Josephine
Sie riss die Tür des White Hart Inn auf, stürzte an den Tresen und verlangte einen doppelten Whiskey. Als der Wirt nicht schnell genug gehorchte, schlug sie wütend mit der Faust auf die Holzplatte. Das Getränk wurde vor ihr abgestellt, sie leerte es in einem Zug und warf die Münzen für ein weiteres hin. Erst nachdem sie ein drittes Glas geleert hatte, erhob sie sich leicht wankend. „Frollein, alles in Ordnung?“, fragte sie der Mann hinter dem Tresen, als er ihren verwirrten Blick wahrnahm. „Aye“, sagte Josephine und machte eine abweisende Geste. Im Augenblick wollte sie mit niemandem sprechen. Sie stützte sich auf den Tresen und ließ ihren Blick durch den verrauchten Raum mit der niedrigen, schwarz gestrichenen Holzdecke schweifen. Die Stimmen der anderen Gäste verschwammen zu einem untrennbaren Gemurmel. Ihr Kopf pochte, aber nicht nur vom Whiskey.
Die Erinnerung an den Vormittag drängte sich schmerzhaft durch den Dunst, den der Alkohol in ihr auslöste. Ein dünnes Winterlicht hatte durch die fadenscheinigen Vorhänge des Zimmers geleuchtet, in dem ihr die Vorsteherin des Waisenhauses erklärte, dass der Junge seit mehreren Tagen fort war. „Haben Sie nach ihm gesucht?“, hatte sie gefragt und als die Frau den Kopf schüttelte und ein dürres „Wieso sollte ich?“ zurückgab, hatte sich Wut in ihrem Magen aufgebäumt wie ein zorniges Tier. Auf dem Weg nach draußen sprach sie mehrere Kinder an, doch jedes bestätigte ihr, dass William ohne Ankündigung verschwunden war. Als sie den Weg vom Waisenhaus zurück zum Grassmarket lief, schenkte sie Schneematsch, Schlamm, Pferdeäpfeln und Unrat keine Beachtung. Bettler und anderes Gesindel sprach sie an, doch nachdem sie den ersten, der sie aufdringlich am Ärmel festhielt, mit aller Kraft von sich gestoßen hatte, ließ man sie in Ruhe, bis sie den alten Pub erreichte.
Josephine verließ das Wirtshaus und lief die Straße hinunter nach Osten. Der Whiskey hatte zwar ihren Ärger verfliegen lassen, diesem war aber nun ein deutlich unangenehmeres Gefühl gefolgt: Scham. Durch einen Impuls, den sie sich nicht erklären konnte, betrat sie die Kathedrale von St Giles. Der Kirchenraum war düster und kalt. Josephine setzte sich in die Reihe, in der sie bei ihrem letzten Besuch mit William gesprochen hatte. Sie atmete tief ein und sah zum blau gestrichenen Gewölbe hinauf, das hoch über ihr auf den verzierten Säulen ruhte. „Weshalb fasst mich das so an?“, überlegte sie. Der Junge hatte ihr nie Grund gegeben, unzufrieden zu sein, stets war er loyal und hütete ihre Geheimnisse, als wären es seine eigenen. Ohne ihn gäbe es mich und mein Geschäft vielleicht nicht mehr, dachte sie und verscheuchte den Gedanken dann wieder – nun wurde es aber melodramatisch. Das war wohl der Alkohol, der aus ihr sprach. „Ganz ehrlich, das kann mir doch egal sein“, schimpfte sie mit sich selbst, doch im Grunde wusste sie, dass das nicht stimmte. William war auf ihre direkte Anweisung im Haus der Douglases gewesen, er hatte sie gewarnt und ihr war nichts Besseres eingefallen, als seine verzweifelte Situation auszunutzen. „Als Frau sollte ich es eigentlich besser wissen, wie man vernünftig mit Macht umgeht“, dachte sie und ein bitterer Zug legte sich um ihren Mund.
Josephine ließ ihren Blick über die Kirchenfenster schweifen, durch die heute ein etwas helleres Licht fiel als bei ihrem letzten Besuch. Über der Fensterreihe der Kreuzigung Jesu lag eine zweite Ebene, in der das bunte Glas seinen Aufstieg in den Himmel zeigte. Ganz anders als in der darunter liegenden Szene war es hier nicht dunkel und hoffnungslos, sondern die Sonne brach in gelben Glassteinen hervor, die Jünger schauten andächtig zu ihrem Herrn, der den Kopf nach oben ins Licht gewandt hatte. Ein weiteres Detail fiel Josephine auf: Während rund um das Kreuz nur bei wenigen ein Heiligenschein den Kopf zierte, waren alle, die bei seinem Aufstieg zu seinen Füßen standen, erleuchtet. So viel erinnerte sie noch von der Sonntagsschule, dass nicht alle, die ihn auf seinem letzten Weg begleitet hatten, ihm treu blieben – aber jene, die es über seinen Tod hinaus waren, derer gedachten die Gläubigen umso mehr. „Und was für ein Mensch will ich sein?“, schoss es durch ihren Kopf.
Mit einem Ruck stand sie auf, ihr Entschluss stand fest. Sie nickte dem in Buntglas gefassten Auferstehenden zu und warf auf dem Weg nach draußen einen Shilling in die Spendendose. Den ganzen Weg lief ihr Verstand auf Hochtouren. Der Dunst der Stadt war an diesem Nachmittag besonders dicht und der gelbliche Rauch der Schornsteine vermischte sich mit einem dünnen Nebel, der die Kirchturmspitzen und Hausdächer wie in weiter Ferne erscheinen ließ. In den Straßen herrschte viel Betrieb. Sie musste mehrfach verirrten Kutschen ausweichen, die gefährlich nah am Bürgersteig entlang rollten. Überall standen Menschen, die sie ansprachen und ihr Lebensmittel, Zeitungen, politische Flugblätter oder Krämerwaren anboten, dazwischen hockten Kriegsversehrte, Kinder und zerlumpte Frauen, die vor den Feiertagen auf eine höhere Bereitschaft der Almosengeber hofften. Geistesabwesend drückte sie einem Jungen, der höchstens fünf Jahre alt sein mochte, eine Münze in die Hand. Rotbackig stand er in Holzpantoffeln und kurzer Hose im Schnee und seine Augen leuchteten, als er das Geldstück in den kleinen Händen hielt. Josephine war schon weitergegangen, bevor er sich bedanken konnte.
Als sie an ihrem Ziel angekommen war, öffnete ihr das dürre Hausmädchen, auf das sie gehofft hatte und das ihr von einer früheren Anstellung vertraut war. Sie fragte nach dem Hausherren. Er war nicht da und würde erst in einigen Stunden heimkehren. So hinterließ sie eine Nachricht, versiegelte das Kuvert und nahm ihrer Bekannten das Versprechen ab, diese niemandem sonst zu übergeben und vorher ins Feuer zu werfen, sollten sich die Dinge anders entwickeln. Dann machte sie sich auf den Heimweg.
Eine Stunde vor der vereinbarten Zeit zog Josephine ihren schwarzen Mantel mit der weiten Kapuze an. Auch wenn man neue Wege beschritt, ein wenig treu bleiben musste man sich, dachte sie.