Josephine
„Sehr gut, vielen Dank, Mrs Delaney!“ Josephine war sehr zufrieden mit der Arbeit ihrer Haushaltshilfe. Sie hatte ihr die Haare mit einem Brenneisen in sanfte Wellen gelegt, dann in einen eleganten Knoten gebunden und die Fransen über der Stirn in kleine Löckchen gekräuselt. Am Kleiderschrank hing bereits ihr Abendkleid. Es war aus dunkelgrünem, herrlich weichem Samtstoff, der Blicke auf das darunter liegende Unterkleid aus smaragdfarbenem Schottenkaro erlaubte. Josephine quälte sich in Korsett und Tornüre – den über dem Gesäß ausgestellten Reifen, der ihr das Sitzen furchtbar unbequem machen würde – und Mrs Delaney zog behutsam den Stoff des Überkleids darüber. Zuletzt half sie ihr mit den Schuhen, die ihre Trägerin selbst nicht mehr mit dem Stiefelknöpfer erreichen konnte. Ein Halsband aus zartem Silber, Perlenohrringe und sie war fertig.
Im Hinausgehen warf Josephine ihrem Spiegelbild einen prüfenden Blick zu. Es durfte nicht weniger als perfekt sein. Der pelzbesetzte Mantel stand ihr gut, genauso wie der dazu passende Muff und Hut. Beruhigt warf sie sich ein Lächeln zu und stieg die Treppe hinunter auf die Straße. Die Nachtluft war kühl und winzige Schneeflocken schwebten vom Himmel, doch unter den vielen Schichten spürte sie die Kälte kaum. Einer der Kutscher an der Hauptstraße war frei und bereit, sie nach New Town zu fahren. Auf dem Weg kontrollierte sie ihre Handtasche. Taschentücher, Federhalter, Papier. Eine Lupe, eine winzige Schere und Metalldose für kleinere Beweisstücke. Sie holperten über das Kopfsteinpflaster, während draußen vor dem Fenster die Häuser immer ordentlicher, die Gaslaternen heller und die Menschen auf der Straße besser gekleidet wurden. Sie passierten den Bahnhof und Josephine musste sich beim Überqueren der Gleise festhalten, sonst wäre sie von den Polstern gerutscht. Dieses lästige Korsett! Warum konnte sie kein Mann sein? Hemd, Hose, Sakko – fertig! Das Leben als Frau war eine einzige Unbequemlichkeit: Das, was vorhanden war, sollte eingeschnürt und das was zu wenig vorhanden war, mit einem Reifrock vergrößert werden. Ganz abgesehen von den vielen Regeln, die eine Frau geistig einschränkten und ihr Verhalten diktierten wie die eng geschnittenen Ärmel, die nur bestimmte Bewegungen erlaubten.
Sie bogen in die Princes Street ein und Josephine genoss den Ausblick über die weitläufige Gartenanlage, aus der zahlreiche Gaslichter durch den Winterdunst blinkten. An der Südseite der Straße standen nur wenige Gebäude, sodass man aus dem Tal, in dem man sich hier befand, hinüber in die Altstadt blicken konnte, die sich wie ein Gebirge aus ineinander verschachtelten Kästen vor einem auftürmte. Ein Meer aus Fenstern flackerte aus der Dunkelheit herüber. Dann bogen sie in den Charlotte Square ein und nach wenigen Metern brachte der Kutscher das Gefährt zum Halten. Nachdem er der Dame den Verschlag geöffnet hatte, drückte sie ihm seinen Lohn in die Hand und er verneigte sich stumm, aber höflich. Anscheinend hatte er ein Trinkgeld erwartet.
Josephine stieg die Treppen zu dem Gebäude hinauf und ein eleganter Butler führte sie hinein, nachdem sie ihm ihr Anliegen erläutert hatte. Während ihr das Dienstpersonal aus dem Mantel half, hallten in ihr die Worte nach. „Evelyn Saunders, mein Mann wird später eintreffen. Er ist aufgehalten worden.“ Auf die Nachfrage, ob Ratsherr Saunders – Gott sei’s gedankt – bereits von seinem Infekt genesen sei, hatte sie genickt und eine Miene aufgesetzt, als ob es eine Frechheit sei, die Gesundheit ihres Mannes in Zweifel zu ziehen. In Wirklichkeit lag Saunders seit drei Wochen krank im Bett und hatte keinerlei Pläne, sich an diesem Abend der High Society anzuschließen, wie sie von seinem Hausmädchen wusste. Was ihn bereits länger als perfekte Tarnung legitimierte, war jedoch seine Frau: Sie war so öffentlichkeitsscheu, dass man sie kaum zu Gesicht bekam und wenn Dienstboten sie überhaupt einmal sahen, vergaßen sie sie durch ihr gewöhnliches Äußeres und zurückhaltendes Auftreten schnell wieder. Das Wissen, an welchen Abenden er das Haus nicht verließ, war eine Eintrittskarte in die nobelsten Salons der Stadt.
