich nicht, aber da Sie so direkt fragen, antworte ich Ihnen in einer ähnlichen Offenheit: Ich träume davon, Veränderungen herbeizuführen, das Wohlstandsniveau zu heben und eine positive Entwicklung einzuleiten.“

Gerade schritten sie an Tischen vorbei, auf denen halbhohe Kakteen und andere Tropenpflanzen überwinterten. Der Weg führte sie weiter in das Gewächshaus hinein, wo ein kleiner Wald aus Bananenbäumen, Hibiskussträuchern und Palmen sie aufnahm. Josephine warf ihrem Begleiter ein ermutigendes Lächeln zu. „Das klingt nach einer bewundernswerten Vision, lieber Alastair. Dann habe ich, was Sie betrifft, nicht falsch gelegen: Sie sind ein Visionär. Ich bin nur hingegen nur eine Dame, die sich gern mit Menschen umgibt, die Interessanteres zu erzählen haben, als sie selbst. Aber wenn ich fragen darf: Wie wollen Sie Ihre Ziele erreichen? Streben Sie eine bestimmte Position an?“

Ein leichtes Zögern durchzog Alastairs Antwort, bevor er schließlich gestand: „Nun, meine Liebste, ich hatte tatsächlich überlegt, mich in der Politik zu engagieren. Und vielleicht, wenn die Zeit gekommen ist, die Position des Lord Provost von Edinburgh einzunehmen.“ Sie gab sich Mühe, ein erstauntes, aber gleichermaßen beeindrucktes Gesicht zu machen, doch innerlich vollführte sie Luftsprünge. Wenn der Mann ihr die Wahrheit sagte, hatte er ihr gerade die Stelle zwischen seinen Schultern gezeigt, auf der das Lindenblatt gelandet war. Nun wusste sie zum einen, wonach er strebte – und zum anderen, dass er völlig verblendet war.

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