Der Saal war voll, genau so, wie Josephine gehofft hatte. An kleinen Tischen saßen Frauen in Gruppen zusammen, während die Männer standen, rauchten und augenscheinlich über höchst Wichtiges konversierten. Dazwischen huschten Bedienstete mit Tabletts umher, räumten Tische ab, brachten Speisen und Getränke. Die Einrichtung entsprach der eines italienischen Palazzos aus dem Rokoko. Josephine bewunderte die gemusterte Tapete, verzierten Spiegel und Tapisserien, die Jagdszenen mit exotischen Tieren zeigten. An der mit goldenem Stuck besetzten Decke tummelten sich dicke Engel und Kronleuchter hingen herab, die so groß sein mussten wie ihr Oberkörper. Sie warfen ein durch Kristalle tausendfach gebrochenes Licht auf den mit Intarsien verzierten Fußboden. Für einen kurzen Moment ärgerte sich Josephine, dass sie nicht das blutrote Seidenkleid angezogen hatte. Ihr grün karierter Rock mochte zwar zu ihrem Haar passen, aber nicht hierher. Was für ein dummer Fehler! Gerade, als sie sich in Gedanken für ihre Eitelkeit schalt, sprach sie jemand an. „Welch ausnehmend schöner Tartan!“ Sie drehte sich vornehm um. Vor ihr stand ein Herr im geknöpften Frack. Sie schätzte, er mochte wohl in ihrem Alter sein. Um den offenen Kragen hatte er ein Tuch aus türkisfarbener Maulbeerseide geknotet, über der hellen, engen Hose trug er Reitstiefel und wie seine Kleidung war sein ganzes Auftreten aus der Zeit gefallen. Du hast dich um einige Jahrzehnte vertan, mein Lieber, dachte Josephine abschätzig – auf diese Art mochte man sich vielleicht Anfang des Jahrhunderts gekleidet haben, heute trug man als Mann Dinner Jacket, lockere Hose und Fliege. So viel Geld und dann doch kein Geschmack. Aber sie lächelte und flötete: „Herrlich, da spricht der wahre Kenner!“
Der andere nahm ihren Kommentar als Einladung, sie ungefragt zu berühren und befühlte das Schottenkaro. „Ein wunderbares Material“, sagte er. „Welcher Clan, wenn ich so frei heraus fragen darf?“, setzte er nach und unterbrach sie dann, bevor sie antworten konnte: „Obwohl, sagen Sie nichts, lassen Sie mich bitte raten! Ah, ich weiß es doch … Haus Ambercrombie von Fife?“ „Nein“, gab sie mit einem Zwinkern zurück, „Füsiliere des Royal Scots Regiment“. Er lachte schallend: „Na, Sie sind mir ja eine!“ Dann machte er einen altertümlichen Kratzfuß und küsste ihre Hand. „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Alastair Wallace.“ Sie nickte gnädig: „Ich bin Genevieve Stirling.“ Seinen suchenden Blick nach einem Ehering bemerkte sie sofort und fügte hinzu: „Bitte nennen Sie mich doch Miss Stirling.“ „Miss Stirling, welch eine Ehre! Würden Sie mich auf einen Drink begleiten?“ Sie hakte sich bei ihm unter und gemeinsam schritten sie zu einem freien Tischchen. Ein aufmerksamer Kellner brachte ihnen nur wenige Sekunden, nachdem sie Platz genommen hatten, zwei Gläser Champagner.
Das Gespräch war anstrengend und Josephine gab sich alle Mühe, charmant zu bleiben. Alastair Wallace stellte sich als erster Kandidat in der Erbfolge einer Familie mit einer ertragreichen Kohlenmine heraus, der bislang nichts Nutzbringenderes mit seiner vielen Freizeit anzufangen wusste, als den Romantikern des späten 18. Jahrhunderts nachzueifern. Er berichtete Josephine von den Mühen, die es ihn gekostet hatte, ein Halstuch von Percy Bysshe Shelley zu ersteigern und zeigte stolz den verzierten Gehstock, den er in seinem Alter nicht benötigte, aber dennoch immer bei sich führte, um wie eine Figur aus einem Jane-Austen-Roman auszusehen. Sie langweilte sich fürchterlich und war bereits zu dem Schluss gekommen, dass dieser Gentleman kein Quäntchen hilfreicher Information zu bieten hatte. „Bitte, würden Sie mich für einen kurzen Moment entschuldigen?“, schob sie höflich in eine kurze Gesprächspause ein. „Ich muss mir kurz die Nase pudern.“ „Sie sind doch bereits wunderschön, meine teuerste Genevieve! Aber gehen Sie ruhig – ich warte stundenlang auf Sie, wenn es sein muss!“ Am liebsten hätte sie ihr Gesicht verzogen – dieser Mensch konnte wohl nicht anders, als dick aufzutragen. Stattdessen warf sie ihm ein strahlendes Lächeln zu, erhob sich und schritt graziös aus dem Raum in dem Wissen, dass er ihr gerade nachsah.
Im Flur schaute sie sich um. Eine der Hausdamen schloss gerade die Tür zum Salon und ging, ohne sie zu sehen, in einen Nebenraum. Diese Gelegenheit musste sie nutzen. Sie raffte ihre Röcke und huschte auf Zehenspitzen den Gang hinunter, bis sie an eine Tür kam. Leise schob sie sich hinein. Die Bücher verrieten ihr, dass sie die Bibliothek gefunden hatte. Metallene Wendeltreppen führten hinauf zu einer Galerie, wo die Regale bis unter die Decke reichten. Der wuchtige Schreibtisch in der Nähe des Fensters war ihr Ziel, er war zwar aufgeräumt, doch bereits aus der Ferne konnte sie sehen, dass dort Papiere lagen. Als sie an den Schreibtisch herantrat, stutzte sie. Hinter der Wand konnte sie leise Stimmen vernehmen. Aus dem Saal mit der Abendgesellschaft konnten sie nicht kommen, dort wurde musiziert und die leisen Töne drangen aus einer ganz anderen Richtung an ihr Ohr. Vorsichtig glitt sie die Regale entlang. Die Geräusche wurden lauter und dann sah sie den Spalt, aus dem Licht drang. Einer der Schränke war nur eine Attrappe und stand ein Stück weit offen. Ohne lange nachzudenken, schlüpfte sie hinein.